Segmentäre Gesellschaft

Segmentäre Gesellschaft

Segmentäre Gesellschaft bezeichnet eine Gesellschaft ohne zentrale politische Instanzen, deren soziopolitische Struktur von unilinearen Abstammungsgruppen (Lineages) geprägt ist.

Inhaltsverzeichnis

Merkmale

Der Begriff Segmentäre Gesellschaft wurde von Émile Durkheim 1893 in De la division du travail social geprägt und von Edward E. Evans-Pritchard und Meyer Fortes zur Beschreibung afrikanischer Gesellschaften übernommen. Bei Durkheim heißt es:

„Wir bezeichnen als Klan eine Horde, die nicht länger unabhängig ist, um stattdessen zum Element einer erweiterten Gruppe zu werden, und nennen segmentäre Gesellschaft auf der Grundlage von Klanen jene Völker, die aus der Assoziation zwischen Klanen gebildet sind. Wir nennen diese Gesellschaften segmentäre, um aufzuzeigen dass sie aus der Wiederholung von untereinander ähnlichen Aggregaten gebildet sind, analog den Ringen des Ringelwurmes, und wir bezeichnen jenes elementare Aggregat als Klan, weil dieses Wort sehr gut dessen gemischte, sowohl familiäre wie politische Natur zum Ausdruck bringt.“ [1]

Solche Gesellschaften bestehen aus einer Anzahl von gleichartigen und gleichrangigen Segmenten, die über Lineages organisiert sind und weiter in Subsegmente unterteilt sein können; neben diesen auf Abstammung und Verwandtschaft basierenden Segmenten können auch Gruppen unterschiedlicher Größenordnung auf religiös-kultischer oder territorialer Basis (Dörfer) bestehen. Die Verschachtelung dieser Segmente gewährleistet die weitgehende Selbstregulierung von Kooperations- und Konfliktbeziehungen ohne eine dauerhafte zentrale politische Autorität. Dies ermöglicht die größtmögliche Flexibilität und Dezentralisierung der politischen Organisation. Auf diese Weise können auch größere Gesellschaften akephal funktionieren, entgegen der früheren Annahme, dass nur kleine Gruppen „herrschaftslos“ sein könnten.

Typischerweise sind in segmentären Gesellschaften die Älteren gegenüber den Jüngeren übergeordnet. Solche Gesellschaften sind zudem meist egalitär, da die dauerhafte Anhäufung von persönlichem Reichtum für einzelne Mitglieder kaum möglich ist. Die Rolle der Frauen ist scheinbar[2] untergeordnet.

In den 1930er Jahren wuchs das Interesse von Kolonialmächten an der Erforschung solcherart organisierter Gesellschaften. Eines der wichtigsten Werke, das auf der Theorie der segmentären Gesellschaft basiert, ist African Political Systems von Edward E. Evans-Pritchard und Meyer Fortes. Sie untersuchen vor allem die Lineage-Strukturen, welche die Grundlage für die politische Struktur darstellen. Sie betonen die Gleichheit der Segmente und das Fehlen einer Zentralinstanz. Bekannt geworden sind die Ethnografien über die Nuer und die Tallensi. Weitere Gesellschaften, deren Systeme in dieser Hinsicht untersucht wurden, sind die Dinka, Tiv und Somali.

Niklas Luhmann gebraucht den Begriff der segmentären Gesellschaft zur Differenzierung von Gesellschaften. Als Beispiel nennt er einfache, kleine, räumlich voneinander getrennte und gleiche Gesellschaften mit face-to-face Kommunikation (Stämme, Dörfer etc.).

In seiner Arbeit Regulierte Anarchie greift Christian Sigrist das Thema der akephalen Gesellschaften auf und entwickelt die Theorie weiter.

Siehe auch

Einzelbelege

  1. Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung : Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, (De la division du travail social), Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1996, ISBN 3-518-28605-6, Seite 230
  2. Segmentäre Gesellschaft auf matriarchat.info], abgerufen 2. September 2010

Literatur

  • Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt 2004 (Original 1893)
  • Christian Sigrist: Regulierte Anarchie. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1994 (Original 1967)
  • Meyer Fortes; Edward Evans-Pritchard: African Political Systems. Oxford 1940

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