Schleyer-Entführung

Schleyer-Entführung

Die Entführung von Hanns Martin Schleyer, des westdeutschen Arbeitgeberpräsidenten, am 5. September 1977 durch die linksextremistische Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) und seine anschließende Ermordung am 18. Oktober 1977 war das zentrale Ereignis des sogenannten „Deutschen Herbstes“. Zusammen mit der Entführung des Flugzeugs Landshut durch eine Gruppe palästinensischer Terroristen der PFLP sollte damit die Freilassung der inhaftierten Mitglieder der ersten Generation der Rote Armee Fraktion erpresst werden.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Anlässlich seiner Wahl zum Präsidenten des BDI wurde Hanns Martin Schleyer im Januar 1977 in einer Sendung des deutschen Fernsehens auf seine nationalsozialistische Vergangenheit und seinen Offiziersrang in der SS angesprochen. Er erklärte, er sei stolz auf diese Vergangenheit.[1] Das rückte ihn in den Fokus der RAF. Seit 1973 war Schleyer bereits Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gewesen.

Verlauf der Entführung

Überfall

Der Schauplatz der Entführung Schleyers, aufgenommen 2007

Am Montag, den 5. September 1977 gegen 17:10 Uhr wurde Hanns Martin Schleyer in Köln von seinem Fahrer Heinz Marcisz in einem dunklen Mercedes 450 SEL von der Arbeitgeberzentrale am Oberländer Ufer zu seiner in der Raschdorffstraße (Köln-Braunsfeld) gelegenen Dienstwohnung chauffiert. Die Polizisten Reinhold Brändle (Fahrer), Helmut Ulmer (Beifahrer) und Roland Pieler (im Fond) folgten in einem hellen Mercedes 280 E. Die drei Personenschützer waren bewaffnet, Marcisz und Schleyer nicht. Keines der Fahrzeuge war gepanzert.

Das Kommando „Siegfried Hausner“ hatte eine Telefonkette eingerichtet, diese meldete die Annäherung der Fahrzeuge an die vier im Hinterhalt wartenden Schützen: Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willi-Peter Stoll und Stefan Wisniewski. Boock und Hofmann sollten die Polizisten ausschalten, Stoll war auf Schleyers Fahrer angesetzt und Wisniewski sollte Schleyer überwältigen.

Als die beiden Wagen gegen 17:28 Uhr die Vincenz-Statz-Straße erreichten, fuhr Wisniewski das Sperrfahrzeug, einen gelben Mercedes 300 D, aus einer Einfahrt rückwärts in die Straße. Marcisz konnte noch rechtzeitig bremsen, doch das Begleitfahrzeug fuhr auf Schleyers Wagen auf und schob diesen auf den gelben Mercedes. Daraufhin eröffneten die Terroristen das Feuer. Dabei wurden in ungefähr eineinhalb Minuten mindestens 119 Schüsse abgegeben. Mehrfach getroffen erlag Marcisz nach kurzer Zeit seinen schweren inneren Verletzungen.

Nach den auf Marcisz abgegebenen Schüssen rannte Stoll plötzlich und entgegen jeder Absprache in höchster Erregung quer durch die Schussrichtung von Boock und Hofmann, sprang auf die Motorhaube des Begleitfahrzeugs und verfeuerte die ganze übrige Munition seiner polnischen Maschinenpistole PM-63 (Kaliber 9,2 × 18 mm Makarow) durch die Frontscheibe ins Wageninnere. Der Fahrer Reinhold Brändle wurde 60 mal in allen Körperbereichen getroffen und starb kurz darauf. Roland Pieler gelang es noch, den Fond des Fahrzeugs zu verlassen und mit seiner Dienstpistole dreimal zurückzuschießen, er traf jedoch nicht. Helmut Ulmer schoss aus der geöffneten Beifahrertür achtmal mit seiner Maschinenpistole, traf aber ebenfalls nicht. Pieler und Ulmer wurden je mindestens dreimal tödlich getroffen.

Die Beschuss-Spuren der beiden rechten Türen des Begleitfahrzeuges sowie eine am Tatort aufgefundene Pistole Colt M1911, Kaliber 45, die niemandem der vier übrigen Beteiligten zugeordnet werden konnte, und auch die Lage des toten Beamten Pieler am Tatort legen die Vermutung nahe, dass eine fünfte Person beim Überfall aus der Deckung einer damals am Anfang der Vincenz-Statz-Straße gelegenen Baustelle heraus mitgewirkt hat. Entsprechende Ermittlungsergebnisse, beziehungsweise Ermittlungsversuche des Bundeskriminalamtes zur Identifizierung dieser fünften Person sind bis heute nicht bekannt. Herbeieilende Anwohner und Passanten sowie die bald eintreffende Polizei und Feuerwehr konnten wenig später nur noch den Tod von Schleyers Begleitern feststellen.

Boock schilderte Jahre später unter anderem in einem während seiner Haft durchgeführten Interview den genauen Verlauf der Schießerei.

Geiselhaft

Nach der Entführung wurde Schleyer in dem Hochhaus „Zum Renngraben 8" in Erftstadt-Liblar versteckt.

Nachdem in einer Tiefgarage das Fluchtfahrzeug gewechselt wurde, brachten die Entführer Schleyer nach Erftstadt-Liblar bei Köln, wo in dem Hochhaus „Zum Renngraben 8" ein Appartement als Unterschlupf diente. Dort hatte im Juli 1977 Monika Helbing unter dem Namen Annerose Lottmann-Bücklers einen Mietvertrag für die Wohnung Nr. 104 abgeschlossen. Die Geisel war die meiste Zeit in einem mit Schaumgummi schallgedämpften Wandschrank untergebracht und wurde gezwungen, per Videoaufnahmen an die von Kanzler Helmut Schmidt geführte Bundesregierung zu appellieren, ihn gegen elf inhaftierte RAF-Mitglieder der „ersten Generation" auszutauschen. Die Entführer forderten die Freilassung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe, Verena Becker, Werner Hoppe, Karl-Heinz Dellwo, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Ingrid Schubert, Irmgard Möller und Günter Sonnenberg.

