Titus Lucretius Carus

Titus Lucretius Carus

Titus Lucretius Carus, deutsch Lukrez, (* vermutlich 97 v. Chr.; † vermutlich 55 v. Chr., die Lebensdaten sind nicht sicher) war ein römischer Dichter und Philosoph.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Werk

Die erste Seite der Lukrez-Ausgabe von Tanaquil Faber (1675 ).

Über das Leben des Lukrez ist so gut wie nichts bekannt. Er ist vermutlich um 98 v. Chr. geboren. Auch sein Todesdatum ist nicht sicher. Der Kirchenvater Hieronymus schreibt in seiner Chronik zum Jahr 54 v. Chr., dass Lukrez nach der Einnahme eines Liebestranks (amatorio poculo) dem Wahnsinn verfallen sei und schließlich Selbstmord verübt habe. In lichten Momenten habe er sein Werk, das naturphilosophische Lehrgedicht De rerum natura, gedichtet. Dieses habe Cicero später emendiert.

Die Angaben des Hieronymus sind eine freie Erfindung, die in die frühchristliche Tradition der Polemik gegen heidnische Schriftsteller einzuordnen ist. Die Erzählung vom Liebestrank, die Alfred Tennyson in einem Gedicht bearbeitet, ist aus dem Finale des vierten Buchs von De rerum natura herausgesponnen. Dort gießt Lukrez seinen Spott über die Liebe und die Verrücktheiten des Verliebten aus.

Lukrez hat sein Werk möglicherweise nicht vollendet. Dies lässt vor allem De rerum natura 5,155 vermuten: Lukrez kündigt hier eine lange Abhandlung (largus sermo) über das Wesen der Götter an, die aber nicht zur Ausführung gelangt. Entweder ist Lukrez nicht mehr dazu gekommen, diese Abhandlung zu verfassen, oder er hat diese Absicht fallen gelassen und ist verstorben, bevor er den Vers tilgen konnte (die Mehrheit der Forscher neigt der zweiten Möglichkeit zu).

De rerum natura besteht aus sechs Büchern mit insgesamt ca. 7800 Versen. Deutlich abgegrenzt sind jeweils die Einleitungen („Prooemien“) und die Schlußpartien („Finalia“) der einzelnen Bücher. Festzustellen ist auch, dass sich die Bücher 1 und 2, 3 und 4 sowie 5 und 6 jeweils paarweise zu thematischen Einheiten zusammenfassen lassen. Die Bücher 1 und 2 behandeln die Grundlagen der epikureischen Naturphilosophie (Aufbau der Welt aus Atomen, Bewegung der Atome, Unendliche Vielzahl von Welten, Vergänglichkeit der Welt), die ihrerseits auf der Naturphilosophie Demokrits beruht. Die Bücher 3 und 4 wenden sich der Physiologie und Psychologie des Menschen zu. Buch 3 behandelt ausführlich die Sterblichkeit der Seele, für die Lukrez 28 Beweise präsentiert. Buch 4 befasst sich mit der Sinneswahrnehmung und im Finale auch mit Sexualität und Liebe. Um nicht dem Liebeskummer zu verfallen, empfiehlt Lukrez seinen Lesern dort den Bordellbesuch. Die Bücher 5 und 6 sind naturwissenschaftlichen Phänomenen gewidmet, wozu für Lukrez (im Finale des fünften Buches) auch die Kulturgeschichte gehört. Das Werk endet mit einer Beschreibung der Pest von Athen in den Jahren 430 - 428 v. Chr. Die Ethik, die nach Epikur wichtigste philosophische Disziplin, wird zwar nicht eigens behandelt. Freilich finden sich immer wieder einzelne Bemerkungen über den Text verstreut (besonders in Prooemium zu Buch 2), die den Leser einladen, über seine Lebensführung nachzudenken und diese gegebenenfalls zu ändern.

Philosophie

Lukrez war ein Vertreter der Atomistik. Er berief sich vor allem auf die Lehre von Epikur. Sein Lehrer war wahrscheinlich Philodemos.

Lukrez war überzeugt, dass die Seele sterblich sei (wofür er 28 "Beweise" vorbrachte) und dass es den Göttern nicht möglich sei, sich in das Leben der Menschen einzumischen. Seine Philosophie sollte dem Menschen Gemütsruhe und Gelassenheit geben und ihm die Furcht vor dem Tode und den Göttern nehmen. Lukrez nimmt, im Gegensatz zu Epikur, Anteil an den gesellschaftlichen Ereignissen seiner Zeit, verurteilt den sittlichen Verfall des Adels, klagt den Krieg und seine Schrecken an.

Auf Lukrez beriefen sich insbesondere die materialistischen Philosophen späterer Zeiten, so etwa im 17. Jahrhundert und im marxistischen Sozialismus.

In seiner Wahrnehmungstheorie prägte Lukrez den für die postmoderne Philosophie so einflussreichen Begriff des Simulakrums.

Literaturgeschichtliche Bedeutung

Lukrez und Cicero waren Pioniere der „philosophischen Schriftstellerei“ in lateinischer Sprache. Sie mussten daher oft erst ein geeignetes Vokabular prägen (Lukrez spricht von der Dürftigkeit der Muttersprache patrii sermonis egestas) und um Unabhängigkeit von der griechischen Sprache und Literatur ringen.

