Tod in Venedig

Tod in Venedig
Dieser Artikel behandelt die Novelle Der Tod in Venedig von Thomas Mann. Für den Film Tod in Venedig von Luchino Visconti siehe Tod in Venedig (Film).

Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann (1912), entstanden zwischen Juli 1911 und Juli 1912.

Erstausgabe von S. Fischer 1913 nach der limitierten Vorzugsausgabe (Hundertdruck) von 1912 im Verlag Hans von Weber

Inhaltsverzeichnis

Die Handlung

Erstes Kapitel

An einem Maitag des Jahres 19..* unternimmt der über fünfzigjährige, für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München, der ihn bis vor den nördlichen Friedhof führt. Auf der Freitreppe zur Aussegnungshalle [ → Nordfriedhof (München)] fällt ihm ein seltsamer Mann in Wanderkleidung auf. Der Fremde erwidert von Aschenbachs Blick, „aber so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein“, dass von Aschenbach sich abwendet. Im Weitergehen wirkt das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden in Aschenbach nach. „Eine seltsame Ausweitung seines Inneren ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe“, die er sich als Reiselust deutet. Er überlässt sich der pflichtwidrigen «Anfechtung» und meint, eine Einschaltung tue Not, «etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes». - Von Aschenbach beschließt zu verreisen.

(* 1911, im Jahr der 2. Marokkokrise)

Zweites Kapitel

Herkunft, Lebensweg und Charakter von Aschenbachs werden beschrieben, dazu seine Werke, ihr literarischer Stellenwert und ihre Publikumswirkung.

Aschenbach ist seinem ganzen Wesen nach auf Ruhm gestellt. Keineswegs von robuster Natur, muss er sich künstlerische Leistungen täglich neu abringen. Mit dieser Selbstdisziplin verwirklichen sich Anlagen von väterlicher Seite, überwiegend höheren Beamten im preußischen Schlesien. Der Großvater mütterlicherseits war Musiker. Von dieser Seite kommt sein künstlerisches Talent.

In einer Gesprächsrunde veranschaulicht ein Freund von Aschenbachs Leistungsethos mit der Geste einer geballten Faust. So habe von Aschenbach immer gelebt und gearbeitet. Danach öffnet er die Faust und lässt die Hand in gegenteiliger Geste schlaff herabhängen, um zu zeigen, wie von Aschenbach nie gelebt habe.

Von Aschenbach ist schon lange verwitwet und lebt allein.

Drittes Kapitel

Von Aschenbach ist, zuletzt auf dem Seeweg von Triest über Pola, auf einer Insel nahe der istrischen Adriaküste angekommen. Es regnet, die Luft ist schwer und der Strand enttäuschend. Er ist nicht «sanft und sandig», er vermittelt kein «ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere». Einer plötzlichen Eingebung folgend, reist er per Schiff nach Venedig. Im Schiffsinneren fertigt ihn ein gespenstisch wirkender Zahlmeister ab und lobt sein Reiseziel in phrasenhaften Wendungen. An Deck beobachtet er einen geschminkten alten Mann, der sich einer Schar junger Männer angeschlossen hat, die ebenfalls nach Venedig reisen. Der Greis in ihrer Mitte versucht, sie an Jugendlichkeit zu übertreffen. In Venedig angekommen, will von Aschenbach mit der Gondel zur Vaporetto-Station. Der Gondoliere erweitert jedoch eigenmächtig seinen Auftrag und rudert ihn über die Lagune zum Lido. Von Aschenbachs Proteste nützen nichts. Am Lido angekommen, entfernt sich Aschenbach kurz, um Geld zu wechseln. Als er zurückkommt, ist der Gondoliere verschwunden. Er erfährt vom Gepäckträger seines Hotels, der Gondoliere sei ein Fremder und habe keine Lizenz.

