Strukturwandel der Öffentlichkeit

Strukturwandel der Öffentlichkeit

Strukturwandel der Öffentlichkeit ist der Titel der 1962 erschienenen politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift von Jürgen Habermas, die den Untertitel Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft trägt. Mit dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit bezeichnet Habermas wie die an ihn anschließende sozialwissenschaftliche Diskussion einen umfassenden gesellschaftlichen Prozess, an dem Massenmedien und Politik sowie Bürokratie und Wirtschaft beteiligt waren, und der die Entstehung der modernen Massengesellschaft prägte.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Habermas habilitierte sich 1961 in Marburg bei Wolfgang Abendroth, nachdem er 1959 das Frankfurter Institut für Sozialforschung nach Konflikten mit dem ursprünglich als Betreuer der Habilitation vorgesehenen Max Horkheimer verlassen hatte. Das daraufhin Abendroth gewidmete Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit (künftig, sofern das Buch gemeint ist: SdÖ) wurde seit seiner Erstveröffentlichung vielfach wieder aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Jürgen Habermas entwirft darin eine Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der bürgerlichen Öffentlichkeit, die trotz ihrer historisch-empirischen Schwächen einen einflussreichen Beitrag zu verschiedenen Bereichen kritischer Kulturtheorie leistet: Über das Verständnis der Funktion der Öffentlichkeit möchte Habermas nichts weniger als die (damals wie heute) gegenwärtige Gesellschaft über eine ihrer zentralen Kategorien in den Griff bekommen und letztlich in aufklärerisch-rationaler Weise demokratisieren. Daneben lässt das Werk als Vorarbeit seiner späteren Untersuchungen bereits die Grundlinien erkennen, in denen Habermas seit den 1970er Jahren die nach eigenem Anspruch normativ gehaltvolle, empirisch angemessene und theoretisch einflussreiche Diskurstheorie entfaltet (vgl. SdÖ, §25). Dabei spielt neben dem Status der Schrift SdÖ in Habermas’ Gesamtwerk der Einfluss der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule eine besondere Rolle, der in SdÖ inhaltlich wie sprachlich deutlich wird und von Habermas bereits hier produktiv umgewandelt werden kann.

Zunächst folgt ein Überblick über Habermas’ Darstellung der theoretischen und empirischen Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit als Prinzip und Institution im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft. Anschließend wird ein Blick auf die soziale Grundlage bürgerlicher Öffentlichkeit und ihre politische Wirkung zu werfen sein, außerdem auf den normativen Charakter von Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff, auf den Anschluss an die Kritische Theorie und auf den Zusammenhang mit Habermas’ Gesamtwerk. Schließlich ist noch auf Ursachen und Formen des Strukturwandels der Öffentlichkeit einzugehen sowie auf Habermas’ damalige und neuere Lösungsansätze dieser gesellschaftlichen Entwicklungsproblematik.

Vorgeschichte der bürgerlichen Öffentlichkeit

Die bürgerliche Öffentlichkeit entwickelte sich nach Habermas in der Frühen Neuzeit aus der feudalistischen Form repräsentativer Öffentlichkeit. Als öffentlich versteht Habermas jene Sachverhalte, die alle angehen und daher gesellschaftlich zu regeln sind, im Gegensatz zum privaten Bereich individueller Willkür, der dem staatlichen bzw. gesellschaftlichen Zugriff entzogen ist. Das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem ist ebenso ein Schlüsselelement in Habermas’ Theorie wie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft sowie das Verhältnis zwischen monarchischer und demokratischer Repräsentation.

Öffentliches und Privates

Habermas’ Erläuterung von Öffentlichem und Privatem setzt in der griechischen Antike ein, als der private Bereich der Hauswirtschaft (oikos) unterschieden wurde vom öffentlichen Bereich der stadtstaatlichen Politik (polis). In der Renaissance wurde diese Vorstellung wieder aufgegriffen und ist nach Habermas bis heute einflussreich. Anders als in der Antike entfaltete sich das neuzeitliche Verständnis von „privat“ und „öffentlich“ jedoch nicht vor dem Hintergrund der Polis-Demokratie, sondern mit den Vorzeichen der Monarchie, so dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts der öffentlichen Gewalt des Monarchen die private Autonomie des Untertans als Freiheitssphäre entgegengesetzt wurde (SdÖ, §1). Waren im altgriechischen Vorbild Staat und Gesellschaft (der Vollbürger) noch wesentlich identisch, wurden sie in der europäischen Neuzeit einander gegenübergestellt (SdÖ, §3).

