Rethra (Heiligtum)

Rethra (Heiligtum)

Rethra (seltener: Rhetra, Riedegost) war ein slawisches Zentralheiligtum in Mecklenburg. Seine Lage wird seit mehreren Jahrhunderten vorzugsweise am Südende des Tollensesees im Gebiet der Lieps vermutet, ohne dass der wissenschaftliche Nachweis bereits erbracht werden konnte. Urkundlich überliefert ist die Zerstörung Rethras für den Winter 1068/69. Der slawische Stamm der Redarier sowie der der Tollenser beanspruchten eine Vorrangstellung innerhalb des Liutizen-Bundes, weil das Heiligtum in ihrem Bereich lag.

Die religiösen Kulte der Westslawen sind sehr unzureichend überliefert. Archäologische Quellen gibt es nur wenige. Dies erklärt sich dadurch, dass die siegreichen Christen alle slawischen Heiligtümer zerstörten. Rethra war aus Holz und konnte deswegen trotz intensiver Grabungen noch nicht lokalisiert werden. Einer der Chronisten, durch den wir etwas über Kult und Gesellschaftsstruktur der Liutizen erfahren, ist Thietmar von Merseburg, der zu Beginn des 11. Jahrhunderts schrieb:

Im Redariergau liegt eine dreieckige und dreitorige Burg Riedegost, rings umgeben von einem großen, für die Einwohner unverletzlich heiligen Walde. Zwei ihrer Tore sind dem Zutritt aller geöffnet. Das dritte und kleinste Osttor mündet in einem Pfad, der zu einem nahegelegenen, sehr düsteren See führt. In der Burg befindet sich nur ein kunstfertig errichtetes, hölzernes Heiligtum, das auf einem Fundament aus Hörnern verschiedenartiger Tiere steht. Außen schmücken seine Wände, soviel man sehen kann, verschiedene, prächtig geschnitzte Bilder von Göttern und Göttinnen. Innen aber stehen von Menschenhänden gemachte Götter, jeder mit eingeschnitztem Namen; furchterregend sind sie mit Helmen und Panzern bekleidet; der höchste heißt Svarozic, und alle Heiden achten und verehren ihn besonders. (...) Jeder Gau dieses Landes hat seinen Tempel und sein besonderes von den Ungläubigen verehrtes Götzenbild, doch genießt die Burg Riedegost einen besonderen Vorrang. (Thietmar von Merseburg, Chronik, VI, 23-25)

In der Burg wurden Feldzeichen aufbewahrt, die nur im Kriegsfall entnommen werden durften, und die Geschenke, die den Göttern nach der Rückkehr von einem Feldzug darzubringen waren. Für die Pflege des Tempels waren besondere Priester eingesetzt, die das Orakel bedienten und den Göttern Opfer brachten. Für Weissagungen benutzten sie ein besonders großes, für heilig gehaltenes Pferd, das über gekreuzte Lanzenspitzen geführt wurde. Ein weiteres heiliges Tier war ein großer Eber, der aus dem See stieg und sich im Schlamm wälzte, wenn ein Krieg bevorstand.

Prillwitzer Idole

Im Jahre 1768 schien „Rethra“ endlich gefunden. Zufällig waren im Besitz der alteingesessenen Goldschmiedefamilie Sponholz in Neubrandenburg kleine, mit Runen beschriftete Bronzefiguren aufgetaucht, die man für slawische Götzenbilder hielt. Einer Legende zufolge stammten diese Bronzen aus einem Bodenfund, den ein Vorfahr der Sponholzfamilie (angeblich) beim Pflanzen eines Baumes im Pfarrgarten in Prillwitz entdeckt hatte. Diese Figuren versetzten die norddeutsche Gelehrtenwelt in helle Aufregung, denn unter den (angeblich) wendischen Runen war vielfach das Wort „Rethra“ zu lesen und Prillwitz galt zu dieser Zeit allgemein als Stätte des sagenumwobenen Heiligtums. Zunächst erwarb ein privater Kunstsammler 35 dieser Figuren. Später gelangten 22 weitere, neue Götzenfiguren in den Besitz der herzoglichen Familie. Gideon Sponholz, jüngster Spross der Neubrandenburger Familie, galt seither als Geschichtsexperte. Er richtete das erste Museum in Neubrandenburg ein und durfte mit herzoglicher Genehmigung Ausgrabungen durchführen, die sehr erfolgreich waren.

Obwohl es von Anfang an Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Story, als auch an der Echtheit der nach ihrem angeblichen Fundort „Prillwitzer Idole“ genannten Bronzen gab, sorgten die Stücke bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mehrfach für heftigsten Gelehrtenstreit.

Heute gelten die „Prillwitzer Idole“ gemeinhin als geschickte Fälschung der Neubrandenburger Goldschmiede. Zugleich stellen die heute im Bestand des Mecklenburgischen Volkskundemuseums Schwerin-Mueß verwahrten Stücke bedeutende Kunstobjekte des ausgehenden Rokoko dar. Ihre Entdeckungsgeschichte ging als Jahrhundertfälschung in die Geschichte Mecklenburgs ein.

Weblinks

Literatur


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