Tantrismus

Tantrismus

Schriften des
Hinduismus

Shruti

  1. Rigveda
  2. Samaveda
  3. Yajurveda
  4. Atharvaveda

Smriti

Tantra (Sanskrit, n., "Gewebe, Kontinuum, Zusammenhang") ist eine in Indien entstandene esoterische Form des Hinduismus und später des Buddhismus (vgl. Vajrayana) innerhalb der nördlichen Mahayana-Tradition. Die Ursprünge des Tantra beginnen im 2. Jahrhundert, in voller Ausprägung liegt die Lehre jedoch frühestens ab dem 7./8. Jahrhundert vor. Im Buddhismus ist auch der Begriff Tantrayana gebräuchlich (Tantrayāna, „Fahrzeug der Tantra-Texte“).

Das Wort Tantra wird von der Sanskritwurzel tan (ausdehnen) abgeleitet. Tantrismus bedeutet somit allumfassendes Wissen oder Ausbreitung des Wissens. Die menschliche Erfahrung verdankt ihm Entdeckung und Lokalisierung der Energiezentren (Chakras)- im menschlichen Körper. Jedes Individuum ist gemäß tantrischer Lehre eine Manifestation dieser Energie, und die Dinge um uns sind das Produkt des gleichen Bewusstseins, das sich immerfort auf verschiedene Weise offenbart.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Der Tantrismus ist eine Erkenntnislehre, die auf der Untrennbarkeit des Relativen und des Absoluten basiert. Was den Tantrismus von anderen hinduistischen und buddhistischen Systemen unterscheidet, ist die Betonung der Identität von absoluter und phänomenaler Welt. Das Ziel des Tantrismus ist die Einswerdung mit dem Absoluten und das Erkennen der höchsten Wirklichkeit. Da angenommen wird, dass diese Wirklichkeit energetischer Natur ist, und Mikrokosmos und Makrokosmos verwoben sind, führt der Tantrismus äußere Handlungen als Spiegel innerpsychischer Zustände aus. Da Geist und Materie als nicht vollständig geschieden angesehen werden, ist der hinduistische Tantrismus diesseitsbejahend und benutzt psycho-experimentelle Techniken der Selbstverwirklichung und Erfahrung der Welt und des Lebens, deren Elemente als positive Dimensionen erfahren werden sollen, in denen sich das Absolute offenbart. Tantra stellt sich also hauptsächlich als spiritueller und mystischer Weg dar, der auf metaphysischen Annahmen beruht.

Prinzipien

Bija-Mantren, die das jeweilige Chakra dominieren (von oben): Om, Om, Ham, Yam, Ram, Vam, Lam.

Dem Nicht-Eingeweihten Betrachter erscheint er als durchdrungen von okkulten und magischen Vorstellungen. Sehr ausgeprägt sind Ritual und Kult, da die Befolgung esoterischer Stufenwege zur Erkenntnis und Erleuchtung zentral für die religiöse Praxis ist. Von Bedeutung ist die Einweihung (abhisheka) und die Unterstellung des Schülers (cela) unter einen kundigen Lehrer oder Meister (Guru), der diesem auf dem spirituellen Weg behilflich ist.

Die Hauptelemente des Tantrismus sind:

  • Die Darstellung und Vergegenwärtigung geistiger Prinzipien mittels sexueller Symbolik, da angenommen wird, die Polaritäten aktiv und passiv, bzw. männlich und weiblich bildeten durch ihre Wechselwirkung das Universum (Shiva und Shakti)
  • Das System feinstofflicher Energiezentren (Chakras) und -kanäle (Nadis) auf denen die yogischen und meditativen Praktiken basieren, wie z.B. das körperliche Kundalini-Yoga, die Visualisation von Gottheiten oder die sexuelle Vereinigung:
  • Die Arbeit mit geometrischen Symbolen wie Mandala und Yantra als Ausdruck des Makro- und Mikrokosmos
  • Das Arbeiten mit Mantras und Mudras
  • Die Transformation der Körperzentren in geistige Orte durch Mantras und Symbole
  • Das Einfließen magischer Vorstellungen

Hinduistisches Tantra

Der Begriff "Tantra" bezeichnet ursprünglich eine Literaturgattung, "Tantras" oder auch "Agamas", die nach-vedisch ist. Formal sind die Texte des hinduistischen Tantra meist in Form eines Dialoges zwischen Shiva und seiner Gattin Parvati geschrieben. Jene, in denen er der Unterweisende ist, werden Agamas genannt, ist er dagegen Zuhörer und sie die Lehrende, handelt es sich um Nigamas.

Nach der obigen Unterteilung gibt es für jedes der vier Zeitalter Schriften, welche die jeweiligen Rituale und Übungen regeln. Die Regeln der Shruti, die Veden, gelten demnach nur für das goldene Zeitalter (Sat-Yuga), die Regeln der Agamas (Tantras) nur für das gegenwärtige eiserne Zeitalter (Kali-Yuga).

