Theodorich von Freiberg

Theodorich von Freiberg

Dietrich von Freiberg, lateinisch Theodoricus de Vriberch oder Theodoricus Teutonicus (* um 1240/1245 in Freiberg; † nach 1310, vermutlich um 1318/1320[1]) war ein deutscher Philosoph, Theologe und Naturwissenschaftler. Er gehörte dem Dominikanerorden an, in dem er hohe Ämter ausübte.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Dietrichs Herkunft und Familie sind unbekannt. Er dürfte um 1260 im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren in den Dominikanerorden eingetreten sein. Nach dem Noviziatsjahr begann er wohl das Grundstudium der Theologie in seinem Heimatkonvent, an das sich ein zweijähriges Studium der Logik, insbesondere der logischen Schriften des Aristoteles anschloss. Wahrscheinlich folgte weitere Ausbildung in Theologie und Philosophie (einschließlich Naturlehre). 1271 war er Lektor (Lesemeister) im Dominikanerkonvent seiner Heimatstadt Freiberg in Sachsen. Vom Herbst 1272 bis 1274/1275 absolvierte er ein Fortbildungsstudium der Theologie an der Universität Paris; in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kehrte er nach Deutschland zurück. 1280 war er als Lektor am Dominikanerkonvent in Trier tätig. Für die Folgezeit bis 1292 liegen keine Nachrichten über ihn vor; wahrscheinlich hielt er sich erneut in Paris auf und hielt als Bakkalaureus eine Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombardus. Am 7. September 1293 wurde er zum Provinzial (Oberen) der deutschen Provinz seines Ordens gewählt. Als seinen Vikar (Vertreter) für die Region Thüringen wählte er Meister Eckehart, mit dem er somit spätestens damals in eine enge berufliche Beziehung trat. Er leitete die deutsche Dominikanerprovinz bis Mai 1296. Von 1294 bis 1296 leitete er zugleich als Generalvikar (Vertreter des obersten Leiters des Ordens) den gesamten Dominikanerorden, da das Amt des Ordensgenerals vakant war. 1296/97 wurde er in Paris zum Magister der Theologie promoviert; vermutlich lehrte er dort einige Jahre auf dem Lehrstuhl, der den nichtfranzösischen Dominikanern vorbehalten war. Dietrich und Albert der Große waren – soweit bekannt – die einzigen Deutschen, die im 13. Jahrhundert an der Universität Paris, der damals eine führende Rolle im europäischen Hochschulwesen zukam, als Magister lehrten. 1303 wurde Dietrich in Koblenz vom Provinzialkapitel seiner Ordensprovinz zu einem der Provinzialdiffinitoren (ein Verwaltungsamt des Ordens) gewählt. Letztmals taucht er im Juni 1310 in den Quellen auf; damals wurde er vorübergehend mit dem Amt eines Provinzialvikars der oberdeutschen Ordensprovinz Teutonia (eines der beiden Teile der inzwischen zweigeteilten deutschen Provinz) bis zur regulären Wahl eines neuen Vikars betraut. Diese fand im September 1310 statt; Meister Eckehart wurde gewählt. Da diese Wahl jedoch vom Ordensgeneral aufgehoben wurde, musste Dietrich noch im selben Jahr eine neue Wahlversammlung einberufen. In der Forschungsliteratur wird sein Tod gewöhnlich ohne Angabe einer Begründung in die Zeit um 1318/1320 gesetzt.

Werke

Dietrich verfasste, soweit bekannt, außer Briefen und nicht erhaltenen Predigten 38 Schriften: Traktate und Quaestionen zur Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft.[2] Nur 10 von ihnen sind verloren; keine ist genau datiert, doch lässt sich ein Rahmen für eine ungefähre Chronologie ermitteln, und die Reihenfolge der Entstehung ist teilweise bekannt. Die Werke sind nach heutigem Forschungsstand alle im Zeitraum zwischen 1285 und 1311 entstanden.[3]

Frühere Schriftengruppe

Dietrichs erste, vermutlich um 1286 verfasste Schrift handelt von Problemen der Ontologie; sie trägt den Titel De origine rerum praedicamentalium ("Über den Ursprung der kategorial bestimmbaren Dinge").[4] Darin setzt er sich – von der Kategorienlehre des Aristoteles ausgehend – mit der Frage auseinander, wie die Prinzipien des Denkens, die zu der seit Aristoteles üblichen Einteilung des Seienden in zehn Kategorien geführt haben, hinsichtlich ihres Ursprungs mit den Prinzipien des Seins zusammenhängen.