Staat und Gesellschaft

Vor dem Zugriff des absolutistischen Staates versuchte sich das aufkommende Bürgertum durch die Eroberung einer privaten Freiheitssphäre zu schützen, die sich in der Erklärung der Menschenrechte als individueller Abwehrrechte gegen den Staat manifestierte. Die entstehende städtische Schicht der Bürger formierte sich seit dem 16. Jahrhundert langsam zu einem Publikum, das sich einhergehend mit seinem wirtschaftlichen Aufstieg mehr und mehr als Gegenüber des Staates betrachtete. Der „öffentlichen Gewalt“ des Staates stellte die bürgerliche Gesellschaft die eigene „öffentliche Meinung“ entgegen, die den Anspruch erhob, Legitimationsgrundlage staatlichen Handelns zu sein (SdÖ, §3). Die erfolgreiche Durchsetzung dieses Anspruchs beruhte auf dem Wandel des Repräsentationsverständnisses.

Monarchische und demokratische Repräsentation

Der Bedeutungswandel des Repräsentationsbegriffs kann noch heute verdeutlicht werden anhand der unterschiedlichen Bedeutung von „repräsentativ“ in den Wendungen „repräsentative Residenz“ und „repräsentative Demokratie“. Während in der klassischen Monarchie der Herrscher eine höhere Gewalt vor dem Volk repräsentierte (also darstellte, verkörperte), was sich besonders in der Idee des Gottesgnadentums königlicher Herrschaft ausdrückte, entwickelte sich etwa seit dem Merkantilismus durch die permanente staatliche Tätigkeit (Verwaltung, stehendes Heer) die Vorstellung, der Herrscher habe das Volk zu repräsentieren (also zu vertreten, zu verkörpern), so dass dessen Prosperität – die Grundlage der herrschaftlichen Macht – maximiert werde (SdÖ, §2).

Für Habermas wandelte sich dabei die „repräsentative Öffentlichkeit“, die sich in der prunkvollen Hofhaltung manifestierte, in eine „bürgerliche Öffentlichkeit“, die eine neue Form von Publizität entwickelte: Die Drucktechnik ermöglichte die zunehmende Verbreitung einer regelmäßigen Presse, die einerseits in politischen und wirtschaftlichen Nachrichten über die aktuellen Ereignisse im nationalstaatlich geprägten Horizont der aufkommenden Bürgergesellschaft informierte (z. B. Befehle und Verordnungen), andererseits vermischte Neuigkeiten wie „Wunderkuren und Wolkenbrüche“ berichtete, und schließlich Raum für die Kritik des räsonierenden Publikums bot (SdÖ, §3), durch die bald der Anspruch erhoben wurde, der Probierstein der erfolgreichen Repräsentation des Volkes durch die Obrigkeit zu sein (SdÖ, §4). Die Legitimität der Herrschaft wurde so nach und nach an die Zustimmung der öffentlichen Meinung gebunden, so dass die Legitimität staatlicher Gewalt von einer Instanz abhängig wurde, die nicht ihrer eigenen Verfügungsmacht unterlag.

Soziale Grundlage bürgerlicher Öffentlichkeit

Habermas beschreibt die gesellschaftlichen Schichten, aus denen das zu einer kritischen Öffentlichkeit versammelte Publikum entsprang, als geprägt von den Faktoren des Privateigentums (SdÖ, §4), der bürgerlich-patriarchalischen Kleinfamilie (SdÖ, §6) und der neuzeitlichen literarischen Kultur (SdÖ, §7).