Abends in der Hotelhalle sieht von Aschenbach den Jüngling Tadzio, der „vollkommen schön“ ist. Er deutet seine Faszination als ästhetisches Kennertum, eine Kunstauffassung vertretend, die die Sinnlichkeit der Kunst verleugnet. Doch Tag um Tag verfällt der Alternde dem Anblick des Knaben mehr.

Das schwüle Wetter bekommt von Aschenbach nicht. Er beschließt abzureisen, voller Kummer, Venedig verlassen zu müssen. Auf dem Bahnhof schafft die falsche Adressierung seines Gepäcks eine momentane Komplikation, die von Aschenbach zum Vorwand nimmt, wieder an den Lido zurückzukehren.

Im Sessel auf der Terrasse vor seinem Hotelzimmer, "in sich hineinblickend", erkennt er, dass ihm um Tadzio willen der Abschied so schwer geworden war. Seine Hände öffnen sich zu einer "bereitwillig willkommen heißenden, gelassen aufnehmenden Gebärde."

Viertes Kapitel

Der sonst so kühle und nüchterne von Aschenbach gibt sich ganz seinen Gefühlen hin. Eine antikisierende Sprache beschreibt die mythische Verwandlung der Welt in den Augen von Aschenbachs. Das Kapitel endet mit dem Eingeständnis von Aschenbachs sich selbst gegenüber, dass er den Knaben liebt.

Fünftes Kapitel

Eine Choleraepidemie, von Indien kommend, hat Venedig erreicht. Mehrere Versuche, sich bei Einheimischen über die Seuche zu informieren, schlagen fehl. Auch der diabolische Anführer einer kleinen Bande von Straßenmusikanten, die im Freien und zu später Stunde vor den Hotelgästen auftritt, gibt von Aschenbach keine Auskunft. Anderntags klärt ihn schließlich der Angestellte eines englischen Reisebüros über die Choleragefahr auf. Trotzdem bleibt von Aschenbach in der Lagunenstadt. „Der Heimgesuchte“, heimgesucht von diesem späten Gefühlsrausch, verwirft den Gedanken, Tadzios Angehörige vor der Cholera zu warnen, um dessen Nähe nicht zu entbehren.

Von Aschenbach hat nun alle Selbstachtung verloren. Um zu gefallen, lässt er sich vom Friseur des Hotels die Haare färben und sich schminken. Er ist auf der Stufe des geckenhaften Greises angekommen, den er mit Widerwillen auf der Herfahrt beobachtet hatte. Infiziert durch ungewaschenes Obst, das er bei einem Streifzug durch die Gassen Venedigs gekauft hat, stirbt von Aschenbach an der Cholera in seinem Liegestuhl, während er Tadzio am Strand beobachtet. Dem Sterbenden ist, als lächle der Knabe ihm zu und deute dabei hinaus aufs Meer. "Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen."

Thomas Mann unterlässt es aus künstlerischen Gründen, die Todesursache zu benennen. Doch einige Seiten zuvor hatte er, sich allgemein über die Cholera äußernd, die Möglichkeit eines so jähen Verlaufes erwähnt.

Kommentar

Allgemeines

Die „Tragödie einer Entwürdigung“ hat Thomas Mann den „Tod in Venedig“ 1930 im „Lebensabriss“ genannt. Sprachlich erreichen Entschiedenheit und persönliche Prägnanz des Tonfalls hier eine Vollendung, die von Thomas Mann nicht wieder überboten worden ist. Die mythologische Tiefenperspektive, die Unterteilung in fünf Kapitel analog den fünf Akten des klassischen Dramas, der zeitweilig antikisierende Sprachrhythmus geben der Novelle das Gepräge von Klassizität. Die Novelle zählt zur bedeutendsten deutschen Prosa, die im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben worden ist.