Etwa zehn Jahre später, wohl um 1296/1297, schrieb er drei Abhandlungen über umstrittene Fragen: De tribus difficilibus quaestionibus ("Über drei schwierige Probleme"). Sie sind betitelt De animatione caeli ("Über die Beseelung des Himmels"), De visione beatifica ("Über die beseligende Schau", gemeint: die Wahrnehmung Gottes durch die Seligen nach dem Tod) und De accidentibus ("Von den Akzidenzien"). Die drei erörterten Probleme liegen thematisch weit auseinander; die Zusammenfügung zu einem dreiteiligen Werk ergab sich aus der Absicht Dietrichs, anhand dreier Beispiele den Ansichten der communiter loquentes (Vertreter der herrschenden Lehrmeinungen) entgegenzutreten. Damit meinte er die Thomisten, die Anhänger des Thomas von Aquin. Die Thomisten hatten sich damals im Dominikanerorden weitgehend durchgesetzt, und Dietrich wollte mit seinem antithomistischen Werk die Grundlage für eine fundamentale Kritik am Thomismus schaffen. Etwas später folgten die Schriften De quiditatibus entium ("Über die Quidditäten - 'Was-heiten' - der seienden Dinge") und De ente et essentia ("Über das Seiende und das Wesen"). Sie enthalten scharfe Kritik am Thomismus, der die Wissenschaft zerstöre und mit der Philosophie des Aristoteles, auf welche die Thomisten sich beriefen, unvereinbar sei. Dietrichs Angriff richtete sich gegen zeitgenössische Thomisten wie Aegidius Romanus, Bernhard von Trilia und Thomas von Sutton.

Das nächste bedeutende philosophische Werk Dietrichs war die erkenntnistheoretische Abhandlung De intellectu et intelligibili ("Über den Intellekt und seinen Inhalt"). Darin erörtert er die Fragen, wie der menschliche Intellekt sich selbst und sein Prinzip erkennt, wie sich die "tätige Vernunft" (intellectus agens) zur "möglichen Vernunft" (intellectus possibilis) verhält und wie diesbezüglich der aristotelische mit dem neuplatonischen Ansatz zu einem stimmigen Ganzen zusammengeführt werden kann.

Zur früheren Schriftengruppe gehört ferner der Traktat De magis et minus ("Über das Mehr und Weniger"), worin Dietrich die im Spätmittelalter oft erörterte Frage nach der qualitativen Steigerung und Minderung bei Substanzen untersucht, und vielleicht auch De natura contrariorum ("Über die Natur konträrer Gegensatzpaare"), worin er seine Theorie der Gegensätze darlegt. Vermutlich ebenfalls relativ früh entstanden sind zwei Abhandlungen zur Philosophie der Dauer und der Zeit: De mensuris durationis entium ("Über die Maße des Dauerns der seienden Dinge") und De natura et proprietate continuorum ("Über die Natur und Besonderheit der Kontinua").

Aus dem Zeitraum 1294–1296 stammen fünf erhaltene Briefe Dietrichs.[5]

Spätere Schriftengruppe

Das Spätwerk Dietrichs, zu dem man seine im 14. Jahrhundert entstandenen Schriften zählt, ist einerseits Fragen der Naturphilosophie gewidmet, andererseits behandelt es Hauptthemen der mittelalterlichen Theologie. Die theologischen Themen erörtert er jedoch nicht auf theologische Weise (von der vorausgesetzten Autorität der Bibel ausgehend), sondern als Philosoph auf der Basis bloßer Vernunftüberlegungen (secundum rationem). In der Kosmologie, der das besondere Augenmerk Dietrichs in dieser Spätphase seines Schaffens galt, überschneiden sich die metaphysisch-theologischen Problemstellungen mit den naturphilosophischen und astronomischen.

Das umfangreichste aller Werke Dietrichs ist seine nach 1304 entstandene Schrift De iride et de radialibus impressionibus ("Über den Regenbogen und die durch Strahlen erzeugten Eindrücke"). Weitere relativ späte Schriften Dietrichs zur Naturforschung sind De miscibilibus in mixto ("Über die Bestandteile in einem gemischten Stoff"), De elementis corporum naturalium ("Über die Elemente der natürlichen Körper"), De luce et eius origine ("Über das Licht und seinen Ursprung")[6] und De coloribus ("Über die Farben").

