Thomas Kuhn

Thomas Kuhn

Thomas Samuel Kuhn (* 18. Juli 1922 in Cincinnati; † 17. Juni 1996 in Cambridge, Massachusetts) war ein US-amerikanischer Wissenschaftstheoretiker und Wissenschaftshistoriker. Er gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts.

In seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions beschreibt Kuhn die Wissenschaft als Wechselspiel zwischen Phasen der Normalwissenschaft und der wissenschaftlichen Revolutionen. Ein wichtiges Konzept ist hierbei das des Paradigmas. Eine Revolution ist nach Kuhn stets mit einem Paradigmenwechsel verbunden. Paradigmen von Theorien, die durch eine Revolution getrennt sind, bezeichnet Kuhn als inkommensurabel, nicht mit gleichem Maß messbar.

Inhaltsverzeichnis

Biographie

Thomas Kuhn wurde 1922 in Cincinnati in eine jüdische, jedoch nicht praktizierende Familie geboren. Sein Vater war ein in der Industrie arbeitender Ingenieur, seine Mutter Korrektorin. 1940 begann er an der Harvard-Universität, an der schon sein Vater studierte, ein Studium der Physik. Während seines Studiums belegte er mehrere Kurse in Philosophie und Literatur und schrieb außerdem für die von Studenten herausgegebene Zeitung Harvard Crimson.

Nach seinem Bachelorabschluss im Jahr 1943 arbeitete er zunächst in einem Radio-Forschungslabor in Harvard. Dort war er als Theoretiker an Radar-Gegenmaßnahmen für den Zweiten Weltkrieg beteiligt. Später wurde er in England und im gerade von den Alliierten zurückeroberten Frankreich als Radartechniker eingesetzt. Nach Kriegsende kehrte Thomas Kuhn nach Harvard zurück, wo er sein Studium fortsetzte: Er erhielt seinen Master und promovierte 1949 bei dem späteren Nobelpreisträger John H. van Vleck.

Zu dieser Zeit war sein eigentlicher Mentor bereits der damalige Präsident von Harvard, James Bryant Conant. Conant wurde auf Kuhn wegen seines für einen Physiker ungewöhnlichen Engagements im Harvard Crimson und in einem literarisch-philosophischen Club aufmerksam. Auf Conants Initiative hin gab Kuhn bereits vor seiner Promotion einen Kurs in Wissenschaftsgeschichte. Die Arbeit an diesem Kurs beeinflusste Kuhn stark, so dass er sich gegen die Physik und für eine Laufbahn als Historiker und Philosoph entschied.

Von Conant vorgeschlagen wurde Kuhn Mitglied der Society of Fellows in Harvard. Er beschäftigte sich dort mit der Geschichte der Wissenschaft, war aber immer an deren Auswirkungen auf die Philosophie interessiert.

Kuhn nahm 1956 eine Stelle als Hilfsprofessor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte in Berkeley an, einige Jahre später wurde er zum ordentlichen Professor für Wissenschaftsgeschichte. In Berkeley verfasste er unter anderem sein Hauptwerk, The Structure of Scientific Revolutions (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen).

Das Buch – er selbst bezeichnet es als Essay – schrieb er anfangs als Teil der International Encyclopedia of Unified Science. Anstoß war die „unbekannte Monografie“ Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache von Ludwik Fleck, die einige seiner Gedanken vorwegnimmt. [1]

Von 1964 bis 1979 lehrte er an der Princeton University. Danach wechselte er ans Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 blieb. Kuhn war Gründungsmitglied der International Academy of Science, die er maßgeblich mitprägte und die zu seinem Gedenken den Thomas Kuhn Award verleiht.

Kuhn wurde 1982 mit der George-Sarton-Medaille ausgezeichnet, dem höchst renommierten Preis für Wissenschaftsgeschichte der von George Sarton und Lawrence Joseph Henderson gegründeten History of Science Society (HSS).

Im Alter von 73 Jahren starb Thomas Kuhn 1996 an Krebs.

