Staatsräson

Staatsräson

Der Begriff der Staatsräson (auch Staatsraison geschrieben) zielt von seiner Idee her auf ein Streben nach Sicherheit und Selbstbehauptung des Staates um jeden Preis und mit allen Mitteln ab. Nach Wolfgang Kersting stellt er eine „Rangordnungsregel für Interessens- und Rechtskollisionen” dar. Die Berufung auf diese Perspektive rekurriert zumeist auf die klassische Trias von voluntas, necessitas und utilitas als Legitimationsgrößen zugunsten staatlicher Handlungen.

Die Staatsräson ist in diesem Sinne als ein vernunftgeleitetes Interessenskalkül einer Staatsführung unabhängig von der Regierungsform zu verstehen, dem einzigen Leitsatz der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Staatsgebildes verpflichtet.

Das Lexikon der Politik definiert den Begriff „Staatsräson” als ein „in der italienischen Renaissance (vor allem Machiavelli) erstmals auf den Begriff gebrachtes, grundsätzliches Orientierungs- und Handlungsprinzip, welches die Erhaltung des Staates bzw. der staatlichen Autorität und/oder sogar deren Steigerung zur entscheidenden politischen Maxime erklärt. […]”[1]

Alternativ bietet das Wörterbuch zur Politik drei verschiedene Definitionen der Staatsräson: Als erstes wird Staatsräson als „Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen” interpretiert, eine zweite Definition sieht Staatsräson als „Staatsnotwendigkeit, im Gegensatz zur individuellen Vernunft und Notwendigkeit”. Eine dritte und letzte Unterscheidung erkennt in ihr einen „Grundsatz, dem zufolge oberster Maßstab staatlichen Handelns die Wahrung und Vermehrung des Nutzens des Staates ist, auch unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral und Rechtsvorschriften”.

Als bedeutendster Verfechter der Idee der Staatsräson gilt unbestritten der florentinische Staatsdenker Niccolò Machiavelli. Dieser verklausuliert jedoch die als Arkanwissen geltende Strategie der Herrschaftserhaltung, indem er sich der nicht ganz eindeutigen Begriffskonstruktion mantenere lo stato bedient – also von der Aufrechterhaltung des Staates (auch Zustandes der Herrschaft/Regierung) spricht. Demgegenüber ist sein Landsmann Giovanni Botero rund 60 Jahre nach Machiavellis Tod als geistiger Urheber des Begriffes der Staatsräson in die Geschichtsbücher eingegangen. In seiner epochalen Schrift Della Ragion di Stato 1589 hat Botero als erster den Versuch unternommen zu definieren, was unter Staatsräson im Sinne der zeitgenössischen ragion di stato zu verstehen sei. Botero bezeichnet den Staat als eine „auf Dauer gestellte Herrschaft über ein Volk“ und die Staatsräson als „Kenntnis der Mittel, die zur Gründung, Erhaltung und Erweiterung dieser Herrschaft vonnöten sind.“

Die Idee der Staatsräson ist nicht direkt entgegengesetzt zur Philosophie des deutschen Grundgesetzes, welches Menschen und nur ihnen einen primären und unantastbaren Rechtsstatus zugesteht und nur dort Notwendigkeit zur Regulierung sieht, wo es Interessenkonflikte zwischen Menschen gibt. Dem Staat selbst wird sehr wohl ein Rechtsstatus zugestanden, der einem Menschen ebenbürtig oder sogar überlegen sei. Die Idee der Staatsräson aber sieht den Staat als mindestens ebenbürtig zu, wenn nicht höherwertig gegenüber einem Menschen an, so dass es nach dieser Philosophie im Falle von Konflikten zu Entscheidungen kommen kann, die den abstrakten Staat bevorteilen, konkrete Menschen aber benachteiligen.

Der Terminus der Staatsräson, auch ratio status, ragione di stato, raison d’état oder reason of state genannt, ist zum Synonym für eine politische Klugheitslehre, eine Strategie des prudenter loco et tempore geworden.

In Deutschland wurde der Begriff der Staatsräson erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in den politischen Diskurs eingeführt. Er trug der Tatsache Rechnung, dass die einzelnen deutschen Fürsten nunmehr jeweils absolutistisch in Nachahmung des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. regierten, den Kaiser nur noch formell anerkannten und auch alle religiösen und moralischen Fragen selbst entschieden. Joseph von Eichendorff schreibt 1866, dass „die sogenannte ‘Staatsraison’, ein diplomatisches Schachspiel verhüllter Intentionen“, damals „in der Politik an die Stelle der christlichen Moral“ getreten sei.[2] Er stellt Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (1633–1714) als literarischen Protagonisten der Staatsräson vor: Der Herzog, welcher Braunschweig gewaltsam erobert und dann zum Zweck des Erwerbs von Mainz den Glauben gewechselt hatte, schrieb voluminöse Geschichtsromane, in denen die „Hofräthsel“ der braunschweigischen Diplomatie allegorisch verschlüsselt dargestellt wurden.

Einzelnachweise

  1. Dieter Nohlen (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik, Art. „Staatsräson“, Beck, München 2007.
  2. Joseph von Eichendorff: Der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christenthum, Paderborn 1866, S. 52.

Literatur

  • Klaus Dieter Wolf: Staatsräson in der Bundesrepublik Deutschland. in: Graulich, Kurt; Simon, Dieter (Hrsg.): Terrorismus und Rechtsstaatlichkeit – Analysen, Handlungsoptionen, Perspektiven, Berlin 2007, Akademie Verlag, ISBN 978-3-05-004306-7
  • Noam Chomsky: Aus Staatsräson. Suhrkamp, Frankfurt (Main) 1974, ISBN 3-518-00736-X
  • Herfried Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der Frühen Neuzeit. Frankfurt (Main) 1987.
  • Herfried Münkler: Staatsräson und politische Klugheitslehre. In: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. Band 3, München und Zürich 1985, ISBN 3-492-02953-1
  • Wolfgang Kersting: Niccolò Machiavelli. Beck, München 2006, ISBN 978-3-406-54128-5
  • Maurizio Viroli: From politics to reason of state : the acquisition and transformation of the language of politics, 1250-1600. Cambridge University Press, Cambridge, New York 1992, ISBN 0-521-41493-8
  • Roman Schnur (Hrsg.): Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs. Berlin 1975.
  • Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte. München 1957.
  • Carl-Joachim Friedrich: Die Staatsraison im Verfassungsstaat. Freiburg 1961.
  • Peter Nitschke: Staatsräson kontra Utopie. Von Thomas Müntzer bis Friedrich II. von Preußen. Stuttgart/Weimar 1995.
  • Dieter Nohlen (Hrsg.): Kleines Lexikon der Poliltik. Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-51062-5
  • Nicolas Stockhammer: Das Prinzip Macht. Die Rationalität politischer Macht bei Thukydides, Machiavelli und Michel Foucault, Nomos, Baden-Baden 2009, ISBN 978-3-8329-2801-8.

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