Privateigentum

Die ökonomische Rolle des Bürgertums in den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise bestimmte auch die von ihm konstituierte Öffentlichkeit. Handels- und Finanzkapital sowie Manufaktur- und beginnendes Industriekapital prägten die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit gemeinsam mit den bildungsbürgerlichen Schichten der Beamten, Akademiker und Offiziere. Diese „Bourgeoisie“ war es, die einerseits durch die öffentliche Kritik einen vom Staat nicht beeinträchtigten Bereich des freien Warenverkehrs durchsetzen, andererseits staatliche Garantien etwa für wirtschaftliche Großunternehmen einfordern wollte. Auch die mit der Industrialisierung einhergehenden Konflikte zwischen den bürgerlichen Gruppen wurden in der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgetragen, um sie einer staatlich gestützten Lösung zuzuführen.

Entscheidend für die Formierung bürgerlicher Öffentlichkeit war, dass als Privatmann nur Teil des Publikums sein konnte, wer auch als Privateigentümer ökonomisch unabhängig war und eine entsprechende Bildung genossen hatte.

Bürgerliche Familie

Als solcher Privatmann und Privateigentümer kam im Rahmen der bürgerlichen Familienstruktur nur der Familienvater (pater familias) in Frage. Die Bedeutung der anderen Familienmitglieder richtete sich an ihrer Bedeutung für den Patriarchen aus, oder an ihrer Aussicht, in der Zukunft (durch Weitergabe des Familienvermögens) in diese Position aufzurücken. Zu differenzieren ist hier zwischen den englischen Kaffeehäusern (→Café#Geschichte), die sozial etwas breiter, dafür aber rein männlich dominiert waren, und den französischen Salons (→Literarischer Salon), in denen die Damen der obersten Schichten (Adel, Großbürgertum, Intelligenz) eine wichtige Rolle spielten. Die Zugangsbedingungen zu diesen neben der deutschen Tischgesellschaft klassischen Orten bürgerlicher Diskussion (SdÖ, §5) wurden in der Privatheit der bürgerlichen Familie hergestellt: Die Entdeckung von Subjektivität und individueller Autonomie sowie die Heranbildung einer kulturellen Literarizität fanden in der kleinfamilialen Privatsphäre statt, die durch die Ausdehnung des Privaten auf den Warentausch zu einer Intimsphäre komprimiert wurde.

Literarische Öffentlichkeit

Gegen Habermas’ Theorie des Vorausgehens einer literarischen vor der politischen Öffentlichkeit wird eingewandt (z. B. Böning 2008), dass Zeitungen von Anfang an politische Berichterstattung leisteten. Die Kritik ist, wie viele andere empirisch-historische Kritik an SdÖ prinzipiell berechtigt, zumal Habermas die literarische Öffentlichkeit zwar ausführlich, aber etwas undeutlich behandelt: Er berichtet von der Lektüre psychologischer Romane (als Paradebeispiel Pamela von Samuel Richardson) und der Diskussion darüber, die sich bald vom Salon in die Presse ausdehnte, da jener zu eng geworden war, und von der daraus erwachsenden Kulturkritik als zuerst vorhandener Infrastruktur, die zur politischen Kritik benutzt werden konnte.

Die Einwände gegen Habermas’ Theorie der literarischen Öffentlichkeit als Grundlage der politischen Öffentlichkeit können beantwortet werden mit den beiden Hinweisen, dass (1.) die früheste politische Presse (gerade unter den Bedingungen der Zensur) zwar eine Berichterstattung leisten konnte, nicht aber eine unbeeinträchtigte politische Kritik. Gleichwohl ist diese politische Information als Voraussetzung späterer politischer Kritik zu betrachten. Auf kulturellem Gebiet war jedoch (gerade unter den Bedingungen des Wandels der Kultur zur Warenform) solche Kritik früher möglich und diente auf diese Weise zum Einüben des „kritischen Geschäfts“, dass in der Folge auf die Politik übertragen werden konnte. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass (2.) Habermas’ Begriff einer literarischen Öffentlichkeit nicht lediglich eine Öffentlichkeit meint, die (schöne) Literatur thematisiert, sondern eine Öffentlichkeit, die (a) anhand von Belletristik individuell und kollektiv geschult ist, das Urteilen eingeübt hat, und die (b) literarisch ist im Gegensatz zu subliterarischen und postliterarischen Öffentlichkeiten (SdÖ §25), in denen Habermas’ Anforderungen an einen rationalitätsfunktionalen öffentlichen Diskurs nicht erfüllt werden können.