Der Leistungsethiker Gustav von Aschenbach

Thomas Mann beschreibt das Scheitern einer asketischen, ausschließlich auf Leistung gestellten Lebensführung ohne Halt im Zwischenmenschlichen. Einsam,[1] ausgeschlossen vom Glück, dem Glück der Bummelei, hart arbeitend, erreicht Gustav von Aschenbach mit seinem schriftstellerischen Werk Ruhm und Größe. Stolz auf seine Leistungen, ist er aber voller Misstrauen in seine Menschlichkeit und ohne Glauben, dass man ihn lieben könnte. Da tritt ein schöner Knabe in sein Leben. (Verkürzte und adaptierte Wiedergabe eines frühen, noch anonymen Charakterentwurfes aus Thomas Mann Das Theater als Tempel, geschrieben Februar/März 1907.)

  1. Einsamkeit in diesem Zusammenhang spielt auf Gedanken Schopenhauers an zu Geistigkeit und „geistige Aristokratie“ .

Die Hadesführer

Das zentrale Motiv der Venedignovelle ist der Todesbote. Er tritt in wechselnder Gestalt auf, erstmalig in der „des Fremden“ vor der Friedhofshalle. In dem Blickduell, das er mit Aschenbach führt, und in dem dieser unterliegt, hat von Aschenbach dem Tod in die Augen gesehen. Sich selbst täuschend, deutet er die so ausgelöste Unruhe und „seltsame Ausweitung seines Inneren“ als Reiselust.

Der gespenstisch wirkende Zahlmeister während der Schiffsreise nach Venedig erinnert an den Totenschiffer Charon, der in der Vorstellung der griechischen Antike die Verstorbenen in den Hades übersetzte und dafür als Fährmannslohn einen Obolus erhielt.

Todesboten sind ebenfalls der Gondoliere, der Aschenbach über die Lagune rudert und der freche Anführer eines Trupps von Straßenmusikanten. Gemeinsam mit dem Reisenden vor der Aussegnungshalle ist allen drei, dass sie fremd sind, etwas unter Mittelgröße, rothaarig, bartlos [im Hinblick auf die Männermode vor dem ersten Weltkrieg], schmächtig, mit vorspringendem Adamsapfel, bleich und stumpfnäsig. Das Element des Fremdseins ist hier ein Dionysosmerkmal. Der mythologischen Forschung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt Dionysos noch als eine ursprünglich dem Griechentum fremde Gottheit, die aus Kleinasien nach Griechenland gekommen war.

Das Motiv des Todesboten gipfelt in dem schönen Tadzio. Im Schlussbild der Novelle meint der Sterbende, Tadzio lächle ihm zu und deute vom Meeresufer aus mit der Hand „ins Verheißungsvoll-Ungeheure“. Die Geste macht aus Tadzio eine Hermes-Inkarnation. Zu den Aufgaben der wegweisenden Gottheit gehörte ebenfalls, die Seelen der Verstorbenen in die Totenwelt zu führen.

Todessymbole

Erstes Kapitel:

  • Der Name des tragischen Helden. Die Wortverbindung assoziiert beim Leser unterschwellig ´Asche in einen Bach´ als eine Art Bestattung. (S. 9 Z.1)
  • Der Friedhofseingang. (S. 10 Z.13)
  • Die Ausstellungsstücke des Steinmetz-Betriebes, die ein „unbehaustes Gräberfeld“ imitieren.
  • Abendstimmung. (S. 10 Z. 21)
  • Die Schriftworte über dem Eingang der Aussegnungshalle, „Sie gehen ein in die Wohnung Gottes“ oder „Das ewige Licht leuchte ihnen“ . (S.11 Z. 3)
  • Die beschreibenden Adjektive, z.B. "apokalytischen Tiere" (S. 11 Z. 10)
  • Die Physiognomie des Reisenden vor der Aussegnungshalle, die an einen Totenschädel erinnert.

