Territorialisierung

Territorialisierung

Territorialisierung (von Territorium, lat. Herrschaftsgebiet oder auch Staat) bezeichnet in Deutschland die Herausbildung und Etablierung sowohl der weltlichen, als auch geistlichen Landesherrschaften etwa vom 11. bis zum 14. Jahrhundert und parallel dazu den langfristigen Machtverlust des Königs. Norbert Elias spricht vom Konflikt zwischen „Zentralgewalt“ und den „zentrifugalen Kräften“ im Zuge der Entwicklung vom feudalen Personenverbandsstaat auf der Grundlage der Stammeszugehörigkeit zum administrativ-verrechtlichten Flächenstaat auf der Basis der territorialen Zugehörigkeit.

Inhaltsverzeichnis

Langfristige Entwicklungen und Interessenkonflikte

Nach Otto Brunner (Land und Herrschaft, 1948) entsteht ein Territorium, wenn es eine politisch homogene Einheit wird, wenn also alle Land besitzenden Adeligen zu den Versammlungen mit dem Landesherren kommen. Die Grenzen eines Territoriums ergeben sich somit je nachdem, ob die jeweiligen Grundherren zur Versammlung des einen oder anderen Landesherren gehen und sich diesem zugehörig fühlen. Da auf diesen Versammlungen auch in Streitfällen entschieden wurde, entstand ein allgemein gültiges Recht.

Die mittelalterliche Gesellschaft des Feudalismus basierte auf persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen (Personenverband). Der Lehnsherr (König) belehnte seine Gefolgsleute (Vasallen) mit Herzogtümern, die idealerweise nach dem Tod des Vasallen wieder an den Lehnsherrn zurückfallen sollten. Gleichzeitig aber waren die Vasallen in der Regel bestrebt, sich in ihrem Herrschaftsgebiet festzusetzen und ihre Herrschaft an die eigenen Nachkommen zu vererben. Territorialisierung bedeutet Herausbildung von administrierten Flächenstaaten statt der früheren Personenverbände, Heerschaften und Grundherrschaften). Könige und Kaiser hatten im Früh- und Hochmittelalter keine feste Residenz (Reisekönigtum), waren häufig durch Italienfeldzüge lange Zeit abwesend und durch Konflikte mit dem Papst geschwächt, so dass sie häufig die Gefolgschaft ihrer Vasallen nur durch weitreichende Konzessionen sichern konnten.

Beginn und Entwicklung der Territorialisierung

Kaiser Otto I. unternahm im 10. Jahrhundert den Versuch, die deutschen Stammesherzogtümer in abhängige Herrschaften seines Reiches umzuwandeln und die Amtsherzogtümer der Karolingerzeit wieder zu erneuern. Er hatte damit langfristig keinen Erfolg. Bis Mitte des 11. Jahrhunderts wurden die ehemaligen Stammesherzogtümer mehr oder weniger abhängig von der königlichen Zentralgewalt geführt und dienten dem konkurrierenden Adel als Machtbasis im Kampf um das Königtum. Der Aufstieg der Landesherrschaften beginnt spätestens in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts, als die Macht des Königs als Lehnsherr zu schwinden scheint und dieser sich vor allem auf eine große Hausmacht und auf die florierenden Städte stützen muss.

Schon die ersten Salierkaiser Konrad II. (1024–1039) und Heinrich III. (1039–1056) versuchten, mit dem Heranziehen von Ministerialen und mit der Förderung des niederen Adels und vor allem der prosperierenden Städte ein Gegengewicht zu den mächtigen Herzögen zu bilden. Heinrich IV. versuchte, seine Hausmacht in der Rheinpfalz und in Rheinhessen sowie im Harz auszubauen und erweiterte mit Hilfe von Ministerialen die Verwaltung, was ihn vor allem im Bereich des Harzes in Konflikt mit dem sächsischen Hochadel brachte. Durch weitreichende Privilegien für die Städte (z. B. Speyer, Worms, Halberstadt, Quedlinburg, Goslar) versuchte er diese für sich zu gewinnen, was ihm auch weitgehend gelang.

Seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts, verstärkt im 12. Jahrhundert, nahm das Städtewesen in Deutschland einen schnellen Aufschwung. Die aufblühenden Städte entwickelten eigenständige Verwaltungs- und Rechtsformen und bildeten ein selbstbewusstes Bürgertum heraus, wurden zu Zentren von Handel und Gewerbe sowie zum Motor der wirtschaftlichen Entwicklung und Modernisierung. Mit ihrem Aufstieg ging der Übergang zur Geldwirtschaft einher. Teilweise ab dem 11. Jahrhundert, verstärkt dann ab dem 13. Jahrhundert, erreichten einige Städte die Freiheit von ihrem geistlichen oder weltlichen Herrn und nahmen zum Teil erheblichen Einfluss auf die Reichspolitik

Die Auseinandersetzung mit Papst Gregor VII. im Investiturstreit wurde von einem beträchtlichen Teil des Hochadels zu einer Revolte genutzt, was im März 1077 zur Absetzung Heinrichs IV. und zur Wahl eines Gegenkönigs (Rudolf von Rheinfelden) führte. Rudolf wurde zwar vom Papst unterstützt, da Heinrich IV. aber durch den Gang nach Canossa vom Kirchenbann befreit worden war und er geschickt taktierte, konnte er die Revolte im Oktober 1080 beenden. Dabei fand Rudolf von Rheinfelden den Tod. Dass Rudolf die rechte Hand – die Schwurhand – abgeschlagen worden war, interpretierten die Parteigänger Heinrichs propagandistisch als „Gottesurteil“, was die Adelsopposition gegen Heinrich zusätzlich diskreditierte und schwächte. In den folgenden Jahren baute Heinrich IV. seine Machtstellung gegenüber Fürsten und Papst bedeutend aus.

Im 12. Jahrhundert begann Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit der Errichtung neuer, teils räumlich getrennter Territorialherzogtümer. Die Auseinandersetzung mit den Welfen (Heinrich der Löwe) war ebenfalls Ausdruck des mittelalterlichen Grundkonflikts zwischen Zentralgewalt und „zentrifugalen Kräften“ (Norbert Elias). Das Herzogtum Bayern gab Friedrich I. Barbarossa im Jahr 1180 an Otto von Wittelsbach: Die Wittelsbacher herrschten in Bayern bis 1918.

Erst Kaiser Friedrich II., der sich die überwiegende Zeit in Sizilien und Süditalien aufhielt, und sein Sohn gaben mit königlichen Bullen aus den Jahren 1220 (Confoederatio cum principibus ecclesiasticis) und 1231 (Statutum in favorem principum) den Reichsfürsten die Verfügung über einige dem König vorbehaltene Rechte (Regalien), die bisher zumindest pro Forma ausschließlich dem König zugestanden hatten: höhere Gerichtsbarkeit, Münzprägerecht und Geleitrecht durch ein Territorium sowie Zölle werden dem jeweiligen Landesherrn übertragen. In der zweiten Bulle werden die weltlichen Territorialherren erstmals mit dem Titel dominus terræ angesprochen, was die gestiegene rechtliche Stellung der Landesherrn dokumentiert.

Zur Zeit der Doppelwahl 1257 werden zwei ausländische Herrscher von den Kurfürsten zu Königen von Deutschland gewählt. Beide Herrscher hatten das Königtum durch Konzessionen und Zahlungen an die Territorialfürsten erhalten. Von Richard von Cornwall heißt es, er habe „Geld wie Wasser vor die Füße der Fürsten“ gekippt. Er kann jedoch kaum Reichspolitik betreiben, weil er in England innenpolitische Auseinandersetzungen zu bestehen hat. König Alfons von Kastilien betritt nie sein Reichsgebiet und lässt die Fürsten die Territorialisierung vorantreiben. In dieser Zeit bis zur Krönung von Rudolf von Habsburg 1273 bekommen die Fürsten die Möglichkeit, ohne einen präsenten König zu regieren.

Burgenbau im 12. und 13. Jahrhundert und Territorialisierung

Für den hohen Adel bedeutete die Burg eine Chance, bisherige Herrschaft über Personen in Herrschaft über Land und Ressourcen umzuwandeln. Burgen untermauerten gleichsam die Herrschaft über das Land, gaben dem Herrn der Burg auf der Höhe Macht über die Bevölkerung im Tal. Burgen waren unverrückbar und schwer einzunehmen. Die Burg schuf Fakten und markierte Rechtsansprüche auf das Land und die Bewohner. Die Entfernung einer Burg war nur durch Krieg und Schleifung möglich.