Normativer Begriff der Öffentlichkeit

Hieran zeigt sich auch der normative Charakter des Öffentlichkeitsbegriffs bei Habermas, der nämlich bereits andeutet, was Habermas in den folgenden Jahrzehnten als Diskurstheorie entwickeln sollte: Die Explikation der Bedingungen der Möglichkeit einer rationalen gesellschaftlichen Organisation ist der rote Faden, der sich durch Habermas’ Gesamtwerk zieht. Dabei beruft er sich auf die reflexiv gewordene Vernunft, die Hauptforderung der (von Habermas positiv gewendeten) Dialektik der Aufklärung, die aber ihre traditionelle Zentrierung im Subjekt verliert und in den intersubjektiven Bereich der menschlichen Kommunikation verlagert wird:

In seinem Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns entwirft Habermas eine Diskurstheorie, die unter Berufung auf Kant die drei Vernunftformen der theoretischen, praktischen und ästhetischen Vernunft umfasst und deren Realisierung (getrennt und als Einheit) in Form von Diskursen anstrebt. Die Diskurstheorie, derzufolge eine Behauptung darauf referiert, dass (unter Bedingungen einer idealen Kommunikationsgemeinschaft) der Geltungsanspruch der Aussage jederzeit und überall in einen Konsens überführt werden könnte, sei unter realen Bedingungen nur durch begründete Konsense substituierbar, so Habermas (→Konsenstheorie der Wahrheit).

Bürgerliche Öffentlichkeit, deren „Idee und Ideologie“ Habermas unter Verweis auf Kant (SdÖ, §13), Hegel und Marx (SdÖ, §14), J. S. Mill und Tocqueville (SdÖ, §15) analysiert, beansprucht nach Habermas Wahrheit (theoretische Vernunft), Richtigkeit (praktische Vernunft) und Wahrhaftigkeit (ästhetische Vernunft) (→Konsensustheorie der Wahrheit (Habermas)). Im Prinzip könne sie diesen Anspruch auch einlösen, da sie herrschaftsfrei, gleich und allgemein gedacht sei, nur den zwanglosen Zwang des besseren Arguments einsetze und keine Bereiche als unhinterfragbar ausschließe. Aber – und hierin liegt sowohl die Chance der bürgerlichen Öffentlichkeit, als auch der Keim ihres Zerfalls: Was alle angeht, darüber müssen auch alle beraten können. Der allgemeine Zugang zur bürgerlichen Öffentlichkeit ist ihr notwendiges Postulat – und doch ihr bloß ideologischer Bestandteil: Durch die Zugangskriterien des Privateigentums und der Bildung waren die weitaus meisten Menschen vom öffentlichen Räsonnement (der vernünftigen Diskussion in Kaffeehäusern, Salons, Zeitungen und Zeitschriften) ausgeschlossen. Die bürgerliche Öffentlichkeit war dadurch nicht nur unvollständig, sondern „vielmehr gar keine Öffentlichkeit.“ (SdÖ, §11)

Dialektik der Öffentlichkeit

Entfaltung von bürgerlicher Demokratie und kapitalistischer Wirtschaft konnte mit Hilfe der bürgerlichen Öffentlichkeit gelingen, die Überwindung des „Klassencharakters“ ihrer Herrschafts- und Wirtschaftsform jedoch naturgemäß nicht. Die Verfassungskodifikationen schützten die Bedingungen der bürgerlichen Öffentlichkeit (z. B. Pressefreiheit), aber auch die Bedingungen ihrer Abgrenzung gegenüber dem „vierten Stand“ (Schutz des Privateigentums).

Doch durch den rational-normativen Gehalt der Allgemeinheit als notwendiger Bedingung von Öffentlichkeit überhaupt strebte die bürgerliche Öffentlichkeit über sich selbst hinaus. Die Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen Basis durch Arbeiterbewegung, Verallgemeinerung des Wahlrechts und erste sozialstaatliche Ansätze führte zur Schwächung der kritischen Kraft und letztlich zur unwiederbringlichen Auflösung bürgerlicher Öffentlichkeit.