Philosophie

Kuhns Paradigmenbegriff

Der Begriff des Paradigmas ist ein zentraler Punkt von Kuhns Philosophie. Während er ihn in Structure noch sehr frei und in unterschiedlichen Bedeutungen benutzt, bemühte sich Kuhn in späteren Publikationen, den Begriff zu präzisieren.

Kuhn übernahm für seine Theorie den Ausdruck Paradigma aus der Linguistik (linguistische Bedeutung). In Kuhns ursprünglicher Verwendung sind Paradigmen „konkrete Problemlösungen, die die Fachwelt akzeptiert hat[2]. Hiermit sind Beispiele wie die schiefe Ebene gemeint, deren Lösungen schon Studenten in Lehrbüchern beigebracht wird, aber auch andere allgemein akzeptierte Problemlösungen. Diese dienen als Hilfsmittel, um über Analogiebildung andere Probleme zu lösen.

In Structure erhalten Paradigmen zusätzlich eine globale Bedeutung: Nahezu alles, worüber in der Wissenschaft Konsens besteht, ist paradigmatisch. Gemäß dieser Begriffsausweitung können unter anderem auch ganze Theorien paradigmatisch sein. Kuhn wurde in den Folgejahren für diese philosophisch nicht unproblematische Aufweichung des Paradigmenbegriffes oft kritisiert.

Zu Beginn der 70er Jahre änderte Kuhn hierauf seine Terminologie. Paradigmen im weiten Sinne bezeichnete er nunmehr als disziplinäre Matrix, während er konkrete Problemlösungen fortan Musterbeispiele nannte. Im Postskriptum zu Structure von 1969 heißt es zum Paradigmenbegriff:

"Einerseits steht er für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden. Andererseits bezeichnet er ein Element in dieser Konstellation, die konkreten Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht, explizite Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der 'normalen Wissenschaft' ersetzen können." (Kuhn 1981 [1969]: 186)[3]

Die Ausdrücke Paradigma und Paradigmenwechsel verwendete er nur noch selten. Sie hatten bereits eine Eigendynamik gewonnen, gegen die Kuhn nichts mehr auszurichten vermochte. In einem Interview gab er 1995 zu: „Paradigm was a perfectly good word, until I messed it up“.[4]

Vorparadigmatische Wissenschaft

Die Existenz eines Paradigmas ist für Kuhn ein Zeichen reifer Wissenschaften, es ist allerdings nicht ein notwendiges Kriterium für Wissenschaftlichkeit. Kuhn bezeichnet vorparadigmatische Wissenschaft auch als Protowissenschaft.

Mangels anerkannter Musterbeispiele besteht für den Forscher in einer vorparadigmatischen Phase der Wissenschaft ein großer Freiraum in der Wahl seiner Experimente, so dass Wissenschaftler stark unterschiedliche Aspekte ihres Themengebietes untersuchen und die hierbei gefundenen Theorieansätze die Experimente anderer Forscher nicht zu erklären vermögen.

Auf diese Weise entstehen oft viele konkurrierende und inkompatible Ansichten unter Wissenschaftlern. Als Beispiel nennt Kuhn die Elektrizität, welche durch Reibungsphänomene oder natürliche Abstoßung und Anziehung erklärt und von wieder anderen als Flüssigkeit angesehen wurde, bevor zur Zeit Benjamin Franklins eine paradigmatische Theorie der Elektrizität entstand.

Während die Mathematik schon seit der Antike paradigmatischen Charakter habe, seien laut Kuhn andere Wissenschaftsbereiche wie die Genetik erst seit relativ kurzer Zeit paradigmatisch. Wieder andere Bereiche, besonders in den Sozialwissenschaften befinden sich noch immer in einem vorparadigmatischen Zustand. [5]

Normalwissenschaft

Normalwissenschaft bezeichnet in der wissenschaftstheoretischen Konzeption von Kuhn eine der beiden möglichen Phasen der Wissenschaftsentwicklung, nachdem eine Wissenschaft die vorparadigmatische Phase hinter sich gelassen hat. Von ihr unterschieden wird die außerordentliche oder revolutionäre Phase.