Im frühen Mittelalter wurden Burgen in erster Linie zum Schutz gegen äußere Bedrohung, etwa durch die Ungarn oder die Normannen, gebaut. Vom 11. bis zum 13. Jahrhundert setzte im 12. Jahrhundert ein wahrer 'Burgenbauboom' ein. Trotz der hohen Kosten für die Errichtung einer Burganlage entstehen hunderte neuer Burgen. Dies hängt vor allem mit Änderungen in der Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft zusammen, die zwar schon vorher spürbar sind, jetzt aber voll durchschlagen. Der Adel differenziert sich, der Hochadel versucht, seinen jeweiligen Machtbereich zu erweitern, während der niedere Adel dem Widerstand entgegen setzt. In diesem Prozess bekräftigt die Burg den Anspruch auf ein Territorium. Sie wird – nach heutigem Verständnis illegal – auch auf Land erbaut, das dem Burgbauherrn nicht gehört, z. B. auf Klostergut. Rechtsfreie Räume, das heißt im Mittelalter Räume, auf die kein anderer mit Waffengewalt Anspruch erhebt, werden besetzt und verteidigt.

Bei den Klöstern werden beispielsweise Vogteirechte eigenmächtig ausgeweitet, um den Anspruch auf den Burgenbau und die territoriale Vorherrschaft zu legitimieren. Dies führt sogar so weit, dass Klöster und Bistümer selbst häufig Burgen erwerben mussten, um sich zur Wehr zu setzen, obwohl das dem Gebot zur Waffenlosigkeit des Klerus entgegenstand. Auch innerhalb der Stadt hatten Adelsburgen hauptsächlich die Funktion, die Macht oder den Machtanspruch ihres Besitzers zu dokumentieren. Dementsprechend waren Stadtbürger und Magistrate oft bestrebt, den Territorialherrn aus der Stadt hinaus zu drängen.

Die Goldene Bulle als Meilenstein der Territorialisierung

Die Goldene Bulle wurde am 10. Januar 1356 in Nürnberg von Kaiser Karl IV. ausgestellt und regelt die Ausübung der territorialen Herrschaftsgewalt innerhalb des Gebietes des deutschen Reiches und legt den Kreis der Reichs-/ Kurfürsten fest, die den König wählen. Die Kurfürsten erhalten Privilegien festgeschrieben. Weitere Reichsfürsten üben zwar teilweise auch schon Regalien (königliche Rechte) aus, vorerst ohne diese vom König schriftlich bestätigt bekommen zu haben.

Die Goldene Bulle von 1356 (Goldene Bulle = Kaiser- oder Königsurkunde mit goldenem Siegel) legt fest:

Die Goldene Bulle dokumentiert und formalisiert eine sich in Jahrhunderten herausgebildete Praxis und Entwicklung hin zur Territorialisierung.

Langfristige Folgen der Territorialisierung

Durch die weitgehende Souveränität der deutschen Territorien entwickelt sich kein Zentralstaat wie z. B. in England oder Frankreich, die von einem mächtigen monarchischen Hof und damit einem politischen und kulturellen Zentrum aus beherrscht werden. Es entsteht keine sprachliche Einheitlichkeit und Normierung, sondern die jeweiligen Territorien behalten ihren Regiolekt und entwickeln sich weitgehend unabhängig voneinander. Die Territorien bauen eigene Universitäten auf, die unabhängig voneinander lehren und eine wichtige Rolle in der Heranziehung von speziellen Landesbeamten haben.

Die Territorialisierung schreitet in den folgenden Jahrhunderten fort, die Zentralgewalt verliert weiter an Kompetenzen, bis im Westfälischen Frieden von 1648 die Aufspaltung Deutschlands in unabhängige Territorien besiegelt und im Jahr 1806 durch die Abdankung von Kaiser Franz II. das Heilige Römische Reich Deutscher Nation formal aufgelöst wird.

Bis heute ist Deutschland ein Föderalstaat, in dem die Bundesländer nicht nur innenpolitisch, sondern auch in der Europäischen Union und teilweise sogar in der Außenpolitik erheblichen politischen Einfluss beanspruchen und durchsetzen.

Siehe auch

Literatur

  • Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., 1939
  • Norbert Elias: Die Höfische Gesellschaft (1969), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002 (Gesammelte Schriften; Bd. 2)
  • Gerhard Dünnhaupt: Von der Etsch bis an den Belt? Abgrenzungsprobleme in den Randgebieten des Heiligen Römischen Reichs. In: Aus dem Antiquariat, 1988, ISSN 0343-186-X
  • M. Fleischmann: Landesgrenzen. In: K. Stengel, Wörterbuch des Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1913
  • A. de Lapradelle und J. P. Niboyat: Répertoire de droit international, Paris 1929–1930
  • H. Reiss: Grenzrecht und Grenzprozess, 1914
  • H. Westermann: Lehrbuch des Sachenrechts, 5. Aufl. 1966

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