Der Tantrismus ist meist, aber nicht ausschließlich, mit dem Shaktismus, der Verehrung der Göttlichen Mutter, Shakti, verbunden, die Ausdruck der schöpferischen Kraft Gottes ist, mithin der Schöpfung selbst. Im Gegensatz zum reinen Advaita Vedanta, der die Schöpfung als Illusion - Maya - betrachtet, sieht der Tantriker diese als Ausdruck der Kraft Gottes - Shakti, der Göttin - an und verehrt diese als Maha-Maya. Der Tantriker betrachtet die Sinneswelt nicht als negativ, sondern benutzt diese, um zur Vereinigung mit dem Göttlichen zu gelangen. Die Göttliche Mutter selbst ist im menschlichen Körper als Kundalini-Energie vorhanden, die an der Basis der Wirbelsäule eingerollt liegt und, zum Leben erweckt, aufsteigt, um auf ihrem Weg die verschiedenen Chakren (Räder - subtile Energiezentren) zu öffnen und schließlich im obersten Chakra, dem Sahasrara, mit Shiva, dem männlichen Aspekt Gottes, dem Noumen, vereint zu werden. Alle Hauptgötter wohnen im menschlichen Körper, meist im Zentrum der Chakren. So wie Shiva und Shakti im Ardhanarishvara (halb Mann, halb Frau) vereint sind, so ist auch die rechte Hälfte jedes Menschen männlich und entspricht Shiva, während die linke Hälfte der Shakti entspricht.

Da alle Hauptgötter des Hinduismus einen weiblichen Gegenpart besitzen, gibt es je nach Sekte auch eine entsprechende tantrische Richtung:

Im so genannten "linkshändigen Tantra", dem Vamacara, werden die fünf vedischen Reinigungsartikel bewusst umgekehrt, in der Verehrung der fünf Ms, den pañca-makāra:

  • Matsya [oder Mīna] (Fisch)
  • Māmsa (Fleisch)
  • Madya (Wein)
  • Mudrā (getrocknete Körner)
  • Maithuna (ritualisierter Geschlechtsakt)

Insbesondere wegen des Maithuna ist Tantra in Verruf geraten und wird im Westen fälschlicherweise fast ausschließlich mit Sexualpraktiken identifiziert. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Praktiken nur von bestimmten Sekten, den Vamacharas, und auch dort nur von bestimmten Übenden, den Viryas, in einem bestimmten rituellen Zusammenhang ausgeübt werden. Ähnliche Praktiken wurden und werden teilweise auch in China im Daoismus praktiziert und vereinzelt in der tantrischen Form des tibetischen Buddhismus.

So haben die Dakshinacara-Anhänger die fünf Ms durch andere Substanzen ersetzt oder üben sie nur symbolisch bzw. gar nicht aus. So verurteilt beispielsweise der Samayacara der Shri Vidya-Tradition, die besonders in Südindien in den konservativen Shankaracarya-Orden Eingang gefunden hat, all diese Praktiken und meditiert nicht über Chakren unterhalb des Nabels. Im Shri Vidya werden hauptsächlich die Dasa-Maha-Vidyas verehrt, die zehn großen Göttinnen , Kali, Tara, Tripurasundari, Bhuvaneshvari, Bhairavi, Chinnamasta, Dhumavati, Bagalamukhi, Matangi, Kamala. Sie alle sind Aspekte der einen Göttin, und der Sadhaka (Übende) nähert sich der Ganzheit durch die Verehrung dieser Aspekte allmählich an. Eine besondere Rolle für die Shankara-Tradition spielt dabei die Göttin Sharada (ein anderer Name für Sarasvati oder Tara), die Göttin der Weisheit und des Lernens, da für den Advaita die Erkenntnis, Jnana, Gnosis, der Weg zur Befreiung ist.

Bezeichnend für fast alle Tantriker sind die Bedeutung von Mantras (heilige Wortklänge), Bijas (einsilbige Wortklänge), Yantras (Diagramme), Mudras (Yogische Stellungen, Gesten), Nyasa (Energetisierung verschiedener Körperteile), Bhutashuddhi (Reinigung), Kundalini-Yoga, Kriya (Bewegungs- und Atemübungen), Carya (religiöse und soziale Vorschriften), Maya-Yoga (Magie). Tantra ist immer praxisorientiert, weswegen tantrische Praktiken in fast allen hinduistischen Richtungen eingeflossen sind. Allen Tantra-Traditionen ist außerdem das Gebot der Geheimhaltung der Lehre und die Bedeutung des Guru als Vermittler der tantrischen Lehren gemein. Traditionell kann Tantra nicht in einem Kurs oder durch Bücher erlernt werden.

Zu den Regionen in denen tantrische Kulte noch besonders lebendig sind, gehören in Indien Assam, Bengalen, Orissa, Maharashtra, Kaschmir, Rajasthan, der nordwestliche Himalaya und Teile Südindiens.

Literatur

  • Avalon, Arthur (Sir John Woodroffe): Die Schlangenkraft. Die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen, Barth, Weilheim 1961; O.W. Barth bei Scherz, München 3. A. 2003, ISBN 978-3-502-61044-1
  • Mookerjee, Ajit / Khanna, Madhu: Die Welt des Tantra in Bild und Deutung. Die umfassende Darstellung des wahren Tantra-Weges und seiner Praktiken, O.W. Barth, München 1978
  • Reinelt, Dr. Joachim: Das grosse Kundalini-Buch. Kundalini-Erfahrungen, Aquamarin Verlag, Grafing 2006, ISBN 978-3-89427-315-6
  • Uhlig, Helmut: Das Leben als kosmisches Fest. Magische Welt des Tantrismus, Lübbe, Bergisch Gladbach 1998, ISBN 978-3-7857-0952-8

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