Zu den späten Schriften über theologische Themen gehören De substantiis spiritualibus et corporibus futurae resurrectionis ("Über die geistigen Substanzen und die Körper der künftigen Auferstehung") und De cognitione entium separatorum et maxime animarum separatarum ("Über die Erkenntnis bei körperlosen Wesen, insbesondere bei vom Körper getrennten Seelen"). In zwei Alterswerken befasst sich Dietrich "nach den Grundsätzen einer philosophischen Untersuchung" mit kosmologischen Themen: De intelligentiis et motoribus caelorum ("Über die Intelligenzen und die Beweger der Himmel") und De corporibus caelestibus ("Über die Himmelskörper"). Diese beiden Abhandlungen berühren auch theologische Fragen; es geht um die Beseelung der Himmelskörper durch "Intelligenzen" (Geistwesen).

Lehre

Methodisch vertritt Dietrich den Vorrang der Begründung durch einen Argumentationsgang gegenüber der Berufung auf Autoritäten, geht aber von einem Einklang der beiden Wege aus. Zu seinen Anliegen gehört eine saubere Trennung von Theologie und Philosophie (Metaphysik). Er betont seine oppositionelle Rolle als Vertreter einer Minderheitsposition gegenüber herrschenden Lehrmeinungen. Unter anderem befürwortet er in modifizierter Version Lehren, die in der Pariser Verurteilung von 1277 mit Androhung der Exkommunikation kirchlich verdammt worden waren.[7] Gern wählt er für seine Annahmen paradox wirkende, provozierende Formulierungen.

Ontologie, Kosmologie und Seelenlehre

In einigen Fragen schließt sich Dietrich der Auffassung des Thomas von Aquin an, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Stoff und Form. So bestreitet er die Zusammensetzung geistiger Substanzen aus Form und (geistiger) Materie und nimmt im Menschen die Seele als einzige substantiale Form an. Damit wendet er sich gegen die „Franziskanerschule“, die augustinisch geprägte Lehre prominenter Franziskanertheologen. Was ihn vom Thomismus trennt, ist vor allem sein neuplatonisch geprägtes Weltbild. Er deutet die Schöpfung neuplatonisch als ewige Emanation des Geschaffenen aus Gott und nimmt eine diesen Prozess umkehrende Rückkehr zum Ursprung an. Im Gegensatz zu Thomas betrachtet er die Himmelskörper (d.h. die schalenförmigen Himmelssphären der damaligen Astronomie) als von eigenständigen Geistwesen („Intelligenzen“) bewegt. Diese Geistwesen unterscheidet er von den Engeln. Er fasst sie als Himmelsseelen auf, nicht als bloße Beweger. Außerdem verwirft er die Ansicht der Thomisten, dass ein wirklicher Unterschied zwischen Sein (existentia, Dasein) und Wesen (essentia, Sosein) bestehe.

Dietrichs konsequentes Festhalten an der Überzeugung, dass ein Akzidens nicht unabhängig von der Substanz existieren kann, bringt ihn in Konflikt mit der thomistischen Lehre von der Transsubstantiation im Abendmahl. Wenn beim Abendmahl die Brotsubstanz verschwindet und durch Gott ersetzt wird, aber die Eigenschaften des Brotes zurückbleiben, können Eigenschaften (Akzidenzien) ohne die ihnen zugehörige Substanz existieren. Dietrich wirft Thomas vor, durch diese widersprüchliche Annahme, die mit der Definition des Akzidens unvereinbar sei, ein Fundament der Wissenschaft zu zerstören.[8]

Im Spätwerk verfestigt sich Dietrichs Verankerung in der neuplatonischen Metaphysik und Kosmologie. Seine früher mit Vorbehalt geäußerte Zustimmung zu Lehren des spätantiken Neuplatonikers Proklos und des neuplatonischen Liber de causis („Buch von den Ursachen“) wird nun stärker akzentuiert und mit Bestimmtheit vorgetragen.

Erkenntnislehre

Erkenntnis ist für Dietrich ein Finden der Wahrheit in einer verborgenen Schatzkammer („Versteck“) des Geistes (abditum mentis). Dieses Versteck – eine von Augustinus stammende Vorstellung –, den Seelengrund, setzt er mit dem tätigen Intellekt (intellectus agens) der aristotelischen und scholastischen Philosophie gleich. Den tätigen Intellekt (die Vernunft) betrachtet er als eine Substanz, die aus Gott hervorgeht und dessen vollkommenes Ebenbild ist. Der tätige Intellekt ist seinem Wesen nach, nicht durch eine besondere Gnadengabe „gottförmig“ (deiformis). Im Individuum ist nach Dietrichs Lehre die Intellekt-Substanz einer einzelnen Seelensubstanz zugeordnet, deren Wirkursache (causa efficiens) sie ist.[9] Er fasst den Intellekt also nicht wie die Thomisten als akzidentelles Seelenvermögen auf. Bei Thomas hat der Intellekt nur die Aufgabe, Erkenntnis zu ermöglichen, für Dietrich hingegen ist er der Erkennende selbst.

