Sabra und Shatila

Sabra und Shatila

Als Massaker von Sabra und Schatila (arabischمذبحة صبرا وشاتيلا‎ Madhbaha Sabra wa-Schatila) wird eine von den christlichen libanesischen Phalange-Milizen während des libanesischen Bürgerkriegs in der Zeit vom 16. bis 18. September 1982 gegen die Bewohner der am südlichen Stadtrand von Beirut gelegenen palästinensischen Flüchtlingslager Sabra (Ṣabrā) und Schatila (Šātīlā) gerichtete Militäraktion bezeichnet. Nach filmisch belegten Aussagen beteiligter Phalange-Milizionäre richtete sich die Aktion in erster Linie gegen Zivilisten, bewaffneter Widerstand soll kaum noch vorhanden gewesen sein. Die Zahl der Opfer konnte nicht geklärt werden.

Inhaltsverzeichnis

Hintergrund

Am 6. Juni 1982 waren israelische Truppen unter dem Kommando des damaligen Verteidigungsminister Ariel Scharon in den Libanon einmarschiert, der Auftakt zum Libanonkrieg (1982–1985). Nach wenigen Wochen hatten sie den Südlibanon eingenommen und den Südteil der Hauptstadt Beirut unter Kontrolle gebracht. In den Kämpfen und bei der Belagerung und Bombardierung Beiruts waren auch Zivilisten umgekommen. In Beirut fanden Kämpfe zwischen christlichen Milizen und PLO-Kämpfern statt, die ebenfalls zahlreiche Opfer forderten. In einer Waffenstillstandsvereinbarung im August hatte sich die PLO verpflichtet, ihre Kämpfer aus dem Libanon abzuziehen, falls der Schutz der verbleibenden palästinensischen Flüchtlinge garantiert werde. Zur Kontrolle der Vereinbarungen hatten die USA, Frankreich und Italien Truppen entsandt, die Ende August in Beirut landeten.

Am 14. September 1982 wurden der erst drei Wochen zuvor zum Präsidenten gewählte libanesische Chef der libanesischen Streitkräfte Baschir Gemayel und viele seiner Begleiter und Kader durch ein Bombenattentat in seinem Hauptquartier ermordet. Die Palästinenser standen im Verdacht, für den Mord an ihrem politischen Gegner verantwortlich zu sein. Der Überfall der Christen auf die Lager wird daher auch als Racheaktion für den Mord an Präsident Gemayel verstanden. Am Tag vor Beginn des Massakers wurden die Lager Sabra und Schatila in Westbeirut von israelischen Truppen umstellt, nach Aussagen von Scharon, um verbleibende Milizen zu entwaffnen.

Das Massaker

Am Abend des 16. September drangen etwa 150 phalangistische Milizionäre unter dem Kommando von Elie Hobeika in die Lager ein, um die dort vermuteten palästinensischen Kämpfer zu entwaffnen. Die Milizen durchkämmten während ihrer Aktion die Lager und töteten dabei vorwiegend Zivilisten, einschließlich Frauen, Kinder und Alte. Nicht nur von palästinensischer Seite, sondern auch von beteiligten Phalangisten selbst wurde angegeben, viele der Opfer seien außerdem verstümmelt worden. Es soll auch zu Folterungen und Vergewaltigungen gekommen sein. Dies geschah in voller Sicht israelischer Beobachtungsposten auf umliegenden Gebäuden, welche die Lagerausgänge abriegelten und die Lager während der Nacht mit Leuchtraketen erhellten, um die phalangistischen Milizen zu unterstützen.[1]

Nach späteren Erkenntnissen war nicht nur die israelische Militärführung vor Ort genauestens über die Vorgänge in den Lagern informiert, sondern auch die israelische Regierung. Berichten zufolge hatte die israelische Armee zudem Bulldozer zur Verfügung gestellt und die Milizen mit Verpflegung und Munition versorgt.[2] Erst am Morgen des 18. September fand das Blutbad ein Ende. Nach Angaben der libanesischen Polizei forderte es 460 Todesopfer, darunter 35 Frauen und Kinder.[3] Israelische Stellen gehen von rund 800 militärischen und zivilen Toten aus, nach anderen Schätzungen waren an die 2000 Personen getötet worden. Die PLO sprach von 3300 Ermordeten.