Charakteristisch für Normalwissenschaft ist die Akzeptanz eines Paradigmas durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, auf dessen Basis Forschung betrieben wird. Zum einen wird der Bereich relevanter Probleme durch das Paradigma drastisch eingeschränkt, dies bedeutet aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, in die Tiefe gehende Forschung zu betreiben.

Die Aufgabe des Wissenschaftlers in normalwissenschaftlichen Phasen ist die Lösung von Problemen, deren Lösungsregeln implizit durch das Paradigma gegeben sind. Kuhn bezeichnet diese Tätigkeit als Lösen von Rätseln, in Analogie zu Puzzlen oder Schachproblemen, in denen die Grundregeln fest vorgegeben sind. Als Rätsel werden bevorzugt Probleme angegangen, von denen vermutet wird, dass eine Lösung für sie existiert und mit Hilfe der Lösungsregeln auch gefunden werden kann. Ist dies nicht der Fall, werden Probleme oft als metaphysisch abgelehnt.

Im wesentlichen gibt es drei Sorten von Rätseln:

  • Bestimmung bedeutsamer Tatsachen
Dies bedeutet z.B. die Bestimmung der Spektren von Molekülen oder Wellenlängen.
  • gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie
Dies beinhaltet die Beseitigung von Ungenauigkeiten durch Miteinbeziehung von in der idealisierten Theorie vernachlässigten Phänomenen wie Luftwiderstand oder Reibung, und auf der anderen Seite bestätigende Experimente wie die Atwoodsche Fallmaschine oder riesige Detektoren zum Nachweis von Neutrinos.
  • Artikulation des Paradigmas
Hierzu zählen die Beseitigung noch bestehender Unklarheiten der Theorie, Versuche einer logisch überzeugenden Darstellung einer Theorie und die Herleitung neuer Gesetze aus der Paradigmatheorie.

Weitere normalwissenschaftliche Tätigkeiten, die unter diese Punkte fallen, sind die Bestimmung universeller physikalischer Konstanten, die Formulierung quantitativer Gesetze, Musterbeispiele für die Lösung wissenschaftlicher Probleme und die Inkorporierung neuer Phänomene in das Paradigma.

Prinzipiell geht es dem Forscher dabei nicht um die Überprüfung oder Falsifikation des Paradigmas. Über dieses herrscht Konsens unter den Wissenschaftlern. Ziel der Normalwissenschaft sind also keine fundamentalen Neuerungen, die das Weltbild umstürzen könnten, sondern schrittweise Verbesserung von Theorien im Rahmen des gegebenen Paradigmas.

Auf keinen Fall sieht Kuhn in normalwissenschaftlicher Forschung eine wenig herausfordernde Routinetätigkeit. Analog zu vielen konstruierten Rätseln sind sowohl Kreativität nötig als auch die Fähigkeit, Methoden auf technisch oder abstrakt-mathematisch hohem Niveau anwenden zu können. Außerdem treten auch innerhalb der Normalwissenschaft Innovationen auf, nur betreffen diese nicht die Grundpfeiler der Theorie.

Sofern Probleme bei der Lösung der Rätsel auftreten, werden sie in den meisten Fällen der mangelnden Qualität des Wissenschaftlers oder der verfügbaren experimentellen Methoden zugeschrieben. Durch diese enge Bindung der wissenschaftlichen Praxis an das Paradigma wird eine Spezialisierung und Tiefe erreicht, die ohne den Glauben an eine sichere Basis nicht möglich wäre.

Im Gegensatz zur von Karl Popper vorgeschlagenen Falsifizierbarkeit hält Kuhn die Möglichkeit, Normalwissenschaft zu treiben für das entscheidende Abgrenzungskriterium zu vorwissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Theorien.[6]

Kuhn beschreibt Paradigmen folgendermaßen:

[Ein Paradigma funktioniert], indem es dem Wissenschaftler sagt, welche Entitäten es in der Natur gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten. Durch diese Informationen entsteht eine Landkarte, deren Einzelheiten durch reife wissenschaftliche Forschung aufgehellt werden. Und da die Natur viel zu komplex und vielfältig ist, um auf gut Glück erforscht zu werden, ist diese Landkarte genauso wichtig für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wissenschaft wie Beobachtung und Experiment.[7]

