Systemtheorie (Luhmann)

Systemtheorie (Luhmann)

Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann ist eine philosophisch-soziologische Kommunikationstheorie mit universalem Anspruch, mit der die Gesellschaft als komplexes System von Kommunikationen beschrieben und erklärt werden soll. Kommunikationen sind dabei die Operationen, die diverse soziale Systeme der Gesellschaft entstehen lassen, vergehen lassen, erhalten, beenden, ausdifferenzieren, interpenetrieren und durch strukturelle Koppelung verbinden. Nach seinem Einführungsband Soziale Systeme arbeitete Luhmann seine Systemtheorie durch mehrere Bände zu bedeutenden Systemen der Gesellschaft aus – beispielsweise zur Politik und zum Recht. In zahlreichen Aufsätzen verdichtete er seine in dem Einführungsband dargelegten, theoretischen Erklärungsmodelle.

Inhaltsverzeichnis

Zugang zur Theorie Luhmanns

1969 gab Luhmann bei seiner Aufnahme in die neu gegründete Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld als sein Forschungsprojekt an: „Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine.“[1] 28 Jahre nach dieser Antragsstellung (1997) veröffentlichte er sein Werk Die Gesellschaft der Gesellschaft, das als umfassende Theorie der Gesellschaft angesehen werden kann, und starb wenig später (1998).

Differenz von System und Umwelt statt Differenz von Teil und Ganzem

Verbreitete Vorstellungen von Systemen betreffen Einzelteile, die zu einem Ganzen verbunden werden oder sich selbst zu einem Ganzen verbinden. Eine Gesellschaft besteht demnach aus einzelnen Menschen und ihren Beziehungen. Diese Vorstellungen stammen teilweise aus der Antike. Gesellschaftliche Prozesse wie die Entstehung oder Organisation wurden mit sozialen oder göttlichen Mächten erklärt.[2]

An die zentralen soziologischen Fragen der Entstehung und Organisation von Gesellschaften geht die soziologische Systemtheorie grundsätzlich anders heran. Auf höchster Abstraktionsstufe geht Luhmann von einem Geschehen aus, das sich auf sich selbst bezieht (in Luhmanns Worten: Operationen, die aneinander anschließen). Durch diesen Selbstbezug entsteht eine Grenze. Mit der Bildung dieser Grenze durch Operationen entstehen System und (systemspezifische) Umwelt gleichermaßen. Diese Differenz System/Umwelt liegt der gesamten Systemtheorie zugrunde.

Luhmanns (Negativ-)Definition lautet wie folgt: "Von System im allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde. Zuweilen wird auch die Einheit der Gesamtheit solcher Merkmale als System bezeichnet" [3].

Abgrenzung vom Handeln als zentralem Begriff

Handeln im allgemein verstandenen Sinn (soziologische Handlungstheorie) ist kein zentraler Begriff der Systemtheorie. Menschen werden als Umwelt sozialer Systeme angesehen.[4] Dass handelnde Menschen beobachtet werden, wird von der Systemtheorie keinesfalls ausgeschlossen, jedoch anders erklärt: als Resultate der spezifischen Operationen von Systemen. Das heißt: „Menschen“ und „Handlungen“ kommen zwar auf der Ebene der Beobachtungen vor, nicht aber auf der Ebene der Begriffe und Erklärungen; sie sind keine Elemente der Theorie, mit der Luhmann die Gesellschaft erklärt. Das Gleiche gilt für Kommunikation als Begriff der Systemtheorie. „Kommunikation als soziales Handeln“ wäre eine Beobachtung, die innerhalb von Systemen geschieht. Als solche wäre sie kein Element der Erklärung in der soziologischen Systemtheorie.[5]