Eine grundlegende Behauptung Dietrichs lautet, dass der menschliche Intellekt seinem Wesen nach immer in aktuellem Vollzug ist (intellectus per essentiam semper in actu). Er meint, der Intellekt habe das, was er hat, immer und von seinem Wesen her, also nicht von außen oder durch Zufall. Wenn etwas von außen in ihn eintrete, so könne dies nur auf seine Weise geschehen, also als intellektuelle Tätigkeit. Im Gegensatz zur aristotelischen Auffassung, wonach ein Wesen erst sein muss, bevor es tätig sein kann, behauptet er, dass der menschliche Intellekt sich selbst als seiend konstituiert, indem er sich selbst erkennt, d.h. in sich seinen göttlichen Grund denkend erfasst. Somit denkt der Intellekt nicht, weil er ist, sondern er ist, weil er denkt; er denkt sowohl sein Denken als auch sein Sein. Innerhalb des Intellekts lässt Dietrich keine Unterscheidung von Tätigem und Tätigkeit, Subjekt und Objekt zu; die Substanz des Intellekts, seine Tätigkeit und sogar sein Objekt fallen in eins zusammen. Die Selbsterkenntnis des tätigen Intellekts betrachtet Dietrich als irrtumsfrei, da sie einfach sei und nicht auf einem Urteil basiere, dessen Teile falsch verknüpft sein könnten.[10]

Der Intellekt kann das Seiende als Seiendes erkennen und hat prinzipiell die Möglichkeit, alles zu setzen und alles zu werden. Durch sein eigenes Wesen trägt er Ähnlichkeit mit der Gesamtheit des Seienden in sich, und zwar auf einfache Weise, da sein Wesen einfach ist. Die Vielheit ist in ihm intellektuelle Einheit, und aufgrund dieser Einheit vermag er alles zu erkennen. Damit kommt ihm ein außerordentlich hoher Rang zu.[11]

Das Verhältnis zwischen dem Intellekt und den Naturdingen als dessen Erkenntnisobjekten bestimmt Dietrich so, dass der Intellekt das Naturding, insoweit es ein „Was“ (quid) ist und durch seine „Washeit“ (ratio rei oder Quidditas) bestimmt ist, konstituiert. Für diese Tätigkeit des Intellekts prägt Dietrich den Ausdruck „quidifizieren“. Außerdem existiert das Naturding jedoch auch unabhängig vom Intellekt, nämlich insofern es durch die Naturprinzipien Materie und Form konstituiert ist. In diesem Sinne unterscheidet Dietrich zwischen Naturdingen (entia naturae) und den vom Intellekt hervorgebrachten Denkinhalten (entia conceptionalia, ein von Dietrich in Anknüpfung an Averroes geprägter Begriff). Die Natur ist zwar ein grundlegendes Seinsprinzip, kann aber nicht unterscheiden; das kann nur der Intellekt, der, indem er unterscheidet, zugleich bewirkt. Die Denkbarkeit kann nicht von der Natur bewirkt werden, sie geht nicht von der ontologischen Beschaffenheit des Objekts aus, sondern wird ausschließlich der spontanen Tätigkeit des Intellekts verdankt. Andererseits ist es die unwandelbare, vernunftgemäße Struktur der Realität, die der menschlichen Vernunft Erkenntnis ermöglicht. Im Erkenntnisakt verbindet sich empirisches Wahrnehmen durch ein Abbilden des Sinnesobjekts mit einem Beitrag des tätigen Intellekts, der aus sich heraus eine apriorische geistige Form (forma intelligibilis) bereitstellt. Durch die geistige Form werden die von der Sinneswahrnehmung gelieferten Daten begrifflich erfasst und die Begriffe den Wahrnehmungsobjekten zugeordnet, wodurch deren Bestimmung ermöglicht wird. Zu diesen geistigen Formen gehören für Dietrich anscheinend die Kategorien.[12]