Wissenschaftliche Revolutionen

Ente oder Kaninchen? Kuhn verwendete diese bekannte optische Illusion von Jastrow, um zu veranschaulichen, dass sich bei wissenschaftlichen Revolutionen die Wahrnehmung der Wissenschaftler radikal ändert.[8]

Erst wenn über einen längeren Zeitraum hinweg an zentralen Stellen Probleme aufgetreten sind oder überraschende Entdeckungen gemacht worden sind, beginnt die Phase der außerordentlichen Wissenschaft. In ihr wird auch wieder über die Grundlagen selbst diskutiert. Eine solche Krise kann zu einem Paradigmenwechsel führen, bei dem das Paradigma der Disziplin verworfen und durch ein anderes ersetzt wird.

Von Kuhn angeführte Beispiele für wissenschaftliche Revolutionen sind unter anderem die Ablösung der Phlogistontheorie durch Lavoisiers Sauerstoffchemie, Einsteins Relativitätstheorie, die die klassische Newtonsche Physik ablöste, und in besonderer Ausführlichkeit die Kopernikanische Wende vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild. Der Wissenszuwachs ist nun im Gegensatz zur Normalwissenschaft nicht kumulativ, da wichtige Teile der alten Theorie aufgegeben werden. Der Inhalt der nachrevolutionären Theorie ist vorher nicht abzusehen, unerwartet.

Mit wissenschaftlichen Revolutionen verändern sich nach Kuhn nicht nur die Theorien, sondern auch das allgemeine Weltbild und die wissenschaftliche Praxis. Dies führte dazu, dass Kuhn in Structure wiederholt davon spricht, dass es so ist, als würde sich nicht die Interpretation des Menschen, sondern die Welt selbst ändern. Ein Paradigma wirkt sich auf tieferen Ebenen aus: es betrifft selbst die Wahrnehmung der Wissenschaftler. Vorläufer bezüglich dieser Behauptung sind Ludwik Fleck (Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache) und Norwood Russell Hanson (Patterns of discovery). Aufgrund der kognitiven Dimension von Paradigmen vergleicht Kuhn Paradigmenwechsel mit sogenannten Gestaltwechseln. Diese kennzeichnet ein plötzlicher Wechsel von einer zu einer anderen Wahrnehmung.

Im ausdrücklich formulierten Gegensatz zu dem falsifikatorischen Ansatz Karl Poppers behauptet Kuhn, dass Paradigmen nicht nur deshalb aufgegeben werden, weil sie falsifiziert wurden. Ein Paradigma wird erst dann aufgegeben, wenn es durch ein anderes ersetzt werden kann. Ein Aufgeben des Paradigmas durch die wissenschaftliche Gemeinschaft ohne Ersatz würde, Kuhn zufolge, die Aufgabe der wissenschaftlichen Tätigkeit per se bedeuten. Ebenso wenig kann Evidenz zwischen zwei um die Paradigmavorherrschaft konkurrierenden Theorien entscheiden. So behauptet Kuhn, dass es zur Zeit der Erfindung des Kopernikanischen Systems keine Evidenz gab, die dieses System über das damals etablierte Ptolemäische System erhoben hätte. Dieses Argument ist heute als Unterdeterminierung von Theorien durch Evidenz bekannt und wird insbesondere von Empiristen wie von Bas van Fraassen verwendet.

Inkommensurabilität

Einer der umstrittensten und meistdiskutierten Punkte von Kuhns Philosophie ist das auf einer Analogie mit der Mathematik beruhende Konzept der Inkommensurabilität, das er unabhängig von, aber etwa zeitgleich mit Paul Feyerabend in die Wissenschaftstheorie einführte. Kuhn betrachtete konkurrierende Paradigmen aus folgenden Gründen als grundsätzlich inkommensurabel[9]:

  • Die Paradigmen bieten Lösungen für unterschiedliche Probleme. Der Fokus auf das, was als durch die Wissenschaft zu klärendes Problem anzusehen ist, ändert sich hierbei.
  • Auch wenn das Vokabular oft das gleiche bleibt, ändern sich die Begriffe, die die Worte bezeichnen, radikal.
  • Anhänger konkurrierender Paradigmata üben ihre Tätigkeit in verschiedenen Welten aus.

