Soziophysik

Soziophysik

Unter Soziophysik (auch Sozialphysik) versteht man die Idee und ihre Anwendungen, dass sich soziale Szenarien nach der Art naturwissenschaftlicher Modelle konzeptualisieren lassen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Zum ersten Mal kommt die Idee bei den französischen Materialisten im 18. Jahrhundert auf.

Um 1800, als die verschiedenen Wissendomänen noch nicht so stark getrennt waren, gab es mehrere v. a. literarische Versuche die „merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und der moralischen Welt“, wie es in Kleists „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ heißt, zu erkunden. Als Beispiele lassen sich Achim von Arnims Roman „Hollin’s Liebeleben“, Heinrich von KleistsDas Käthchen von Heilbronn“, „Der Findling“ oder am prominentesten Johann Wolfgang GoethesDie Wahlverwandtschaften“ nennen.

Während in der deutschen Tradition der Sozialwissenschaften die hermeneutische Tradition vorherrschend wurde, fand die Idee der Soziophysik in der französischen Tradition der Soziologie, die stärker positivistisch ausgerichtet war, interessante Weiterentwicklungen. Zu nennen wäre hier bereits Auguste Comte, sodann Émile Durkheim. Diese Tradition wirkt bis hin zu Michel Foucaults Machtkonzept fort, das in seinen Metaphern von „Kräften“ usf. noch deutlich in dieser Tradition steht.

Gegenwart; typische Probleme

Die „Soziophysik“ im neueren Sprachgebrauch ist ein Anfang der 1990er Jahre aufgekommenes[1] interdisziplinäres Forschungsfeld, dessen Schwerpunkt auf der Beschreibung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher (Ökonophysik), kultureller und politischer Phänomene durch physikalische und mathematisch-statistische Methoden liegt.

  • Generell liegt einem solchen Ansatz die Überlegung zugrunde, dass komplexe gesellschaftliche Systeme, in Analogie zur sogenannten Perkolationstheorie der Theoretischen Physik, aus einer großen Anzahl voneinander unabhängig agierender Akteure bestehen, diese jedoch nicht völlig frei in ihren Handlungen sind, sondern vielmehr rationalen Überlegungen folgen und/oder durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen in ihren Handlungen eingeschränkt werden. In der Physik wird ein solches System als Vielteilchensystem behandelt, welches bestimmten Zwangsbedingungen unterliegt und etwa mit den Mitteln der Statistik und mit speziellen diagrammatischen Methoden der Hochenergiephysik untersucht werden kann. Indem solche Systeme abstrahiert und mit den Werkzeugen der Physik und Mathematik untersucht werden, lassen sich Aussagen über Strukturen und Symmetrien in gesellschaftlichen Systemen finden und aufzeigen.
  • Ein Beispiel für ein soziophysikalisches Grundproblem ist das Wachstum von Städten. Während beispielsweise Mathematiker wie Pareto Gesetzmäßigkeiten in Bezug auf die Verhältnisse von Stadt- zu Landbevölkerung formuliert haben, beschäftigen sich Soziophysiker etwa mit der räumlichen Anordnung und der territorialen Ausdehnung urbaner Bereiche. Dabei wurde beobachtet, dass z B. Verkehrsnetze in Städten auf großen Skalen betrachtet universelle fraktale Strukturen aufweisen, wie sie ähnlich in der Nähe von Phasenübergängen physikalischer Systeme auftreten.
  • Die zeitliche Analyse von Verkehrsdaten auf europäischen Autobahnnetzen in Verbindung mit dem massiven Einsatz von Computersimulationen haben beispielsweise Aufschluss über Entstehung und Ausdehnung von Verkehrsstaus liefern können. Diese Erkenntnisse wurden als Grundlage zu ihrer Vermeidung bzw. schnellen Behebung herangezogen. Mit ähnlichen Problemen wird in der sog. „Panikforschung“ vorgegangen. Hier geht es ähnlich wie in der „Verkehrsforschung“ konkret um Menschenleben, die ja nicht nur durch Unfälle und Massenkarambolagen gefährdet sind, sondern z. B. auch durch Paniken in Fußballstadien und bei anderen Großereignissen. Wie kann man solche „Störungen“ - Staus, Karambolagen und Paniken - wirksam verhindern?
  • Gerade mit der Methode der Computersimulation hat man in Verbindung mit der Soziophysik mögliche kollektive Verhaltensmuster einer großen Anzahl sich wechselseitig beeinflussender Individuen beschreiben können (sog. „Agenten“ und „zelluläre Automaten“). Die Soziophysik macht hier Anleihen in der Mathematik der Spieltheorie.
  • Weitere bedeutende Probleme, die in der Soziophysik behandelt werden, betreffen die Ausbildung verschiedener „Relationen“ zwischen Benutzern im Internet und die genannten fraktalen Strukturen in solchen Netzen, besonders bei der Ausbildung (und Ausbreitung) von Stör-Ereignissen. Das heißt, es geht hier u. a. um die Sicherheit solcher Netze beim Ausfall einzelner Verbindungen und speziell um das globale Verhalten des Internets.

Siehe auch

Literaturauswahl

  • Wolfgang Weidlich, Physics and social science, Amsterdam, North Holland, 1991 (Das Buch behandelt anhand von vielen konkreten Beispielen für die Soziologie relevante Aspekte der theoretischen Physik.)
  • Dietrich Stauffer und Mitarbeiter: Biology, Sociology, Geology by Computational Physics, 2006.(An diesem Buch sieht man besonders gut, dass physikalische Methoden in ähnlicher Weise auch in anderen Fächern als der Soziologie tragfähig sind.)
  • Mark Buchanan: Warum die Reichen immer reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie. Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik. Campus, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3593384566. (Originaltitel The Social Atom)

Einzelnachweise

  1. Weiter zurück liegen die Versuche von Hermann Haken, ein interdisziplinäres neues Fach zu etablieren, das er Synergetik nannte. Auch das zitierte Buch von W. Weidlich entstammt dieser Schule, nicht dagegen das Buch von D. Stauffer.
  2. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,666614,00.html Netzwerkforschung: So tickt das Wir], Spiegel, 26. Dezember 2009

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