Drittes Kapitel:

  • Die venezianische Gondel, von der Schwärze eines Sarges, die ihren Passagier wohlig erschlaffen lässt.
  • Das Meer mit seiner Wirkung des „Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, des Nichts“. In Thomas Manns Metaphorik ist das Meer ein Todessymbol: „Denn Liebe zum Meer ist nichts anderes als Liebe zum Tode“ schreibt er 1922 in seinem Essay Von Deutscher Republik. Von Aschenbach sieht Tadzio täglich bei seinen Spielen am Strand zu, „und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.“

Fünftes Kapitel:

  • Der Granatapfel-Saft, den Aschenbach nach der Vorstellung der Straßenmusikanten zu Ende trinkt. Das Getränk spielt auf den Persephone-Mythos an: Wer vom Granatapfel des Hades gekostet hat, kann nicht mehr zur Oberwelt zurückkehren, ganz gleich, ob er Sterblicher oder Gottheit ist. Die Todessymbolik bekräftigt Thomas Mann mit dem inneren Bild einer Sanduhr, das er in dieser Situation bei von Aschenbach entstehen lässt.

Mythologische Motive

  • Der Fremde vor dem Eingang der Aussegnungshalle, erhöht auf der Freitreppe stehend, ist mehr als eine Randfigur. Er ist zugleich Allegorie. So tritt er auch auf: Es bleibt offen, woher er gerade hergekommen ist, und ebenso spurlos ist er wieder verschwunden. Mythologisch lässt er sich nicht eindeutig zuordnen. Er ist Thanatos, dazu auch Dionysos [Motiv des von weit Herkommens, des Fremdseins], und er steht mit den gekreuzten Füßen in der Pose einer antiken Hermes-Skulptur.
  • Der Gondoliere rudert von Aschenbach nicht zur Vaporetto-Station, sondern gegen dessen Willen über die Lagune zum Lido. Nachdem zuvor die Gondel mit einem Sarg verglichen worden ist, entsteht beim Leser eine Charon-Assoziation. Die letzte Überfahrt ist ebenfalls ohne Umkehr und der Fährmann bestimmt das Ziel.
  • Das vierte Kapitel setzt ein mit mythologischen Bildern der griechischen Antike, in einer hymnischen Sprache und einem Silbenrhythmus, aus dem sich der eine und andere Hexameter herauslesen lässt. Überschreiben ließe es sich mit „mythische Verklärung der Welt“.
  • Tadzio ist „das Werkzeug einer höhnischen Gottheit“, des rauschhaften und zügellosen Gottes Dionysos.

Dionysos siegt über Apollon

Von Aschenbach gibt sich ganz der Bewunderung des Knaben hin. „Das war der Rausch; und gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen“. Nach Art der Dialoge Platons imaginiert „der Enthusiasmierte“ Gespräche mit dem Bewunderten. In ihnen bricht er mit seiner apollinischen, zuchtvollen Lebenssicht. "[...], denn der Leidenschaft ist, wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß“. Er erkennt die Sinnlichkeit der Kunst und monologisiert: "[...] du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft“. Doch damit beschönigt von Aschenbach. Nicht Eros leitet ihn. Dionysos ist es, dem er verfallen ist. Von ihm seines apollinisch-klaren Weltbildes beraubt, meint von Aschenbach, dem Künstler sei „eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren“.

Einen wilden Höhepunkt findet von Aschenbachs Entartung in dem Traum des fünften Kapitels. Er gerät unter die zügellos Feiernden eines antiken Dionysos-Kultes. "Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die [Opfer-]Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges."

Décadence–Motive

Literaturgeschichtlich ist „Der Tod in Venedig“, entstanden am Vorabend des Ersten Weltkrieges, zugleich Höhe- und Endpunkt der Décadence-Literatur des zu Ende gegangenen 19. Jahrhunderts. Der Zauberberg (1924) zählt nicht mehr dazu. Er bildet nach einem Selbstkommentar Thomas Manns (am 29. März 1949 an Hermann Ebers) den Übergang zur zweiten Hälfte seines Lebenswerkes. In dem Sanatoriumsroman verabschiedet sich Thomas Mann im Kapitel „Schnee“ von der „Sympathie mit dem Tode“ (Hans Castorps Schneetraum).