Erkenntnistheoretische Voraussetzungen

Luhmann schließt sich den zu seiner Zeit besonders diskutierten Grundannahmen der konstruktivistischen Denkweise an. Wirklichkeit wird darin als Resultat eines Konstruktionsprozesses angesehen, der voll und ganz auf die eigenen Bedingungen des Erkennens zurückgeführt wird und nicht auf die Bedingungen einer erkenntnisunabhängigen „Realität“. Erkenntnisprozesse werden angestoßen, aber sie stehen auch dann unter eigenen, z. B. körperlichen Bedingungen. Auch die Unterscheidung, ob dieser Anstoß von „innen“ oder „außen“ kommt, wird nachträglich gemacht und steht wie alles andere auch unter den eigenen Bedingungen. Eine vom Erkenntnisprozess unabhängige „Realität“, von der alle Erkenntnis ausgelöst wird und auf die alle Erkenntnis gerichtet sei, wird im Konstruktivismus nicht als Bestandteil von Erklärungen und Theorien verwendet. Statt dessen wird dem Begriff des Beobachters, der seine Wirklichkeiten konstruiert, eine besondere Bedeutung beigemessen.

Luhmann bedient sich indes einer erkenntnistheoretischen Setzung, indem er sagt, „dass es Systeme gibt“.[6] Diese Setzung kann als ontologisch aufgefasst werden, also als Behauptung eines erkenntnisunabhängigen Fixpunkts, auf den Luhmann seine Theorie bezieht. Die Annahme, dass für den Beobachter keine erkenntnisunabhängige Wirklichkeit vorhanden sei, fußt demnach bei Luhmann auf einer Aussage, mit der Erkenntnisunabhängiges behauptet wird: „Es gibt Systeme“.

Autopoiesis

Eine weitere wesentliche Voraussetzung ist die Übernahme des Konzepts der Autopoiesis von den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Autopoiesis heißt übersetzt „Selbstherstellung“. Maturana und Varela bezogen dies auf organische Prozesse und meinten damit, dass Systeme sich mit Hilfe ihrer eigenen Elemente selbst herstellen. Lebewesen sind die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Für den Beobachter ereignet sich Leben von selbst, ohne dass ein äußerer herstellender Prozess eingreift.

Luhmann überträgt dieses Konzept auf Systeme, die er als „sinnkonstituierende Systeme“ beschreibt; das umfasst psychische und soziale Systeme. Das heißt: Auch psychische Systeme (synonym: Bewusstseine) und soziale Systeme reproduzieren sich selbst mit Hilfe ihrer systemeigenen Operationen.

Geschlossenheit der Operationen

Luhmann versteht unter Operation die Reproduktion eines Elements eines autopoietischen Systems mit Hilfe der Elemente desselben Systems.[7] Ein System entsteht und erhält sich dadurch, dass Operationen aneinander anschließen.[8] Wenn organische Prozesse als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein organisches System. Wenn Gedanken als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein psychisches System (auch: „Bewusstseinssystem“). Wenn Kommunikationen als Operationen aneinander anschließen, entsteht ein soziales System (auch: „Kommunikationssystem“).

Ein System besteht so lange, wie Operationen jeweils nächste gleichartige Operation ermöglichen. Operationen müssen anschlussfähig sein. Wie eine Operation abläuft, hängt von der jeweils vorangegangenen Operation ab. Deshalb werden diese Systeme als operational geschlossen aufgefasst. So schließt z.B. im psychischen System stets Bewusstsein an Bewusstsein an: Bewusstsein ist der Operationsmodus psychischer Systeme. Systemfremde Operationen wie Kommunikationen können daran nicht anschließen. Entsprechend können Bewusstseinsinhalte auch nicht an organische Operationen angeschlossen werden oder umgekehrt. „So wenig wie ein Organismus jenseits seiner Haut weiterleben…“ oder „ein Auge Nervenkontakt mit dem, was es sieht, herstellen kann", so wenig kann „ein psychisches System sein Bewußtsein operativ in die Welt hinein verlängern“[9]. Dieser Ausschluss gilt sogar für die Umwelt des eigenen Körpers. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass jedes dieser Systeme unabhängig voneinander existieren könnte. „Selbstreferentielle Geschlossenheit ist (…) nur in einer Umwelt, ist nur unter ökologischen Bedingungen möglich.“[10] Aufgabe der Systemtheorie ist es also, zu erklären wie es möglich ist, dass alle diese Systemtypen trotz irreduzibler Geschlossenheit zusammenhängen und in Kontakt stehen.