Zeittheorie

Die Zeit zählt Dietrich nicht zu den Naturdingen, sondern er betrachtet sie als Produkt der Seele, lehnt also den „Zeitrealismus“ ab. Er ordnet sie somit nicht der Physik, sondern der Metaphysik zu. Sie als ausgedehnt in Analogie zu räumlicher Ausdehnung aufzufassen hält er für falsch. Vielmehr meint er, dass sie aus dem Zusammenspiel von Vorstellen und Vernunft entsteht. Vergangenheit und Zukunft werden als solche von der Seele geschaffen, indem die Seele sie so bestimmt. Wenn keine Seele die Zeit misst und ihr damit Zahlcharakter verleiht, existiert Zeit weder aktual noch potentiell.

Individuation

In der Lehre vom Individuationsprinzip, der Ursache der Entstehung der Einzeldinge aus dem Allgemeinen, bestimmt Dietrich zunächst den Begriff „Individuum“. Er definiert ein Individuum als eine wesenhafte Einheit, zu der besondere Bestimmungen hinzukommen, die ontologisch „nachträglich“ sind, also nicht von vornherein zur Wesensbestimmung (Definition) gehören. Ist ein Seiendes nicht allein durch seine Wesensform bestimmt (etwa als Mensch durch die Definitionsmerkmale „Lebewesen“ und „vernunftbegabt“), sondern darüber hinaus durch zusätzliche, nicht notwendige Bestimmungen, so handelt es sich um ein Individuum oder Einzelding. Solche Bestimmungen sind beispielsweise beim Menschen qualitative substantiale Besonderheiten (modi substantiales qualitativi) seines individuellen Intellekts oder bei einem Gegenstand eine bestimmte räumliche Ausdehnung. Somit ist die Individualität akzidentell. Aus der Perspektive der Natur, die nur auf das Allgemeine und Bleibende (Erhaltung der Arten) ausgerichtet ist, ist sie beiläufig, nicht als solche beabsichtigt, sondern nur um der Art willen da. Dietrich verwirft die Ansicht des Thomas von Aquin, dass die physische Materie das Individuationsprinzip ist. Er meint, dass der tätige Intellekt sich selbst individuiert, indem er substantiale Handlungen setzt, deren Modifizierungen über das hinausgehen, was in seiner Wesensdefinition liegt.[13]

Regenbogentheorie

In der originellen Schrift De iride et de radialibus impressionibus untersucht Dietrich den Regenbogen und andere Strahlenerscheinungen, ihren Ursprung in den Lichtquellen und ihre Aufnahme im Medium. Aufgrund der Auswertung von "verschiedenen und untrüglichen Erfahrungen" erklärt er mit Vernunftgründen die Entstehung der Regenbogenfarben, ihre Anzahl und "unverletzliche Abfolge". Dabei unterscheidet er zwischen Hauptregenbogen und Nebenregenbogen und erklärt, warum die Farbenanordnung im Nebenregenbogen umgekehrt ist. Er unterscheidet vier Regenbogenfarben und fünf Arten der Brechung und Reflexion des Lichts und vergleicht unter anderem den Strahlengang in durchsichtigen Kugeln mit demjenigen in Tautropfen. Er erklärt auch die Halbkreisform des Regenbogens und warum das Phänomen je nach Position der Sonne nicht immer vollständig zustande kommt. Sein Verständnis der Entstehung des Regenbogens ist dem Grundprinzip nach naturwissenschaftlich korrekt.[14]

Rezeption

Zu den Denkern, die Dietrichs Erkenntnis- und Schöpfungslehre beeinflusste, gehören Meister Eckhart, Johannes Tauler und Berthold von Moosburg, der ihn oft zitiert, ohne ihn zu nennen. Zeitgenössische thomistisch orientierte Dominikaner (Heinrich von Lübeck, Nikolaus von Straßburg) widersprachen seinen Ansichten. Seine Erklärung des Regenbogens fand keine Resonanz. Nach der Mitte des 14. Jahrhunderts geriet er weitgehend in Vergessenheit. Erst im 19. Jahrhundert erwachte das Interesse an ihm wieder, wobei es zunächst um seine Regenbogentheorie ging, die nun als Ereignis der Naturwissenschaftsgeschichte gewürdigt wurde.