  • Venedig selbst mit seinem „leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf“, die Stadt, in der Richard Wagner musikalische Inspirationen für Tristan und Isolde gefunden hat.
  • Das Klima Venedigs bekommt von Aschenbach nicht. Während des Versuches einer Abreise (drittes Kapitel) erkennt er die Stadt „als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt, dem er nicht gewachsen war“.
  • Von Aschenbachs schwächliche Konstitution. Als Kind war er auf ärztlichen Rat vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Hauslehrer mussten ihn unterrichten. Seine Leistungen als Schriftsteller muss er sich mit äußerster Willensanspannung abringen, ständig am Rande der Erschöpfung. Seinen Heroismus, sein Ethos findet von Aschenbach in der täglichen Überwindung von Schwäche.
  • Tadzios blasser Teint mutet kränklich an. Später fallen von Aschenbach Tadzios ungesunde Zähne auf. Von Aschenbach glaubt nicht, dass der Knabe einmal alt werden wird und empfindet bei dieser Feststellung ein „Gefühl der Beruhigung oder Genugtuung“.
  • Von Aschenbachs Selbstaufgabe und Todeswille, - ihm vielleicht nur halb bewusst, aber nicht zu überlesen: Von dem Angestellten eines englischen Reisebüros wusste er, dass die Cholera in der Stadt grassiert, dass kürzlich eine Grünwarenhändlerin an der Seuche gestorben war, - „wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden, Gemüse, Fleisch oder Milch.“ Deutsche Tagesblätter hatten zudem über „die Heimsuchung der Lagunenstadt“ berichtet. Trotzdem kauft er „in der kranken Stadt“ vor einem kleinen Gemüseladen „einige Früchte, Erdbeeren, überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon.“ [1]
  1. Abgesehen vom aktuellen Infektionsrisiko hat sich von Aschenbach soweit aufgegeben, dass er in der Öffentlichkeit im Gehen aus einer Tüte isst, - eine vor dem ersten Weltkrieg für einen „Herrn“ krasse Würdelosigkeit. Ein „Herr“, wenn er flanierte, ging damals mit Hut, Spazierstock und Handschuhen, die sommers in der Hand getragen wurden.

Künstlerproblematik

Mit der Venedig-Novelle überwindet Thomas Mann eine Kunst- und Lebenskrise, die er zuvor in Tonio Kröger beschrieben hatte.

Nach Tonio Kröger, den er „eine Art Selbstporträt“ genannt hat, [1] suchte Thomas Mann die Lebensform des Künstlers und Dichters zu beenden, der er „stets mit dem äußersten Misstrauen gegenüberstand“,- so rückblickend in der autobiographischen Skizze Im Spiegel (1907). Er gab sich eine "Verfassung“ [2] und heiratete die Millionärstochter Katia Pringsheim. In der Werbungszeit, die sich länger hingezogen hatte, schrieb er seinem Bruder: „Ich fürchte mich nicht vor dem Reichthum“ [3]. Zur Hochzeit ist Heinrich Mann nicht gekommen. Katia Mann hat er zeitlebens gesiezt. [4]

Die Ehe verordnete Thomas Mann sich als „ein strenges Glück“, - nicht ohne Skepsis: „Wer schon vor "Königliche Hoheit" einen „Friedrich“ plante [eine größere Novelle über Friedrich II.], hat wohl nie so ganz innerlich an ein „strenges Eheglück“ geglaubt“. [5] Mit dem in den ersten Ehejahren entstandenen Roman Königliche Hoheit (1909) erreichte Thomas Mann vorerst nicht wieder die Höhe seiner schriftstellerischen Möglichkeiten.

Der Tod in Venedig wurde ein Meisterwerk. „Es stimmt einmal Alles, es schießt zusammen, und der Kristall ist rein“ [6]. Thomas Mann hat Gustav von Aschenbach stellvertretend für sich sterben lassen und sich fortan akzeptiert. Die Lebenslüge vom „strengen Eheglück“ ließ er fallen.

