Axiomensystem

Axiomensystem

Ein Axiomensystem (auch: Axiomatisches System) ist ein System von grundlegenden Aussagen, Axiomen, die ohne Beweis angenommen und aus denen alle Sätze (Theoreme) des Systems logisch abgeleitet werden.[1][2] Die Ableitung erfolgt dabei durch die Regeln eines formalen logischen Kalküls. Eine Theorie besteht aus einem Axiomensystem und all seinen daraus abgeleiteten Theoremen. Mathematische Theorien werden in der Regel als Elementare Sprache (auch: Sprache erster Stufe mit Symbolmenge) im Rahmen der Prädikatenlogik erster Stufe axiomatisiert.[3]

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Ein Axiomensystem als Produkt der Axiomatisierung eines Wissensgebietes dient der präzisen, ökonomischen und übersichtlichen "Darstellung der in ihm geltenden Sätze und der zwischen ihnen bestehenden Folgerungszusammenhänge"[4]. Die Axiomatisierung zwingt zugleich zu einer eindeutigen Begrifflichkeit.

Die Elemente eines axiomatischen Systems sind:

  1. ein Alphabet, aus denen die Ausdrücke nach gewissen Regeln hergestellt werden;
  2. eine Menge von grundlegenden Ausdrücken, den Axiomen, und
  3. ein System logischer Schlussregeln (Kalkül) zur Ableitung weiterer Ausdrücke, den Theoremen

Ein Beispiel: Die Gruppentheorie

Die mathematische Theorie der Gruppen formuliert man als elementare Sprache im Rahmen der Prädikatenlogik 1. Stufe.

  1. Das Alphabet: Alle Ausdrücke der elementaren Sprache LS, die - zusätzlich zu den logischen Symbolen und der Gleichheit (hier mit \equiv dargestellt) - die Symbolmenge S_{Gr} = \{\circ,e\} enthält; dabei ist \circ ein zweistelliges Funktionssymbol (Verknüpfung von Gruppenelementen) und e eine Konstante (Einselement).
  2. Die Gruppenaxiome sind
    1. \forall x \forall y \forall z ((x\circ y)\circ z \equiv x\circ (y\circ z))
    2. \forall x (x\circ e \equiv x)
    3. \forall x \exists y (x\circ y \equiv e)
  3. Das verwendete logische System: Der Sequenzenkalkül der Prädikatenlogik 1. Stufe

Auf dieses Axiomensystem lässt sich die gesamte Gruppentheorie aufbauen; d.h. alle Theoreme der Gruppentheorie lassen sich hiermit ableiten.

Eigenschaften von Axiomensystemen

Wir bezeichnen im Folgenden wie üblich die Ableitbarkeitsrelation des zugrundegelegten logischen Kalküls (Sequenzenkalkül, Kalkül des natürlichen Schließens) mit \vdash; sei Cn(\Gamma) = \{\mathrm{A} \mid \Gamma \vdash \mathrm{A}\} die zugehörige Inferenzoperation, die also jeder Menge M von Axiomen die zugehörige Theorie T = Cn(M) zuordnet.

Die Inferenzoperation ist ein Hüllenoperator, d.h. es gilt insbesondere Cn(T) = Cn(Cn(M)) = Cn(M) (Idempotenz des Hüllenoperators).

Deshalb sind Theorien deduktiv abgeschlossen, man kann also nichts Weiteres aus T herleiten, was nicht schon aus M beweisbar wäre. M nennt man auch eine Axiomatisierung von T.

Konsistenz

Eine Menge M von Axiomen (und auch die dazugehörende Theorie T) wird konsistent (oder widerspruchsfrei) genannt, falls man aus diesen Axiomen keine Widersprüche ableiten kann. Das bedeutet: Es ist nicht möglich, sowohl einen Satz A als auch seine Negation ¬ A mit den Regeln des Axiomensystems aus M (bzw. T) herzuleiten.

In Worten von Tarski:

„Man nennt eine deduktive Disziplin widerspruchsfrei, wenn keine zwei Lehrsätze dieser Disziplin einander widersprechen oder, mit anderen Worten, wenn von zwei beliebigen sich widersprechenden Sätzen (...) mindestens einer nicht bewiesen werden kann.“

Tarski[5]

Unabhängigkeit

Ein Ausdruck A wird unabhängig von einer Menge M von Axiomen genannt, wenn A nicht aus den Axiomen in M hergeleitet werden kann. Entsprechend ist eine Menge M von Axiomen unabhängig, wenn jedes einzelne der Axiome in M von den restlichen Axiomen unabhängig ist:

 M\setminus A \nvdash A für alle A\in M.

