Balto-slawische Hypothese

Balto-slawische Hypothese

Die balto-slawische Hypothese nimmt an, dass es nach der Ausgliederung aus dem Proto-Indogermanischen eine einheitliche balto-slawische Protosprache gegeben habe.

Inhaltsverzeichnis

Die heutige Mehrheitsmeinung

Heute gehen viele Sprachwissenschaftler eher von einer protobaltischen so genannten Isoglossengemeinschaft aus. Aus einem kleinen Teil dieser Gemeinschaft hätten sich dann die frühen Slawen herausgebildet, die das Urslawische sprachen.

Im Rahmen der noch einheitlichen proto-indoeuropäischen Sprache entwickelten sich Baltisch, Germanisch und Slawisch gemeinsam oder in enger Nähe. Für diese frühe Periode des 3. oder frühen 2. Jahrtausend vor Christus ist es noch nicht sinnvoll, von Baltisch, Germanisch oder Slawisch zu sprechen, vielmehr handelte sich um indogermanische Dialekte, aus denen sich später die baltischen, germanischen und slawischen Sprachen entwickelten.

Heftig umstritten ist die Ansicht einiger Sprachwissenschaftler, die baltischen und slawischen Dialekte hätten sich nach der Abspaltung des Urgermanischen noch eine Zeit lang gemeinsam im Rahmen einer Spracheinheit entwickelt. Diese balto-slawische Hypothese ist indes kaum zu beweisen oder zu widerlegen, weil Belege fehlen; fest steht, dass beide Sprachfamilien miteinander verwandt sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die einst viel weiter verbreiteten baltischen Gebiete und die ab dem 6. Jahrhundert erstmals bekannten Slawen sich in weiten Gebieten ausbreiteten, die aneinander grenzen, wodurch die Sprachen sich gegenseitig beeinflussten (bis hin zur vollständigen Akkulturierung, siehe die Dniepr-Balten). Dazwischen lag das von Goten und anderen germanischen Völkern besiedelte Gebiet zwischen Ostsee und dem Schwarzen Meer. Von der sehr langen Entwicklung beider Sprachfamilien ist wegen der relativ späten Verschriftlichung der baltischen Sprachen nur die neueste Entwicklung der letzten Jahrhunderte ausreichend dokumentiert, bei den slawischen Sprachen reicht die Überlieferung bis ins 9. (und in wenigen Lehnwörtern bis ins 7.) Jahrhundert zurück.

Allerdings ist bereits die oben genannte Prämisse, wonach das Protogermanische mit dem Protoslawischen und Protobaltischen auf eine gemeinsame Vorform zurückgehe, nicht unumstritten. Der kleinen Zahl unbestreitbarer germanisch-slawischer Parallelen (etwa den Wörtern für Gold, Roggen, tausend und Leute) steht eine größere Zahl von Parallelen zwischen dem Germanischen und dem Keltisch-Italischen gegenüber. Am ehesten nahm die Vorform des Germanischen im späten 3. und frühen 2. Jahrtausend vor Christus entsprechend seiner geographischen Lage und ganz im Sinne der oben genannten Isoglossengemeinschaft eine Zwischenstellung zwischen dem Keltisch-Italischen im Süden und Westen, dem Baltischen im Osten und dem Slawischen im Südosten ein.

Terminologische Probleme

Verwirrend an der Diskussion ist zudem, dass das balto-slawische Modell bzw. dessen Abstraktionen nicht einheitlich verwendet werden, wobei diese terminologische Unschärfe meist nicht explizit erwähnt wird. Nachdem das Indogermanische als einheitliche Ursprache rekonstruiert wurde, so ist dieser Schritt auch für die späteren Einzelsprachen prinzipiell zulässig. Dabei wird vielfach eine indoeuropäische Sprachgruppe postuliert, aus der sich später das Baltische, Germanische und Slawische entwickelte. Für diese Gruppe wäre dann ebenfalls eine Ursprache anzusetzen. Würde man dennoch die Existenz einer Baltisch-Slawischen Ursprache verneinen, dann setzte dies voraus, dass sich entweder das Urbaltische, Urslawische und Urgermanische gleichzeitig voneinander getrennt haben oder aber zunächst das Urbaltische bzw. Urslawische sich von dieser Gruppe gelöst hätte. Jedoch wird keine dieser Thesen vertreten. Die Diskussion liegt nicht zuletzt daher darin begründet, dass ein einfaches Stammbaummodell nur für die Frühphase des Indogermanischen akzeptiert ist. Die spätere Entwicklung, über die mehr Fakten bekannt sind, wird hingegen meist mit einem detaillierteren Modell beschrieben, das auch die Auswirkungen von Sprachkontakten und neuere Erkenntnissen zur Ethnogenese berücksichtigt.