Ein Beispiel für die Inkommensurabilität zweier Theorien rekrutiert Kuhn aus der Astronomie: Das Ptolemäische Weltbild postuliert folgende Menge als „Planeten“: Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn (Uranus, Neptun und Pluto waren damals noch unbekannt). Im Kopernikanischen Weltbild hingegen firmiert jedoch eine ganz andere Menge als „Planeten“, nämlich Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn. Zudem werden zwei neue Kategorien eingeführt, nämlich die Sonne als ein-elementige Menge und die Kategorie Satelliten, in die der Mond der Erde und später die Monde des Jupiter, entdeckt durch Galilei, gehören. Im Ptolemäischen System drehen sich die Planeten um die Erde und im Kopernikanischen System um die Sonne ist kein sinnvoller Satz, da die Extensionsmenge der Kategorie „Planeten“ in den beiden Systemen nicht die gleiche ist.

Als weiteres Beispiel nennt Kuhn die Revolution von der Newtonschen Physik zur Relativitätstheorie Einsteins. Obwohl gewisse Gemeinsamkeiten z. B. in der Begriffswahl bestünden, seien die Modelle inkommensurabel, weil selbst gleiche Begriffe wie etwa die Energie in beiden Theorien eine unterschiedliche, grundsätzlich nicht vergleichbare Bedeutung hätten. Demnach könnte die Newtonsche Physik auch nicht als Annäherung an die Spezielle Relativitätstheorie für Geschwindigkeiten, die klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind, angesehen werden. Ein sanfter Übergang der einen Lehre in die andere sei somit nicht möglich gewesen. Kuhn lehnt das Korrespondenzprinzip im Bohrschen Sinne also grundsätzlich ab.

Erst die Hypothese der Inkommensurabilität gibt der Kuhnschen Auffassung der Wissenschaftentwicklung die eigentliche Brisanz. Gewisse Phasen der Irrationalität beim Übergang zwischen verschiedenen Paradigmen wären wissenschaftstheoretisch noch akzeptabel, wenn es möglich wäre, altes und neues Paradigma nach vollzogenem Übergang rational zu vergleichen und sicherzustellen, dass wirklich ein Fortschritt gemacht wurde. Gerade dieses aber scheint die Inkommensurabilitätshypothese zu verneinen. Die Wissenschaft wäre demnach also nicht einer fortlaufend rational nachweisbaren Höherentwicklung unterworfen, wie es zum Beispiel Poppers Auffassung war.

Interessant ist, dass Kuhn, obwohl er die Inkommensurabilitätshypothese aufstellte, diese strenge Auffassung der nichtrationalen Entwicklung der Wissenschaften nicht selbst vertrat, die stattdessen von anderen Wissenschaftstheoretikern als Konsequenz aus der Inkommensurabilität gefolgert wurde. Kuhn selbst war durchaus der Auffassung, dass die Wissenschaft Fortschritte macht, allerdings nicht durch Paradigmenvergleich nachweisbar, weil laut ihm der Fortschritt eher dadurch entsteht, wie Wissenschaftlichkeit definiert wird.

Kuhn sieht also in der Entwicklung der Wissenschaften nicht ein fortschreitendes Anwachsen des Wissensvorrates durch Akkumulation, sondern einen Prozess, der gekennzeichnet ist durch dezidierte Brüche.

Rezeption

In den ersten Jahren nach Structure stand Kuhns Paradigmenbegriff im Zentrum der Kritik. Kuhn wurde oft für die Unschärfe seines Paradigmabegriffs kritisiert. Margaret Masterman fand 21 unterschiedliche Verwendungen des Begriffs in The Structure of Scientific Revolutions, woraufhin Kuhn einen Versuch der Klärung unternahm (siehe oben). In späteren Jahrzehnten verlagerte sich die Kritik zusehends auf Kuhns Vorstellung von Inkommensurabilität.