Für Katia Mann, die in der Venedig-Novelle die homoerotische Orientierung ihres Mannes erkannt hatte, folgte eine längere Zeit mit Kränklichkeit und verschiedenen Sanatoriumsaufenthalten, dessen bekanntester auf Davos fiel. In Davos fand Thomas Mann die Inspiration zu „Der Zauberberg“, als er besuchsweise dort einige Wochen verbrachte. Nach „Der Tod in Venedig“, nach Aufgabe der Willensanstrengung, ein „strenges Eheglück“ zu leben, war es von nun an tiefe Dankbarkeit, die ihn mit seiner Frau Katia verband und die sich als sehr tragfähig erweisen sollte.

Anmerkungen:

  1. Thomas Mann am 26. Januar 1903 an Richard Schaukal
  2. am 17. Januar1906 an Heinrich Mann: " Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben."
  3. am 27. Februar 1904 an Heinrich Mann
  4. Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren
  5. am 26. Januar 1910 an Heinrich Mann
  6. am 12. März 1913 an Philipp Witkop

Biographische Parallelen

Von Aschenbachs Werke, die im zweiten Kapitel vorgestellt werden, sind bereits abgeschlossene oder geplante Werke Thomas Manns. Ihre Titel sind in der Novelle nur leicht verfremdet.

Zahlreiche Begebenheiten der Novelle gehen auf eine Venedigreise der Familie Mann im Jahre 1911 zurück, wie Katia Mann in „Meine ungeschriebenen Memoiren“ berichtet.

Pointiert hat Thomas Mann die geheime Identität von Autor und Fabelheld 1911 in seinem Essay über Chamisso formuliert, der während der Arbeit an der Venedig-Novelle entstanden ist: „Es ist die alte, gute Geschichte: Werther erschoß sich, aber Goethe blieb am Leben“.

Selbstkommentare Thomas Manns

Am 4. Juli 1920 schreibt Thomas Mann dem Lyriker und Essayisten Carl Maria Weber (1890 – 1953): «Leidenschaft als Verwirrung und Entwürdigung war eigentlich der Gegenstand meiner Fabel, - was ich ursprünglich erzählen wollte, war überhaupt nichts Homo-Erotisches, es war die – grotesk gesehene – Geschichte des Greises Goethe zu jenem kleinen Mädchen in Marienbad, das er mit Zustimmung der streberisch-kupplerischen Mama und gegen das Entsetzen seiner eigenen Familie partout heiraten wollte, diese Geschichte mit allen ihren schauerlich komischen, zu ehrfürchtigem Gelächter stimmenden Situationen,[…].» Der Titel des Novellenplanes lautete: «Goethe in Marienbad».

«Ein Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlichkeit wurde angestrebt […]. Daß aber die Novelle hymnischen Ursprungs ist, kann Ihnen nicht entgangen sein.» Thomas Mann zitiert weiter aus seinem «Gesang vom Kindchen» einen Hexameter, der sich versteckt auf die Venedignovelle bezieht: «Siehe, es ward dir das trunkene Lied zur sittlichen Fabel».

Er habe sich um der Modernität willen gezwungen gefühlt, «den «Fall» auch pathologisch zu sehen und dies Motiv (Klimakterium) mit dem symbolischen (Tadzio als Hermes Psychopompos) changieren zu lassen».

«Etwas noch Geistigeres, weil Persönlicheres kam hinzu»: Die «protestantisch-puritanische (»bürgerliche«) Grundverfassung der erlebenden Helden» sei auch seine eigene. «Mit anderen Worten: unser gründlich mißtrauisches, gründlich pessimistisches Verhältnis zur Leidenschaft selbst und überhaupt.»