Die Wahl der Form des „Lehrgedichts“ (in Hexametern) unterscheidet Lukrez von Cicero. Für diese Gattung der lateinischen Literatur kommt Lukrez Pionierrang zu: Zwar scheint es vor Lukrez Versuche gegeben zu haben, lateinische Lehrgedichte zu verfassen, doch waren diese nach Ciceros Urteil ungenießbar. Unter diesen Voraussetzungen ist verständlich, dass Lukrez' Verse nicht die Eleganz der späteren lateinischen Hexameter-Dichtung (insbesondere Vergil, Ovid) erreichen.

Als Epikureer hielt Lukrez sich von der Politik seiner Zeit fern. Es wird gern als „Wagnis seiner Dichtung“ bezeichnet, dass er Epikurs Lehre, zumal dessen Physik, in einem Gedicht zu verkünden suchte (s. o.) – obwohl Epikur selbst sagte, dass ein Epikureer nicht dichte bzw. nicht dichten solle, doch diese Aussage bezog sich möglicherweise eher auf den „Stoff“ des Mythos (fabulae) und nicht so sehr auf die „Form“ eines Gedichtes an sich. Da Lukrez nun eine Wahrheit, eine Lehre, eigentlich gar eine (epikureische) Heilslehre verkündet, durfte er dies trotz der Aussage seines Lehrers Epikur dichterisch tun. Frühere Versuche philosophischer Dichtung anderer Autoren scheiterten v. a. an ästhetisch-stilistischen Problemen (vgl. Cic. Ac. II,5,6 und Tusc. I,6; II,7 u. IV,6f.).

Lukrez will Lehrer sein, und zwar als erklärter Jünger Epikurs (vgl. die Außenproömien [Einleitungen der Bücherpaare] mit ihren Hymnen auf Epikur); Ziel (vgl. dazu Arthur Schopenhauer) ist die Befreiung des Menschen vom Aberglauben, und zwar durch Erkenntnis. Er will sich in einer chaotischen Zeit fernhalten von der Sinn- und Wertlosigkeit, nicht zuletzt durch den Hinweis auf die Natürlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge – auch der vermeintlich göttlichen.

Rezeption

Lukrez gilt als der Urheber des lateinischen Lehrgedichts. Sein Einfluss ist nicht nur auf die weitere römische Lehrdichtung (z. B. Vergils Georgica, Ovids Ars Amatoria, Manilius' Astronomica, das anonyme Aetna-Gedicht) beschränkt, sondern wirkt über Vergils Aeneis auf das gesamte lateinische Epos ab der augusteischen Zeit.

Da die von Lukrez propagierten Lehren der epikureischen Philosophie (Verneinung göttlicher Vorsehung und göttlichen Eingreifens ins Weltgeschehen, Endlichkeit der Welt, Sterblichkeit der Seele) mit der christlichen Religion unvereinbar sind, setzt in der Spätantike ab Arnobius eine scharfe Distanzierung von Lukrez ein. Gleichzeitig wird (z. B. von Laktanz) Lukrez als rationalistischer Zeuge für die Albernheit des heidnischen Götterkults herangezogen. Die Häufigkeit der Lukrez-Zitate bei den christlichen Schriftstellern zeigt außerdem, dass diese die literarische Qualität von De rerum natura sehr wohl anerkannten.

Nachdem Lukrez im Mittelalter in nahezu völlige Vergessenheit geraten war, setzt nach dem Erscheinen der ersten gedruckten Lukrez-Ausgabe im Jahre 1473 in der Renaissance eine rege Rezeption ein, in der Dichter lukrezische Themen in lateinischen Lehrgedichten behandeln (z. B. Aonio Paleario (hingerichtet 1570) De Animorum Immortalitate (1536), Scipione Capece (1480–1551) De Principiis Rerum (1546), Daniel Heinsius De Contemptu Mortis (1621)). Hochkonjunktur hatte die Produktion von lateinischen Lehrgedichten mit lukrezischen Themen auch im 18. Jahrhundert. Kardinal Melchior de Polignac dichtete einen Anti-Lucretius sive De Deo et Natura („Anti-Lukrez oder Über Gott und die Natur“), den Goethe sehr schätzte, und Bernardo Zamagna schrieb ein Lehrgedicht mit dem Titel De Nave Aeria („Das Luftschiff“) über die Montgolfière.

Erst im 19. Jahrhundert erschien, angeregt von Goethe, die erste deutsche Lukrez-Übersetzung durch den Freiherrn von Knebel. Fasziniert von Lukrez war auch Albert Einstein, der zu der Lukrez-Übersetzung von Hermann Diels ein Vorwort beisteuerte.

Unter den einzelnen Passagen von De rerum natura dürfte das Ende des Werks am intensivsten rezipiert worden sein. Die dort gegebene Beschreibung der Pest in Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges, die ihrerseits eng an die des Thukydides (2,47–53) angelehnt ist, wird ebenso von Vergil, Ovid, Manilius, Seneca und anderen antiken Autoren imitiert wie von Autoren der Neuzeit (z. B. im Lehrgedicht Siphylis des Girolamo Fracostoro oder in Albert Camus' La peste) rezipiert.

Werke

Weblinks


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