Abstraktionsniveau

Mit einer alltäglichen Vorstellung von handelnden Menschen, die durch ihre Beziehungen Systeme bilden, ist kein Zugang zur Systemtheorie Luhmanns zu finden. Es entstehen sofort unauflösbare Widersprüche der Sätze Luhmanns zu den allgemein verstandenen Auffassungen. Eine Annäherung kann dagegen gelingen, wenn die Ebene der Begriffe und Erklärungen (theoretische Ebene) und die Ebenen der Beobachtung (Empirie) auseinander gehalten werden. Dazu gehört, die Sätze Luhmanns nicht sofort auf alltägliche Erfahrungen zu beziehen und sich zunächst auch auf das höchst abstrakte Niveau der Begriffe einzulassen.

Soziale Systeme

Luhmann erläuterte das, was er unter sozialen Systemen versteht, einmal mit den folgenden Worten:

„Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.“[11]

Kommunikation als Operation sozialer Systeme

Der Kommunikationsbegriff bei Luhmann beruht auf der These der operationalen Geschlossenheit der Systeme in Bezug auf die systemeigenen Operationen bei gleichzeitiger informationeller Offenheit gegenüber ihrer Umwelt. Die Operationen der psychischen Systeme – das wären die Gedanken der Bewusstseine – können das eigene System niemals verlassen. Folglich können sie nicht in die Kommunikation eingehen und zu einem „Bestandteil“ des Kommunikationsprozesses werden. Nur über strukturelle Kopplungen können z.B. Kommunikationen indirekt über die Umwelt „angestoßen“ werden. Das heißt, dass weder eine „direkte Übertragung“ von Gedanken möglich ist (zum Beispiel ins Bewusstsein eines Gesprächspartner), noch eine „direkte Einflussnahme“ auf den Verlauf des kommunikativen Geschehens. Der daraus resultierende Kommunikationsbegriff weicht von klassischen Theorien wie dem Sender-Empfänger-Modell deutlich ab, wobei er teils zu vergleichbaren Ergebnissen kommt (z.B. „gedacht ist nicht gesagt, gesagt ist nicht gehört, (...)“). Er widerspricht dem von vielen Menschen zu Grunde gelegtem intuitiven Alltagsverständnis von Kommunikation, nach dem man selbst (also das Bewusstsein) „derjenige“ sei, der kommuniziere.

Die Annahme operativer Geschlossenheit macht es notwendig, bei Kommunikation von einem völlig von Bewusstseinsoperationen verschiedenen Ereignistyp auszugehen. Da sie aber als ebenfalls systemisches Geschehen erkannt und beschrieben werden kann, muss ihr auch eine radikale Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit gegenüber den Vorgängen im Bewusstsein zugeschrieben werden. Diese These wird in der Aussage Luhmanns deutlich: „Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.“[12]

Diese Unterscheidung zwischen psychischer (bewusster) und sozialer (kommunikativer) Realität kann als Versuch verstanden werden, radikal konstruktivistische Ansätze ebenso wie den Subjektivismus der Phänomenologie Husserls mit der Beobachtung von Sozialität zu vereinbaren. Beide Denkrichtungen beschreiben das Bewusstsein als geschlossen und müssen in der Folge erklären, auf welche Weise geschlossene Bewusstseine in Kontakt zueinander stehen. Die Erklärung von Sozialität wird bei Luhmann durch die Begriffe der Emergenz und der Ausarbeitung des Kommunikationsbegriffs ermöglicht.

Kommunikationsmedien

Die Systemtheorie Luhmanns sucht nach Erklärungen für die Beobachtung, dass trotz dieser Bedingungen, welche die Kommunikation zunächst sehr unwahrscheinlich machen, Kommunikation trotzdem stattfindet. Schrift etwa kann als Medium verstanden werden, das Kommunikation wahrscheinlicher macht. Aber auch körperliche Anwesenheit hilft dem Stattfinden, weil man hier den „Selektionsofferten“ des Mitteilenden praktisch nicht aus dem Weg gehen kann (man kann nicht nicht kommunizieren).