Tadzio

Der Anblick des Knaben Władysław Moes während Thomas Manns Venedigaufenthaltes 1911 gab dann den Anstoß zu „Der Tod in Venedig“. Der polnische Baron Wladyslaw Moes hatte sich 1965 in der Zeitschrift „twen“ (München) mit dem Beitrag: „Ich war Thomas Manns Tadzio“ zu erkennen gegeben. Ein Bildnis des Knaben enthält: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Hrg. v. H. Wysling u. Y. Schmidlin. - Weitere Fotos → [1].

Bearbeitungen

1971 wurde die Novelle von dem italienischen Regisseur Luchino Visconti unter dem Titel Morte a Venezia mit Dirk Bogarde als Aschenbach verfilmt.

1973 wurde Benjamin Brittens Oper Death in Venice beim Aldeburgh Festival uraufgeführt, die ähnliche biographische Parallelen zum Komponisten zulässt wie die Vorlage zu Thomas Mann.

John Neumeier choreographierte und inszenierte das Ballett Tod in Venedig, das er als „Totentanz, frei nach Thomas Mann“ bezeichnete. Er verwendete dafür zum einen Werke von Johann Sebastian Bach, vorwiegend das Musikalische Opfer, zum anderen verschiedene Kompositionen von Richard Wagner, darunter das Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Tristan und Isolde. Die Uraufführung fand am 7. Dezember 2003 in Hamburg statt. Es tanzte das Hamburg Ballett. Aschenbach, der in dieser Fassung Choreograph ist, wurde von Lloyd Riggins, Tadzio von Edvin Revazov getanzt.

Literatur

Textausgaben

  • Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main: S. Fischer (1992), 139 S. ISBN 3-596-11266-4
  • Thomas Mann: Der Tod in Venedig. (Sonderausgabe) Frankfurt am Main: S. Fischer (2007), 139 Seiten ISBN 978-3-596-17549-9

Sekundärliteratur

  • Hans Wysling u. M. Fischer (Hrsg.): Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann. [Ohne Angabe des Verlagsortes] Ernst Heimeran Verlag 1975, S.393 - 449
  • Ehrhard Bahr: Der Tod in Venedig, Erläuterungen und Dokumente. Reclam: Stuttgart 1991
  • Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum "Tod in Venedig", zum "Zauberberg" und zur "Joseph-Tetralogie". In: Thomas Mann Studien, 2. Bd.; Bern 1972
  • Werner Frizen: Der Tod in Venedig (Oldenbourg Interpretationen Nr. 61). München 1993, ISBN 3-486-88660-6
  • Ursula Geitner: Männer, Frauen und Dionysos um 1900: Aschenbachs Dilemma. In: Kritische Ausgabe 1/2005, 4ff. ISSN 1617-1357
  • Wilhelm Große: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 47). Hollfeld: Bange Verlag 2002. ISBN 978-3-8044-1719-9
  • Martina Hoffmann: Thomas Manns Der Tod in Venedig. Eine Entwicklungsgeschichte im Spiegel philosophischer Konzeptionen. Lang: Frankfurt/M. 1995. ISBN 3-631-48782-7
  • Hans Mayer: Thomas Mann. Suhrkamp: Frankfurt/M. 1980. ISBN 3-518-03633-5
  • Hans W. Nicklas: Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig". Analyse des Motivzusammenhangs und der Erzählstruktur. In: Marburger Beiträge zur Germanistik; Hrsg.Kunz, Josef und Schmitt, Ludwig Erich; Bd. 21; Marburg 1968
  • Hans Wysling: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Bern 1974
  • Hans Wysling u. Yvonne Schmidlin: Thomas Mann. Ein Leben in Bildern. Zürich: Artemis 1994, S.198 - 203
  • Thomas Sprecher (Hrsg.): Liebe und Tod - in Venedig und anderswo. Die Davoser Literaturtage 2004. Klostermann: Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-465-03438-4

Der Wikipedia-Artikel ´Der Tod in Venedig´ ist in die Bibliographie ´Thomas-Mann-Leser und -Forscher´ der FU Berlin aufgenommen.

Weblinks


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