Prägnant zusammengefasst: „Unabhängig sind die Axiome, wenn keines von ihnen aus den anderen ableitbar ist“.[6][7]

Vollständigkeit

Eine Menge M von Axiomen wird vollständig (auch negationstreu[3]) genannt, wenn für jeden Satz A der Sprache gilt, dass der Satz A selbst oder seine Negation ¬ A aus den Axiomen in M hergeleitet werden kann. Dazu gleichbedeutend ist, dass jede Erweiterung von M durch einen bisher nicht beweisbaren Satz widersprüchlich wird. Analoges gilt für eine Theorie. Vollständige Theorien zeichnen sich also dadurch aus, dass sie keine widerspruchsfreien Erweiterungen haben.

Vorsicht: die Vollständigkeit einer Theorie oder einer Axiomenmenge ist eine rein syntaktische Eigenschaft und darf nicht mit der semantischen Vollständigkeit verwechselt werden.[8]

Modelle und Beweise von Widerspruchsfreiheit, Unabhängigkeit und Vollständigkeit

Für das Folgende nehmen wir an, dass der zugrundeliegende Kalkül korrekt ist; d.h. dass jede syntaktischen Ableitung auch die semantische Folgerung impliziert (dies ist eine Minimalforderung an ein axiomatisches System, die z.B. für den Sequenzenkalkül der Prädikatenlogik 1. Stufe gilt).

Wenn es zu einem Axiomensystem ein Modell besitzt, dann ist M widerspruchsfrei. Denn angenommen, es gäbe einen Ausdruck A mit M\vdash A und M\vdash \neg A. Jedes Modell von M wäre dann sowohl Modell von A als auch von \neg A - was nicht sein kann.

Die Widerspruchsfreiheit eines Axiomensystems lässt sich also durch Angabe eines einzigen Modells zeigen. So folgt z.B. die Widerspruchsfreiheit der obigen Axiome der Gruppentheorie durch die Angabe der konkreten Menge {0,1} mit e = 0 und der Definition von \circ durch die Addition modulo 2 (0\circ 0=0, 0\circ 1=1\circ 0=1,1\circ 1=0).

Modelle kann man auch verwenden, um die Unabhängigkeit der Axiome eines Systems zu zeigen: Man konstruiert zwei Modelle für das Teilsystem, aus dem ein spezielles Axiom A entfernt wurde - ein Modell, in dem A gilt und ein anderes, in dem A nicht gilt.

Zwei Modelle heißen isomorph, wenn es eine eineindeutige Korrespondenz zwischen ihren Elementen gibt, die sowohl Relationen als auch Funktionen erhält. Ein Axiomensystem, für das alle Modelle zueinander isomorph sind, heißt kategorisch. Ein kategorisches Axiomensystem ist vollständig. Denn sei das Axiomensystem nicht vollständig; d.h. es gebe einen Ausdruck A, für den weder A noch \neg A aus dem System herleitbar ist. Dann gibt es sowohl ein Modell für M\cup \{A\} als auch eines für M\cup \{\neg A\}. Diese beiden Modelle, die natürlich auch Modelle für M sind, sind aber nicht isomorph.

Axiomensysteme in einzelnen Bereichen

Logik

Für die elementare Aussagenlogik, die Prädikatenlogik erster Stufe und verschiedene Modallogiken gibt es axiomatische Systeme, die die genannten Anforderungen erfüllen.[4]

Für die Prädikatenlogiken höherer Stufen lassen sich nur widerspruchsfreie, aber nicht vollständige axiomatische Systeme entwickeln.[4] Das Entscheidungsproblem ist in ihnen nicht lösbar.

Arithmetik

Für die Arithmetik gilt der Gödelsche Unvollständigkeitssatz. Dies wird weiter unten diskutiert.

Geometrie

David Hilbert gelang es 1899, die euklidische Geometrie zu axiomatisieren.

(Sonstige) Axiomensysteme aus dem Bereich der Mathematik

Sprachwissenschaft

Karl Bühler versuchte 1933, eine Axiomatik der Sprachwissenschaft zu entwickeln.

Axiomatisches System und Gödelscher Unvollständigkeitssatz

Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze von 1931 sprechen über höchstens rekursiv aufzählbar axiomatisierte Theorien, die in der Logik erster Stufe formuliert sind. Es wird ein vollständiger und korrekter Beweiskalkül vorausgesetzt. Der erste Satz sagt aus: Falls die Axiome der Arithmetik widerspruchsfrei sind, dann ist die Arithmetik unvollständig. Es gibt also mindestens einen Satz ΦG, so dass weder ΦG noch seine Negation ¬ΦG in der Arithmetik beweisbar sind. Des Weiteren lässt sich zeigen, dass jede Erweiterung der Axiome, die rekursiv aufzählbar bleibt, ebenfalls unvollständig ist. Damit ist die Unvollständigkeit der Arithmetik ein systematisches Phänomen und lässt sich nicht durch eine einfache Erweiterung der Axiome beheben. Der zweite Unvollständigkeitssatz sagt aus, dass sich insbesondere die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik nicht im axiomatischen System der Arithmetik beweisen lässt.