Kritik durch Lakatos

Nach einem Hauptkritiker Kuhns, dem Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos, umgreifen Paradigmen mehr als einen Leitgedanken, sie sind komplex in ihrer Zusammensetzung. Sie umfassen einen sogenannten harten Kern, der aus den tragenden Theorien (einer Wissenschaftsdisziplin z. B.) besteht, sowie aus einer „Schutzzone“ von Hilfshypothesen, die den „harten Kern“ gegen Widerlegungen abschirmen.

Als dritter Bestandteil der Paradigmen fungiert nach Lakatos ein spezifisch zu diesem „harten Kern“ gehörender oder durch ihn induzierter leistungsfähiger Problemlösungsapparat. Deshalb sei der Ausdruck Paradigma durch die treffendere Formulierung Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme zu ersetzen. Verschiedene Forschungsprogramme können nach Lakatos rational verglichen werden und sind nicht etwa inkommensurabel.

Hiermit wandte sich Lakatos gegen Kuhns Vorstellung von wissenschaftlichen Revolutionen und besonders gegen den Einfluss sozialer und kognitiver Faktoren auf diese. Er warf Kuhn in deutlichen Worten vor, dass für ihn wissenschaftliche Revolutionen irrational seien, eine Sache von Mob-Psychologie [10]. Gegen diesen Vorwurf wehrte sich Kuhn ausdrücklich.

Kritik an der Inkommensurabilität und Relativismusvorwürfe

Während Kuhns Paradigmenbegriff in der Wissenschaftstheorie vielfach aufgegriffen wurde, ist die Inkommensurabilitätshypothese praktisch nicht akzeptiert und wird bis heute stark kritisiert. Beispielsweise wurde eingewendet (etwa durch J. Watkins), dass wenn Paradigmen bzw. Theorien inkommensurabel - also unvergleichbar - seien, sie gar nicht in einer Konkurrenzsituation miteinander stehen könnten. Es würde sich dann also überhaupt nicht die Frage der Verdrängung der einen Theorie durch die andere stellen, was Kuhns ursprünglicher Behauptung widerspricht, wonach neue Theorie und verdrängte Theorie nicht verträglich seien. Ein weiterer erhobener Einwand ist, dass Kuhn seine wissenschaftshistorischen Untersuchungen, die ihn zu seinen Auffassungen führten, nur durchführen konnte, indem er selbst die verschiedenen wissenschaftlichen Theorien von einer übergeordneten Position aus betrachtete und verglich, was gemäß seiner Inkommensurabilitätshypothese unmöglich gewesen sein sollte.

Nach Kuhn darf Inkommensurabilität jedoch nicht als totale Kommunikationslosigkeit verstanden werden. Es ändert sich nicht die gesamte Weltsicht, denn nachfolgende Theorien müssen zumindest als solche erkennbar sein, um überhaupt als inkommensurabel bezeichnet werden zu können. Es gibt also einen gemeinsamen Kern auch inkommensurabler Theorien, der einen Vergleich ermöglicht.

Thomas Kuhn war persönlich von der Unübersehbarkeit eines Fortschritts in der Wissenschaft überzeugt. Allerdings sah er das Fortschreiten nicht als zielgerichteten Prozess hin auf eine endgültige, objektive Beschreibung der Wirklichkeit, sondern als einen Prozess ähnlich der Darwinschen Evolution, in dem alte Theorien zwar durch bessere Neue abgelöst werden, der jedoch nicht zielgerichtet ist.

Der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg kritisierte in einem Essay [11] Kuhns Position als „radikalen Skeptizismus“, der zu der relativistischen Auffassung führe, die Wissenschaft sei, ähnlich wie „Demokratie oder Baseball“, lediglich eine soziale Konstruktion. Wenn inkommensurable wissenschaftliche Theorien nur innerhalb ihres Paradigmas beurteilt werden könnten, würden diese gegenüber anderen, nichtwissenschaftlichen Theorien, keine privilegierte Stellung einnehmen. Diese Auffassung hält Weinberg für inakzeptabel und versucht, in seinem Aufsatz Kuhns Thesen von der Inkommensurabilität wissenschaftlicher Revolutionen zu widerlegen.