Während es sich bei der Kampfhandlung primär um einen Konflikt zwischen christlichen Milizen und palästinensischen Kämpfern handelte, entzündete sich die internationale Empörung insbesondere an der israelischen Mitverantwortung aufgrund dazu einschlägig gültigen Völkerrechts. Im Jahre 1985 begingen die schiitischen Amal-Milizen im Rahmen der Lagerkriege ein weiteres Blutbad in Sabra und Schatila. Es blieb ohne vergleichbare internationale Resonanz.

Politische und rechtliche Aufarbeitung

Das Massaker wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. Dezember 1982 als Genozid gewertet:

„The General Assembly, (…)
Appalled at the large-scale massacre of Palestinian civilians in the Sabra and Shatila refugee camps situated at Beirut,
Recognizing the universal outrage and condemnation of that massacre, (…)
1. Condemns in the strongest terms the large-scale massacre of Palestinian civilians in the Sabra and Shatila refugee camps;
2. Resolves that the massacre was an act of genocide.“ [4]

Dem damaligen israelischen Verteidigungsminister Ariel Scharon wurde von der israelischen Kahan-Kommission eine politische Mitverantwortung für das Massaker zugewiesen, ohne dass ihm Vorsatz angelastet wurde. Aufgrund einer von der Kommission ausgesprochenen Empfehlung wurden Raful Eitan als Chef des Generalstabes und Scharon als Verteidigungsminister 1983 abgelöst. Scharon wurde allerdings noch im gleichen Jahr Minister ohne Geschäftsbereich. In Belgien wurde zwar 2002 wegen des Massakers zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet, die Anklage wurde jedoch wieder verworfen.

Ein Versuch, den unmittelbaren Haupttäter Elie Hobeika zu belangen, wurde weder von Seite arabischer Staaten noch von den Israelis unternommen. Vielmehr bekleidete er nach Ende des Libanesischen Bürgerkrieges acht Jahre lang mehrere Ministerämter in der von Syrien kontrollierten Regierung des Libanons. Anfang 2002 wurde er in Beirut bei einem Mordanschlag mit einer Autobombe getötet.

Künstlerische Aufarbeitung

Jean Genet, der sich zur Zeit der Massaker in Beirut aufhielt und die Lager nach Ende der Massaker besuchte, schildert seine Eindrücke in einem Bericht Quatre Heures à Chatila.[5] Auf diesem Text sowie auf dem Roman Un captif amourex basiert der Film Genet à Chatila von Richard Dindo (Schweiz/Frankreich 1999).[6] Eine Bühnenbearbeitung wurde 2006 in München erstaufgeführt.[7]

In dem Animationsfilm Waltz with Bashir (Israel/Frankreich/Deutschland 2008) stellt der Regisseur Ari Folman, der zu jener Zeit als israelischer Soldat im Libanon stationiert war, das Massaker aus seiner Perspektive dar.

Filmografie

  • Monika Borgmann, Lokman Slim, Hermann Theissen: MASSAKER. Deutschland/Libanon/Schweiz/Frankreich 2004. Dokumentarfilm, bestehend aus Interviews mit sechs der am Massaker beteiligten Täter.[2]

Literatur

  • The Beirut Massacre: the Complete Kahan Commission Report. Karz-Cohl, Princeton (NJ) 1983, ISBN 0-943828-55-4
  • Leila Shahid: The Sabra and Shatila Massacres: Eye-Witness Reports. In: Journal of Palestine Studies Bd. 32, Nr. 1 (Herbst 2002), S. 36-58

Einzelnachweise

  1. Thomas L. Friedman: Beirut Massacre: The Four Days. In: New York Times vom 26. September 1982.
  2. a b MASSAKER in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database
  3. Jillian Becker: The PLO. Weidenfeld und Nicolson, London 1984
  4. United Nations, General Assembly, A/RES/37/123(A-F) of 16 December 1982 Punkt D (General Assembly online: [1])
  5. Deutsche Ausgabe: 4 Stunden in Chatila. Übersetzt von Klaus Völker. Merlin Verlag, Gifkendorf 1983. ISBN 3-87536-1644
  6. Genet à Chatila in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database
  7. http://www.hansmelzer.de/4_Stunden_in_Chatila/index

Weblinks


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