Wahrscheinlicher wird soziales Geschehen aber auch dadurch, dass das Zustandekommen von Kommunikation auf weniger komplexe Grundlagen gestellt wird. So verläuft gesellschaftlich relevante Kommunikation nach Luhmann typischerweise über so genannte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Recht, Liebe, Kunst oder Wahrheit.[13] Sie vereinfachen Kommunikation dadurch, dass sie diese ihrem jeweiligen Schematismus unterstellen (z.B. wahr/falsch recht/unrecht, zahlen/nicht-zahlen, lieben/nicht-lieben usw). Sie machen das Zustandekommen von Kommunikation deshalb wahrscheinlicher (und die entsprechenden gesellschaftlichen Funktionssysteme erfolgreicher).

Ein systemspezifischer Code fungiert dabei als Leitunterscheidung aller systemspezifischen Kommunikationen und macht sie als systemzugehörig erkennbar. Im Wirtschaftssystem erhöht die Leitunterscheidung Zahlen/nicht Zahlen die Wahrscheinlichkeit, dass auf jede Zahlung eine neue erfolgt – dies wäre ein Beispiel für den Anschluss einer systemspezifischen Kommunikation an eine andere. (Kommunikation ist hier nicht als menschliche Handlung, gar als Sprachhandlung, anzusehen.) Dies funktioniert über das generalisierte Kommunikationsmedium Geld, das die letzte Zahlung mit der jetzigen verknüpft. Würde das Geld nicht mehr als Kommunikationsmedium akzeptiert, hätte das betreffende Wirtschaftssystem seine Anschlussfähigkeit verloren.

Soziale und psychische Systeme als sinnverarbeitende Systeme

Soziale Systeme sind sinnverarbeitende Systeme. „Sinn“ ist nach Luhmann für psychische und soziale Systeme ihre eigentliche, nicht reduzierbare und nicht transzendierbare Wirklichkeitsform. „Nicht alle Systeme verarbeiten Komplexität und Selbstreferenz in der Form von Sinn; aber für die, die dies tun, gibt es nur diese Möglichkeit. Für sie wird Sinn zur Weltform…“[14]. Luhmanns Sinnbegriff ist (mit einigen wesentlichen Unterschieden) stark an die Phänomenologie Edmund Husserls angelehnt.

Sinn kann verstanden werden als Bezeichnung für die Art und Weise, in der soziale und psychische Systeme Komplexität reduzieren. Die Grenze eines Systems zur Umwelt markiert somit ein Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System. In einem sozialen System entsteht durch die Reduktion von Komplexität im Vergleich zur Umwelt eine höhere Ordnung mit weniger Möglichkeiten (Emergenz). Durch die Reduktion von Komplexität vermitteln soziale Systeme zwischen der unbestimmten Weltkomplexität und der Komplexitätsverarbeitungskapazität psychischer Systeme.

Typen sozialer Systeme

Luhmann unterscheidet drei Typen sozialer Systeme:[15] Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften.

Funktionale Ausdifferenzierung

Jedes Gesellschaftssystem grenzt sich mit Hilfe eines zweiwertigen (binären) Codes von der Umwelt ab und hält auf diese Weise den Prozess der Selbstreproduktion aufrecht. Dies sind in der Wirtschaft: zahlen/nicht-zahlen; in der Politik: Macht/keine Macht; in der Religion: Immanenz/Transzendenz; im Rechtssystem: Recht/Unrecht; im Wissenschaftssystem: wahr/unwahr; in den (Massen-)Medien: Information/Nichtinformation u. a.

Kritik

Viele Beiträge der kritischen Diskussion beziehen sich auf die Abgrenzung vom Handeln als Begriff in einer soziologischen Systemtheorie. Dabei wird die Frage gestellt, was eine soziologische Theorie nützt, die keine Begriffe für handelnde Menschen bereitstellt. Luhmann und seine Befürworter sehen jedoch diesen Zugang ohne handelnde Menschen als das Neue und Weiterführende in der Theoriebildung über Gesellschaften an.