In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik, dass er, wenn es keine objektiven Kriterien für die Theorienwahl gebe, die Wissenschaftsgeschichte als irrationalen Prozess darstelle, der nur Resultat von Macht und Disziplin sei, und dass Kuhns Position letztlich zu einem totalen Methoden- und Theorienrelativismus führe, zum „anything goes“ von Paul Feyerabend.

Kuhn setzte sich in den Jahrzehnten nach dem Schreiben von Structure gegen diese Vorwürfe zur Wehr und vertrat die Auffassung, dass sein Bild der Wissenschaftsgeschichte keinesfalls zum Relativismus führe.

Populäre Verwendung von Kuhns Philosophie

Die Berühmtheit von Thomas Kuhns Thesen und seine zum Teil quasi-poetische Sprache hat zu vielen Fehldeutungen in der Rezeptionsgeschichte geführt. Insbesondere der Begriff des Paradigmenwechsels wurde später zu einem schillernden und gerne auch außerhalb von wissenschaftlichen Theorien vereinnahmten Schlagwort, da sich mit ihm moderne Werte wie Innovation, Fortschritt, Kreativität u. a. verknüpften. Beispielsweise verwendet Samuel P. Huntington die These des Paradigmenwechsels in seinem Buch Kampf der Kulturen für die Erklärung des Aufkommens seines Zivilisationenparadigmas.

Die Popularisierung zum Allerweltsbegriff und die „Entwicklung zur Beliebigkeit sowie der „Kultstatus“ des Begriffes haben Kuhn immer wieder als einen Wegbereiter der Postmoderne erscheinen lassen, obgleich er sich davon explizit distanziert hat.“[12]

Kuhn selber sah schon die Übertragung seiner Befunde aus der Geschichte der Naturwissenschaften auf andere Wissensbereiche, wie die Soziologie, als problematisch an.

Werke

  • The Structure of Scientific Revolutions (dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (ISBN 3518276255)), Chicago 1962, 2. erw. Ausg. 1970.
  • The Copernican Revolution (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1957)
    deutsch: Die kopernikanische Revolution, Vieweg, Braunschweig 1980
  • The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change (Chicago: University of Chicago Press, 1977) (ISBN 0226458067)
  • Black-Body Theory and the Quantum Discontinuity, 1894-1912 (Chicago, 1987) (ISBN 0226458008)
  • The Road Since Structure: Philosophical Essays, 1970-1993 (Chicago: University of Chicago Press, 2000) (ISBN 0226457982)

Literatur

  • Paul Hoyningen-Huene: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns (Vieweg, 1989)
  • Steve Fuller: Thomas Kuhn: A Philosophical History for Our Times (Chicago, 2000)
  • Alexander Bird: Thomas Kuhn (Acumen, 2002)
  • Thomas Nickles (Hrsg.): Thomas Kuhn (Contemporary Philosophy in Focus) (Cambridge University Press, 2003)
  • Steve Fuller, Kuhn vs. Popper: the struggle for the soul of science Cambridge: Icon, 2003 (repr. 2003, 2004, 2006) Studie über den wissenschaftstheoretischen Streit zwischen Popper und Kuhn
  • Uwe Rose, Thomas S. Kuhn: Verständnis und Mißverständnis. Zur Geschichte seiner Rezeption (Dissertation, Göttingen 2004)
  • Stove, David C.: Scientific Irrationalism – Origins of a Postmodern Cult. (Transaction Publishers, 2001)

Quellen

  1. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Vorwort
  2. Kuhn: The essential tension, 1959
  3. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Mit einem Postskriptum von 1969, 5. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. ISBN 3-518-07625-6
  4. Kuhn:The road since structure, S.298
  5. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 30 und 35
  6. Rose, S. 152
  7. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 121
  8. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 126
  9. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 159ff.
  10. Lakatos/Musgrave: Criticism and the growth of knowledge, S.178
  11. Stephen Weinberg: The revolution that didn't happen, The New York Review of Books. 8.10.1998, S. 48-52. [1]
  12. Rose, S.33

Weblinks


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