Strukturwandel der Öffentlichkeit

Die oben ausgeführte Trennung von Staat und Gesellschaft, Öffentlichem und Privatem, war die Grundlage bürgerlicher Öffentlichkeit. Nachdem diese ihren höchsten Entwicklungsstand vielleicht einhundert Jahre lang bis ins späte 19. Jahrhundert erlebt hatte (SdÖ, §16), begann ihre Auflösung mit dem Verwischen der genannten Trennungen. Der niemals ganz erreichte Äquivalententausch nach liberalem Modell wurde zunehmend unglaubwürdiger, je mehr die Konzentration von Kapital und gesellschaftlicher Macht in einzelnen Händen die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit kleiner Wareneigentümer ad absurdum führte. Die notwendige Entwicklung zur „sozialstaatlich verfassten Industriegesellschaft“ (SdÖ, §16) vermischte Staat und Gesellschaft, Öffentliches und Privates, und führte zur Entstehung einer „Zwischensphäre“: Während der familiäre Freizeit-Bereich immer privater wurde, rückte die Arbeitswelt in eine Zwischenposition zwischen privatem und öffentlichem Bereich, was mit einem Funktionsverlust der bürgerlichen Familie einherging (SdÖ, §17).

Auf diesen folgte notwendig der Zerfall der darauf aufbauenden „literarischen Öffentlichkeit“ im Aufstieg der Kulturindustrie und dem Niedergang des allgemeinen Räsonnements über kulturelle Themen. Die Massenmedien konnten nur eine Scheinöffentlichkeit erzeugen, da ihre Kommunikation fast ausschließlich in nur eine Richtung verläuft, das Publikum tendenziell verstummt (SdÖ, §18). Die Auflösung von kritischer Publizität in manipulative Werbung ließ selbst die formal demokratisierte Politik verkümmern. Sie führte zur bloßen Inszenierung von Öffentlichkeit und zu ihrer Refeudalisierung: Die monarchische Repräsentation kehrte zurück, diesmal in Form von Public Relations mehr oder weniger privater Personen und Verbände, die ihre privaten Interessen als allgemeine darstellen wollen (SdÖ, §20f.).

Lösungen

Habermas’ ursprünglicher Impuls war die Demokratisierung und Umgestaltung der halböffentlich gewordenen gesellschaftlichen Großorganisationen, die (1.) funktionsfähige interne Öffentlichkeiten und (2.) untereinander eine funktionsfähige Gesamtöffentlichkeit bilden sollten. Letztere Konzeption ist abgelegt, die Demokratisierung auch der anderen gesellschaftlichen Subsysteme neben der Politik hingegen nicht (Brunkhorst 2006). Wichtig ist – und bei ihm auch später immer wieder zu beobachten –, dass Habermas nicht dem Kurzschluss verfiel, die sozialstaatliche Entwicklung, die mit dem Zerfall der „idealen“ Öffentlichkeit einherging, für diese verantwortlich zu erklären und ihre Rücknahme zu fordern. Vielmehr zielt er in SdÖ wie in seiner Diskurstheorie des Rechts Faktizität und Geltung 1992 auf eine konsequente Umsetzung der Erfordernisse des Sozialstaats als eines „Faktum der [sozialen] Evolution“ (Brunkhorst 2004): Zu den Menschen- und Bürgerrechten müssen die Rechte sozialer Teilhabe und politischer Teilnahme hinzutreten, um das „System der Rechte“ (Faktizität und Geltung) zu vervollständigen (SdÖ, §23).

Gegen die entpolitisierte Öffentlichkeit der paternalistischen Adenauer-Ära (Brunkhorst 2006) wandte sich Habermas implizit in SdÖ. Die 68er-Bewegung forderte auch im Anschluss an Habermas eine Repolitisierung der Öffentlichkeit und eine öffentliche Diskussion über alle öffentlichen (also politischen) Angelegenheiten. Darüber hinaus präsentiert sich Habermas’ Theorie der Öffentlichkeit weiter als ein normativer Ansatz, der die von der älteren Generation der Frankfurter Schule in ein unbestimmtes Jenseits verlegte Möglichkeit gesellschaftlicher Verbesserungen wieder als reale Chance begreift und die Negation von Herrschaft und Gewalt als Ergebnis einer rationalen gesellschaftlichen Organisation im Rahmen des demokratischen Rechtsstaats (Faktizität und Geltung) in Aussicht stellt.