Textausgaben

  • Dietrich von Freiberg: Schriften zur Intellekttheorie (= Opera omnia Bd. 1), hrsg. Burkhard Mojsisch. Meiner, Hamburg 1977. ISBN 3-7873-0372-3
  • Dietrich von Freiberg: Schriften zur Metaphysik und Theologie (= Opera omnia Bd. 2), hrsg. Ruedi Imbach u. a. Meiner, Hamburg 1980. ISBN 3-7873-0446-0
  • Dietrich von Freiberg: Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik (= Opera omnia Bd. 3), hrsg. Jean-Daniel Cavigioli u. a. Meiner, Hamburg 1983. ISBN 3-7873-0545-9
  • Dietrich von Freiberg: Schriften zur Naturwissenschaft. Briefe (= Opera omnia Bd. 4), hrsg. Maria-Rita Pagnoni-Sturlese u.a. Meiner, Hamburg 1985. ISBN 3-7873-0640-4

Übersetzungen

  • Dietrich von Freiberg: Abhandlung über die Akzidentien, übersetzt von Burkhard Mojsisch. Meiner, Hamburg 1994. ISBN 978-3-7873-1173-6
  • Dietrich von Freiberg: Abhandlung über den Intellekt und den Erkenntnisakt, übersetzt von Burkhard Mojsisch. Meiner, Hamburg 1980. ISBN 3-7873-0502-5

Literatur

  • Karl-Hermann Kandler, Burkhard Mojsisch, Franz-Bernhard Stammkötter (Hrsg.): Dietrich von Freiberg. Neue Perspektiven seiner Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft. Grüner, Amsterdam 1999. ISBN 90-6032-355-6
  • Loris Sturlese: Dokumente und Forschungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg. Meiner, Hamburg 1984. ISBN 3-7873-0600-5
  • Loris Sturlese: Artikel Dietrich von Freiberg. In: Verfasserlexikon2 Bd. 2 (1979), Sp. 127-137 Google Booksearch
  • Kurt Flasch: Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300. Klostermann, Frankfurt 2007. ISBN 978-3-465-03301-1
  • Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg. Meiner, Hamburg 1977. ISBN 3-7873-0373-1

Weblinks

Anmerkungen

  1. Loris Sturlese: Alle origini della mistica speculativa tedesca. Antichi testi su Teodorico di Freiberg, in: Medioevo 3 (1977), S. 21-87, hier: 41-43 schlägt ca. 1318 vor, Flasch (2007) S. 31 "gegen 1318/1320".
  2. Vollständiges Verzeichnis im ersten Band der Gesamtausgabe (Opera omnia) S. XXVII-XXXVIII.
  3. Zur absoluten und relativen Chronologie der Werke siehe Flasch (2007) S. 32-38; ältere, teils überholte Ausführungen dazu bei William A. Wallace: The scientific methodology of Theodoric of Freiberg, Fribourg 1959, S. 16-18, 299f. und Burkhard Mojsisch im ersten Band der Gesamtausgabe (Opera omnia) S. XXXVIII-XXXIX.
  4. Zur sinngemäßen Übersetzung des Titels siehe Flasch (2007) S. 109f.
  5. Herausgegeben von Sturlese (1984) S. 40-48.
  6. Flasch (2007) S. 36 zählt im Gegensatz zu Mojsisch und Sturlese die Abhandlung über das Licht zu den Spätwerken.
  7. Flasch (2007) S. 91-96, 99f., 311.
  8. Zur Abendmahllehre siehe Flasch (2007) S. 256-259, 267-276; Karl-Hermann Kandler: Einleitung, in: Dietrich von Freiberg: Abhandlung über die Akzidentien, hrsg. Burkhard Mojsisch, Hamburg 1994, S. XIX-XLVIII.
  9. Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg, Hamburg 1977, S. 51-54.
  10. Zu diesen Aspekten von Dietrichs Intellektlehre siehe Flasch (2007) S. 42-45, 214-233, 320-337.
  11. Burkhard Mojsisch: Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg, Hamburg 1977, S. 46f.; Theodor Köhler: Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert, Leiden 2000, S. 575-579.
  12. Zur Erkenntnis der Naturdinge siehe Flasch (2007) S. 121-131, 238-246.
  13. Zur Individuationslehre Dietrichs siehe Flasch (2007) S. 314-319, Mojsisch (1977) S. 54-58.
  14. Zu den Einzelheiten siehe Loris Sturlese: Einleitung, in: Dietrich von Freiberg: Schriften zur Naturwissenschaft. Briefe (= Opera omnia Bd. 4), hrsg. Maria-Rita Pagnoni-Sturlese u.a., Hamburg 1985, S. XVI-XLV.

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