Sozialdisziplinierung

Sozialdisziplinierung

Sozialdisziplinierung ist eine mehr oder weniger gewaltsame Beeinflussung von Bevölkerungsgruppen im Interesse eines Staates und seiner Politik zur Lenkung der Bevölkerung mit dem Ziel der Durchsetzung politischer Ziele. Diese Ziele können im Erhalt der inneren Ordnung eines Staates oder einer Staatengemeinschaft liegen oder in außenpolitischen Absichten. Die Möglichkeiten einer Sozialdisziplinierung sind vielfältig und reichen von Steuererhebungen bis zu Unterhaltszahlungen. Die Anwendung offener Gewalt ist dabei das schärfste Mittel der Sozialdisziplinierung und erfolgt, wenn andere Mittel nicht mehr zur Verfügung stehen oder nicht wirksam sind.

Eingeführt wurde der Begriff „Fundamentaldisziplinierung“ als historiographisches Konzept durch Gerhard Oestreich in der Geschichtsforschung zur Frühen Neuzeit um langfristige Lern- und Transformationsprozesse zu beschreiben. Der Begriff Sozialdisziplinierung oder „Fundamentaldisziplinierung“ wird erweitert angewendet für vergleichbare Prozesse im 19. und 20. Jahrhundert und mündet hierfür in der These, dass die Sozialdisziplinierung in der Frühen Neuzeit eine Bedingung für die „Fundamentaldemokratisierung“ im 19. und 20. Jahrhundert darstelle.

Maßnahmen, für die der Begriff Sozialdisziplinierung zutrifft, gibt es seit Beginn der Staatenbildung. Die Maßnahmen können auch kirchenpolitisch intendiert sein wie z. B. im Zeitalter der Konfessionalisierung bis in das 18. Jahrhundert hinein, in dem die Rekatholisierung protestantischer Territorien angestrebt wurde, so der Historiker Arno Herzig. Sie können auch innerstädtische Disziplinierungsformen beinhalten wie in der Frühen Neuzeit der Lästerstein, der Pranger und andere Schandmale.

Der Begriff der Sozialdisziplinierung wurde u. a. von Heinrich Richard Schmidt kritisiert, weil er die rein etatistische Sicht auf die Konfessionalisierung unterstütze.[1] Er meint, dass es auch eine Konfessionalisierung „von unten“ gibt. Die Rolle der Gemeinden ist seiner Meinung nach eine bedeutendere bei der Modernisierung der Gesellschaft als bisher angenommen.

Die Sozialdiszplinierung wurde bislang fast ausschließlich im Kontext der europäischen (und besonders der deutschen) Geschichte untersucht. Ein Versuch, das Konzept in der außereuropäischen Geschichte anzubringen, findet sich bei Stefan Winter, der die Sozialdisziplinierung von Nomadenstämmen beschreibt.[2]

Literatur

  • Albert Wirz (Hrsg.): Alles unter Kontrolle. Disziplinierungsprozesse im kolonialen Tansania (1850 - 1960). Köln 2003, ISBN 3-89645-402-1. [1]
  • Anja Johann: Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert (= Studien zur Frankfurter Geschichte 46), Frankfurt a.M.: Waldemar Kramer 2001, ISBN 3-7829-0521-0. Rezension
  • Detlev J. K. Peukert: Grenzen der Sozialdisziplinierung : Aufstieg u. Krise d. dt. Jugendfürsorge von 1878 bis 1932, Köln 1986, ISBN 3-7663-0949-8. [2]
  • Heinrich Richard Schmidt: Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639-682 (http://www.schmidt.hist.unibe.ch/veroeff/SchmidtHRSozialdisziplinierung.pdf)

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Heinrich Richard Schmidt:Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung (Wayback, Version vom 12. Juni 2002
  2. Stefan Winter: Osmanische Sozialdisziplinierung am Beispiel der Nomadenstämme Nordsyriens im 17.-18. Jahrhundert, in Periplus: Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 13 (2003), S. 51-70

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