Übersicht über die Gliederung von Strukturwandel der Öffentlichkeit

Vorwort
I Einleitung

§1: Die Ausgangsfrage
§2: Zum Typus repräsentativer Öffentlichkeit
§3: Zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit

II Soziale Strukturen der Öffentlichkeit

§4: Der Grundriß
§5: Institutionen der Öffentlichkeit
§6: Die bürgerliche Familie und die Institutionalisierung einer publikumsbezogenen Privatheit
§7: Die literarische im Verhältnis zur politischen Öffentlichkeit

III Politische Funktionen der Öffentlichkeit

§8: Der Modellfall der englischen Entwicklung
§9: Die kontinentalen Varianten
§10: Bürgerliche Gesellschaft als Sphäre privater Autonomie: Privatrecht und liberalisierter Markt
§11: Die widerspruchsvolle Institutionalisierung der Öffentlichkeit im bürgerlichen Rechtsstaat

IV Bürgerliche Öffentlichkeit – Idee und Ideologie

§12: Public opinion – opinion publique – öffentliche Meinung: zur Vorgeschichte des Topos
§13: Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant)
§14: Zur Dialektik der Öffentlichkeit (Hegel und Marx)
§15: Die ambivalente Auffassung der Öffentlichkeit in der Theorie des Liberalismus (John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville)

V Sozialer Strukturwandel der Öffentlichkeit

§16: Tendenzielle Verschränkung der öffentlichen Sphäre mit dem privaten Bereich
§17: Polarisierung von Sozial- und Intimsphäre
§18: Vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum
§19: Der verwischte Grundriß: Entwicklungslinien des Zerfalls bürgerlicher Öffentlichkeit

VI Politischer Funktionswandel der Öffentlichkeit

§20: Vom Journalismus schriftstellernder Privatleute zu den öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien – Werbung als Funktion der Öffentlichkeit
§21: Das umfunktionierte Prinzip der Publizität
§22: Hergestellte Öffentlichkeit und nichtöffentliche Meinung: das Wahlverhalten der Bevölkerung
§23: Die politische Öffentlichkeit im Prozeß der sozialstaatlichen Transformation des liberalen Rechtsstaates

VII Zum Begriff der Öffentlichen Meinung

§24: Öffentliche Meinung als staatsrechtliche Fiktion – und die sozialpsychologische Auflösung des Begriffs
§25: Ein soziologischer Versuch der Klärung

Rezeption

Herbert Gintis meinte, wer dieses Werk möge, würde Wurzelkanalbehandlungen lieben. Das Buch sei praktisch unlesbar, da Habermas sehr undeutlich schreibe. Zudem ergebe es größtenteils keinen Sinn und sei an den Sinn ergebenden Stellen falsch oder hoch kontrovers. Die Kernthese von Habermas sei, dass es in der Zeit der Aufklärung einen wirklichen öffentlichen Diskurs gegeben habe, während ein solcher seit der Moderne durch die Einmischung von Interessengruppen nicht mehr existiere. Gintis glaubt, dass die Fakten dem widersprechen: Im heutigen Informationszeitalter sei der Anteil gebildeter und sozialer Angelegenheiten bewusster Menschen größer als jemals zuvor.[1]

Literatur

  • Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 5. Auflage, Neuwied/Berlin 1971 [1962].
  • Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main 1998 [1992].
  • Hauke Brunkhorst: Jürgen Habermas. In: Franco Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie. Bd. 1: A–K, Stuttgart 2004 [1999], S. 603–610.
  • Hauke Brunkhorst: Habermas. Leipzig 2006.
  • Holger Böning: Zeitung und Aufklärung. In: Martin Welke/Jürgen Wilke (Hrsg.): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext. Bremen 2008, S. 287–310.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Herbert Gintis: If you like this, you will love root canal work--or Niklas Luhmann. Amazon.com, 17. August 2011.

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