Die Verbindung von (theoretischer) Erklärung und den beobachteten Phänomenen ist ein weiterer Gegenstand der Kritik. Die Kritiker sehen in der universellen Anwendbarkeit den Grund für die Nutzlosigkeit der neuen systemtheoretischen Erklärungen für konkrete praktische Probleme. Luhmann und seine Befürworter sehen die umfassende Anwendbarkeit der neuen Systemtheorie als eine Stärke an. Demnach lässt sich mit Hilfe dieser Theorie tatsächlich alles erklären, was als gesellschaftlich bezeichnet werden kann.

Die Systemtheorie nach Luhmann ist auch aufgrund ihres hohen begrifflichen Abstraktionsniveaus umstritten. Sie stelle eher eine Begriffssammlung als ein Theoriegebäude dar: "Hinter der Fassade ungeheurer Schwierigkeit und einem komplizierten Räderwerk artistischer Begrifflichkeit steckt lediglich eine Handvoll simpler Sätze: Die Welt ist kompliziert, alles ist mit allem verbunden, der Mensch erträgt nur ein begrenztes Maß an Kompliziertheit".[16] Dabei bestehe weder eine präzise und allgemein akzeptierte Definition des funktionalistischen Systembegriffs, noch gebe es über die Lösung der vier Problembereiche gemäß AGIL-Schema bei Parsons hinaus explizite Hypothesen.

Dadurch, dass der Anspruch der Systemtheorie lediglich darin bestehe, funktional-strukturelle Beschreibungen zu liefern, folge auch ihr Selbstverständnis als nicht 'kritische', bzw. nicht am Ideal des Humanismus ausgerichtete Theorie. Bekannt ist in diesem Zusammenhang Luhmanns Kontroverse mit Jürgen Habermas.

Außerdem wird der Systemtheorie eine versteckte Teleologie zum Vorwurf gemacht: Indem die Zielorientierung eines Subsystems zur Erhaltung des gesamten Systems als positive Funktion gewertet wird, geschieht eine versteckte Wertung und eine Legitimation des gesellschaftlichen Status quo. Bereits Robert K. Merton hatte von latenten (verborgenen) und manifesten (expliziten) Funktionen eines Systems gesprochen und somit die funktionale Einheit eines Systems zurückgewiesen.

Da Systeme jeweils nach eigenen Gesetzmäßigkeiten arbeiten, hält Luhmann Eingriffs- bzw. Steuerungsversuche eines Systems in ein anderes grundsätzlich für problematisch: Die Wirtschaft kann etwa von der Politik nur sehr bedingt gesteuert werden oder auch umgekehrt. Das Gesetz der Autopoiesis setzt laut Luhmann den Bemühungen einer rationalen, ethischen, gerechten Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse enge Grenzen – daher gilt Luhmann etwa im Vergleich zu Jürgen Habermas oder Ulrich Beck als politisch konservativ.

Diese Einschätzung ist jedoch ihrerseits als oberflächlich kritisiert worden, da beispielsweise zentrale Begriffe (neo-)konservativer Politik wie "Organismus", "Nation" und "Leitkultur" in Luhmanns Systemtheorie als beobachterabhängige Konstruktionen behandelt werden, und nicht etwa als gegebene oder gar erstrebenswerte Zustände. Karl-Siegbert Rehberg sieht Luhmann als Theoretiker der Enthierarchisierung und Dezentralisierung. So sei nach Karl Mannheims Unterscheidung von konservativ und traditionalistisch Luhmann bestenfalls als traditionalistisch einzuordnen. Luhmann war "kein Konservativer, kein Anti-Aufklärer, erst recht nicht reaktionär - denn die handelnde Wiederherstellung von Vergangenheiten ist vielleicht noch lächerlicher als die handelnde Vorwegnahme möglicher Zukünfte. Aber ein großer Autor der Stabilisierung (durch Veränderung) war er eben doch", so Rehberg.[17][18]

Weiterentwicklung

Luhmanns Systemtheorie wird vor allem in Deutschland und Italien rezipiert. An der Weiterentwicklung der soziologischen Systemtheorie arbeiten in Deutschland vor allem die Soziologie-Professoren und Schüler Luhmanns Rudolf Stichweh, Peter Fuchs, Dirk Baecker, Elena Esposito, Armin Nassehi, Helmut Willke und André Kieserling.