Die Unvollständigkeitssätze werden in der Literatur gerne fehlinterpretiert. Dies wird im Folgenden kommentiert:

  1. Es ist möglich, die Arithmetik vollständig zu axiomatisieren. Die Theorie T=\{\Phi\in\mathcal L_{\operatorname{PA}};\ \mathbb N\models\Phi \} ist eine vollständige, widerspruchsfreie Erweiterung der bekannten Peano-Axiome. Infolge der Unvollständigkeitssätze ist diese Theorie aber nicht rekursiv aufzählbar.
  2. Es gibt vollständige, widerspruchsfreie, rekursiv aufzählbare Axiomensysteme, Diese können aber keine Erweiterung der Arithmetik sein; insbesondere ist es in derartigen Systemen nicht möglich, über dieses System selbst zu reden. Sie sind damit nicht so ausdrucksstark, wie die volle Arithmetik mit 0, Nachfolger, Addition und Multiplikation. Ein einfaches Beispiel für ein derartiges, schwaches System ist die Arithmetik nur mit 0 und Nachfolger.
  3. Die Nichtbeweisbarkeit der eigenen Widerspruchsfreiheit in der Arithmetik ist keine absolute Grenze des formalen Denkens. So hat etwa Gerhard Gentzen gezeigt, dass man die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik beweisen kann (in einem formalen System), wenn man die Möglichkeiten des Systems etwas erweitert. Damit zeigen die Unvollständigkeitssätze lediglich, dass man ein stärkeres System benötigt, um die Widerspruchsfreiheit eines schwächeren Systemes zu beweisen.
  4. Die Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit für die Unvollständigkeitssätze ist wesentlich. Zum einen kann sie innerhalb der Arithmetik nicht bewiesen werden; zum anderen würde aus der Inkonsistenz der Axiome sofort folgen, dass jeder Satz beweisbar wäre. Damit wäre die Arithmetik vollständig und insbesondere wäre auch der Satz, der die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik aussagt, bewiesen.
  5. Setzt man die Mengenlehre voraus, kann man mit den Natürlichen Zahlen \mathbb N ein Modell der Arithmetik angeben. Damit ist die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik gezeigt. Jedoch ist die Mengenlehre ihrerseits ein axiomatisches System, das ausdrucksstärker als die Arithmetik ist. Damit ist sie selbst wieder unvollständig und sie kann wiederum ihrerseits nicht ihre eigene Konsistenz beweisen.

Hier noch einige Beispiele aus der Literatur:

  • Nach dem 1931 von Gödel bewiesenem Gödel-Theorem (auch: Unvollständigkeitssatz) ist es für ein mathematisches formales System „unmöglich, zugleich dessen Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu beweisen“[9]. "Kein adäquates Axiomensystem der Theorie eines unentscheidbaren Kalküls ist absolut-vollständig."[10]
  • Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze "beweisen die Grenzen formalistischen Denkens und die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens" [11] und zeigen eine „absolute Grenze“ der formalen Logik".[12]
  • „Die angesprochene Unvollständigkeit der Arithmetik beispielsweise bedeutet folgendes: Für jede nur denkbare Formalisierung der elementaren Arithmetik gilt, dass es in ihr Sätze gibt, die in dieser Formulierung weder beweisbar noch widerlegbar sind. Mit anderen Worten: Es gibt in jeder dieser Formalisierungen Sätze A mit der Eigenschaft, dass sich weder A noch ¬ A beweisen lässt."[12]

Siehe auch

Quellen

  1. Axiom
  2. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. (1993), S. 79
  3. a b H.D. Ebbinghaus, J. Flum, W. Thomas: Einführung in die mathematische Logik. Mannheim-Leipzig-Wien-Zürich; BI-Wiss. Verlag, 1992, ISBN 3-411-15603-1
  4. a b c Regenbogen/Meyer, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (2005)/Axiomatisches System
  5. Tarski, Einführung, 5. Aufl. (1977), S. 144
  6. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 10. Aufl. (1993), S. 80
  7. vgl. auch Prechtl, in: Metzler Philosophie Lexikon, 2. Aufl. (1999)/Axiom, Axiomensystem
  8. s. Vollständigkeit
  9. Schülerduden, Philosophie (2002), Satz vom (verbotenen) Widerspruch
  10. Lorenzen, Logik, 4. Aufl. (1970), S. 136
  11. Zoglauer, Einführung (1999), S. 115
  12. a b Hoyningen-Huene, Logik (1998), S. 272

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