Die Entstehung der balto-slawischen Hypothese

Als erster äußerte sich zum balto-slawischen Verhältnis (aus linguistischer Sicht) im 19. Jahrhundert der Thüringer Sprachwissenschaftler August Schleicher, der u. A. ein paar Jahre in Prag lehrte. Durch frühen Tod war er verhindert, seine Forschungen weiter auszuführen und vertrat derzeit die Meinung einer langen balto-slawischen Spracheinheit nach vorangegangener Abspaltung der germanischen Dialekte. Eine konträre Meinung vertrat z. B. Antoine Meillet. Zwischen diesen beiden Extremen liegt die Ansicht von Jan Michał Rozwadowski, die besagten indogermanischen Dialekte hätten sich zwar in der frühen Phase der Ausgliederung auseinanderentwickelt, später aber wieder angenähert, worauf die unübersehbare Ähnlichkeit beider Sprachfamilien zurückzuführen wäre – ohne dass eine baltisch-slawische Spracheinheit existiert habe. Eine Art salomonische Lösung vertrat Janis Endzelins, der von einer baltisch-slawischen Epoche spricht, jedoch nicht von Beginn an.

Der weitere Verlauf der Debatte

Fasst man die zum Teil sehr unterschiedlichen Meinungen zusammen, so kann man heute am ehesten von einer urbaltischen Isoglossengemeinschaft ausgehen (so formulieren es auch Vladimir Toporov, Vjaceslav Ivanov und Vytautas Mažiulis), wobei sich aus einem peripheren Dialekt dieser sprachlichen Gemeinschaft das Urslawische herausbildete und ab einem gewissen Zeitpunkt verselbständigte. Ob man diese Isoglossengemeinschaft urbaltisch, balto-slawisch oder urslawisch nennen möchte, ist dabei eher eine terminologische Frage. Die Argumentation für den Begriff urbaltisch stützt sich darauf, dass die baltischen Sprachen phonologisch und morphologisch eindeutig konservativer sind, sich also weniger von dem früheren Stadium entfernt haben als die slawischen Sprachen.

Beispielsweise ist keine Einwirkung der finno-ugrischen Sprachen auf die slawischen Sprachen erkennbar, während beispielsweise die sekundären Kasus im Baltischen auf finno-ugrischen Einfluss zurückgeführt werden. Andererseits gibt es im Slawischen Einsprengsel aus den Sprachen der indogermanischen Steppenvölker (Skythen, Alanen (=Osseten); die sprachliche und ethnische Identität der in der slawischen Geschichte des frühen Mittelalters bedeutenden Awaren ist hingegen unklar). Trotzdem weisen Baltisch und Slawisch auch gemeinsame Züge auf, die in anderen indogermanischen Sprachen fehlen.

Es ist anzunehmen, dass die Vorfahren der Balten und Slawen in den Jahrtausenden nach der Auswanderung aus der indeoeuropäischen Urheimat in weiten Teilen nicht nur Ost- und Nordosteuropas siedelten. Einige Hypothesen beziehen den Balkan ein und prostulieren eine (ur-)baltische Herkunft von Dakern, Moesen, Geten und Thrakern. Die Urslawen, falls es sie in dieser Zeit schon als eigenständige Ethnie gab, müssen auf einem sehr kleinen Gebiet gelebt haben.

Die sehr schnelle Ausbreitung der Slawen zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert nach Christus wirft viele Fragen auf. Spätestens seit diesem Zeitpunkt sind die Slawen eindeutig als eigenständige Sprachgemeinschaft zu erkennen. Sie besiedelten weite Teile Ostmittel- und Osteuropas, mancherorts haben sie sich aber allmählich akkulturiert und sind in anderen Stämmen und Völkern aufgegangen. In der mutmaßlichen Urheimat der Indoeuropäer, dem Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres, aus denen sich später Balten und Germanen entwickelten, herrschten womöglich noch bis zum 10. Jahrhundert die Balten vor, bevor sie von den Slawen abgelöst und assimiliert wurden (man vergleiche z. B. das relativ schnelle Verschwinden der etwas geheimnisvollen Dniepr-Balten).

Politischer Einfluss auf die balto-slawische Kontroverse

Der Streit um die balto-slawische Hypothese wurde auch durch politische Prozesse beeinflusst. So wie die enge Verwandtschaft der baltischen und slawischen Sprachen aus Sicht sowjetischer Ideologen und slawischer Nationalisten der Inkorporation der baltischen Staaten in die russisch dominierte Sowjetunion förderlich war, so unterstrich die Eigenständigkeit der baltischen Sprachen den Drang der baltischen Staaten nach nationaler Unabhängigkeit. Andererseits ließ sich aus russischer Sicht die Erforschung einer kleinen, exotischen Sprache wie des Litauischen besser begründen, wenn dies zugleich zur Erforschung des Russischen beitrug. Im Sinne dieser Theorie war die Baltistik in der Sowjetunion meist an Instituten für Slawistik angesiedelt.

Literatur

  • Oleg Poljakov: Das Problem der balto-slavischen Sprachgemeinschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang 1995. ISBN 3-631-48047-4.
  • Bernd Barschel, Maria Kozianka, Karin Weber (Hrsgg.): Indogermanisch, Slawisch und Baltisch. Materialien des vom 21.-22. September 1989 in Jena in Zusammenarbeit mit der Indogermanischen Gesellschaft durchgeführten Kolloquiums. München: Sagner 1992. ISBN 3-87690-515-X.

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