Weiterführende Artikel

Literatur

chronologisch

Primärliteratur

  • Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984, neue Auflage 2001, ISBN 3518282662.
  • Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde., Frankfurt 1997, ISBN 351858247X.
  • Niklas Luhmann; Kieserling, André (Hrsg.) [~1969] 2010. Politische Soziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, ISBN 978-3-518-58541-2
  • Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien. 3. Auflage 2004, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 1996.

Sekundärliteratur

Einführungen

  • Helmut Willke: Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme. 4.überarb. Aufl. Stuttgart, 1993.
  • Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU, Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/Main 1999.
  • Detlef Krause: Luhmann-Lexikon, Stuttgart 2001.
  • Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung. 4. Auflage. Junius, Hamburg 2001, ISBN 3-88506-305-0 (Zur Einführung, Bd. 205).
  • Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Köln/Weimar/Wien 2003.
  • Christian Schuldt: Systemtheorie. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003 (2. Aufl. 2006).
  • Niklas Luhmann, Dirk Baecker: Einführung in die Systemtheorie. 2004 ISBN 3896704591.
  • Georg Kneer, Armin Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung. 1993 (4. Aufl. 2004), ISBN 3825217515.
  • Michael Gerth, Luhmann für Einsteiger. Multimediale Einführung in die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Software [1], 2005.

Kritische Diskussion

  • Hans Haferkamp, Michael Schmid (Hrsg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt am Main 1987.
  • Peter-Ulrich Merz-Benz, Gerhard Wagner (Hrsg.): Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns. Konstanz 2000.
  • Alex Demirovic (Hrsg.): Komplexität und Emanzipation. Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Münster 2001.
  • Hans-Joachim Giegel, Uwe Schimank (Hrsg.): Beobachter der Moderne – Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Frankfurt am Main 2003.
  • Dirk Martin: Überkomplexe Gesellschaft. Eine Kritik der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Münster 2009.

Sonstiges

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vorwort zu seinem letzten Werk: Die Gesellschaft der Gesellschaft (Luhmann 1998, S. 11; Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1360).
  2. Vgl. Soziale Systeme, 1984, S. 20 f.
  3. Vgl. Soziale Systeme, 1984, S. 15
  4. Soziale Systeme, 1984, S.325
  5. Soziale Systeme, 1984, Kapitel 4: „Kommunikation und Handlung“, S. 191-241; zusammenfassend auf S. 241: „Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution [sozialer Systeme], Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme.“
  6. Soziale Systeme, 1984, S. 30
  7. Soziale Systeme (1984), S. 79; Claudio Baraldi; Giancarlo Corsi; Elena Esposito: GLU : Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt am Main 1999, S. 123 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1226).
  8. Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992, S. 271 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1001)
  9. Soziale Systeme, 1984, S. 556
  10. Soziale Systeme, 1984, S. 25
  11. Luhmann, Ökologische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1. Auflage 1986. ISBN 3-531-11775-0, 1986, S. 269.
  12. Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1990, Seite 31.
  13. Vgl. u.a. Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: ders., Aufsätze und Reden, Reclam, Stuttgart 2001, S. 31-75. In „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ legt Luhmann die am weitesten ausgearbeitete Theorie der Kommunikationsmedien vor.
  14. Soziale Systeme, 1984, S. 95
  15. Soziale Systeme, 1987, S. 16
  16. Dirk Käsler, zitiert in Kunczik/Zipfel, Publizistik - ein Studienbuch, 2005, S. 84
  17. Karl-Siegbert Rehberg: Konservatismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luhmann. In: Runkel, Gunter; Günter Burkart (Hrsg.): Funktionssysteme der Gesellschaft : Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann. Wiesbaden : VS, 2005, S. 285-309
  18. Dirk Käsler, zitiert in Kunczik/Zipfel, Publizistik - ein Studienbuch, 2005, S. 84

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