Mehrere örtliche Polizisten waren davon überzeugt, dass Schleyer in dem Haus gefangen gehalten wurde, da das Appartement zahlreiche Kriterien erfüllten, die für RAF-Wohnungen typisch waren: das Haus lag in Autobahnnähe, hatte eine Tiefgarage und mehrere Mietzahlungen erfolgten bar im voraus. Sie meldeten dies dem zuständigen Krisenstab in Köln, der dieser Meldung aber nicht nachging, da sie von einem Beamten in eine falsche Ablage gelegt wurde.[2] Es wird davon ausgegangen, dass ein Berücksichtigen des Hinweises Schleyers Leben hätte retten können. Ab dem 16. September wurde Schleyer einige Tage lang in einer Wohnung in der Stevinstraat in Den Haag (Scheveningen) festgehalten. In der Nacht vom 19. zum 20. September wurde Schleyer dann zu einer vornehmen Wohnung in Brüssel im Bezirk Sint-Pieters-Woluwe gebracht. Dort wurde er bis zum 18. Oktober festgehalten.[3]

Hanns-Eberhard Schleyer, Rechtsanwalt und ältester Sohn des Entführten, beantragte am 15. Oktober 1977 beim Bundesverfassungsgericht eine einstweilige Anordnung gegen die Bundesregierung und die betroffenen Landesregierungen, auf die Forderungen der Entführer seines Vaters einzugehen. Am gleichen Tag fand eine mündliche Verhandlung statt. In der Nacht lehnte der Erste Senat des BVerfG den Antrag ab, veröffentlichte die Entscheidung aber erst am nächsten Morgen.

Die Bundesregierung unter Helmut Schmidt entschied sich in mehreren Krisensitzungen, nicht auf die Forderungen der Entführer einzugehen. Sie blieb auch nach der Entführung des Lufthansa-Passagierflugzeugs Landshut bei ihrer harten Haltung – die Maschine wurde auf dem Flughafen Mogadischu (Somalia) am frühen Morgen des 18. Oktober 1977 von GSG-9-Beamten gestürmt und alle 86 Geiseln befreit. Das Bundesverfassungsgericht, das von Schleyers Angehörigen in einem Eilverfahren angerufen wurde, lehnte den Antrag ab, die Bundesregierung zur Freilassung der RAF-Gefangenen zu verurteilen und bestätigte die Verfassungsmäßigkeit der Entscheidung der Bundesregierung.[4] In der Justizvollzugsanstalt Stuttgart begingen in derselben Nacht Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die von der Erstürmung des Flugzeugs Kenntnis bekamen, in ihren Zellen Selbstmord.

Ermordung

Hanns Martin Schleyer wurde am folgenden Tag erschossen, als seine Entführer vom Tod der inhaftierten RAF-Mitglieder erfuhren. Seine Leiche wurde am 19. Oktober 1977 im Kofferraum eines in der Rue Charles Peguy in Mülhausen/Elsass (Frankreich) abgestellten Audi 100 aufgefunden. Er wurde mit drei Schüssen in den Hinterkopf getötet. Peter-Jürgen Boock behauptete im Herbst 2007, die tödlichen Schüsse seien durch Stefan Wisniewski und Rolf Heißler abgegeben worden. Boock war jedoch kein unmittelbarer Zeuge der Tat und befand sich zum Zeitpunkt der Erschießung Schleyers in Bagdad. Die Täter sind bisher nicht ermittelt. Das Obduktionsergebnis lässt den Schluss zu, dass alle Schüsse aus einer Waffe, aber aufgrund der Schusswinkel vermutlich von zwei Tätern abgegeben wurden.[5] Im Bekennerschreiben der RAF („Kommando Siegfried Hausner“) vom 19. Oktober 1977 heißt es: „Wir haben nach 43 Tagen Hanns-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mulhouse in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker in Mogadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos.“[6]

Tatbeteiligte

Die Beteiligung von Peter-Jürgen Boock, Willi-Peter Stoll, Sieglinde Hofmann, Stefan Wisniewski, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar, Rolf Clemens Wagner, Adelheid Schulz, Rolf Heißler, Angelika Speitel und Knut Folkerts an der Schleyer-Entführung gilt als nachgewiesen.[7]

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. zeit.de: Deutsche Kontinuitäten. Schleyer und die RAF: Lutz Hachmeister schrieb eine tiefgründige Biografie (pdf)
  2. Interview mit Helmut Schmidt: Ich bin in Schuld verstrickt. Die Zeit, 30. August 2007, Nr. 36
  3. Paul Prillevitz: Ontvoerdershuis RAF onlangs verkocht, Historiën, 20. November 2008(in niederländisch; zuletzt abgerufen am 20. Juni 2009)
  4. BVerfGE 46, 160 (Schleyer).
  5. Boock nennt Namen von Schleyers mutmaßlichen Mördern, SpiegelOnline, 7. September 2007 (zuletzt abgerufen am 20. Juni 2009)
  6. Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF. Berlin 1997, S. 273.
  7. die hier aufgeführten wurden wegen der Schleyer-Entführung verurteilt, Quelle: Butz Peters, RAF - Terrorismus in Deutschland, ISBN 3-426-80019-5, S. 473

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