Reformjuden

Reformjuden

Reformjudentum nennt sich vor allem in Nordamerika die Richtung des Judentums, die im 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden ist und in Europa überwiegend als liberales Judentum (oder auch als Progressives Judentum) bezeichnet wird. Entscheidend für diese Richtung ist die Aufteilung der jüdischen Gebote in ethische und rituelle Gesetze sowie die Auffassung, dass die ethischen Gesetze zeitlos und unveränderlich seien, die rituellen Gesetze hingegen verändert werden könnten, um sie dem jeweiligen Lebensumfeld anzupassen. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum geht das Reformjudentum von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes in der Geschichte aus. Statt auf das Kommen eines persönlichen Messias zu warten hofft man auf das Anbrechen einer messianischen Zeit. [1]

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Nachdem in den 1840er und 1850er Jahren gebildete deutsche Juden, die der jüdischen Aufklärung – der Haskala – verbunden waren und eine Reform der jüdischen Religion bereits in Deutschland unterstützt hatten, in großen Zahlen in die USA auswanderten, wurden die Vereinigten Staaten zum weltweit wichtigsten Schauplatz der weiteren Reformbewegung. Amerikanische Juden haben sich dabei nach Heinz Schneider das deutsche Reformjudentum als Vorbild genommen. [2] Die erste Reformkongregation auf dem Boden der USA war der 1842 gegründete Tempel Har Sinai in Baltimore (heute im Vorort Owings Mills). 1845 folgten in New York City der Temple Emanu-El. 1858 entstand in Chicago als dritte amerikanische Reformkongregation die Sinai Congregation. In Hamburg wurde 1844 der Neue Israelitische Tempel in der Poolstraße eingeweiht

Ein Eckdatum der Entwicklung des Reformjudentums markiert die Konferenz in Philadelphia (1869), auf der die Vordenker des amerikanischen Reformjudentums – David Einhorn, Samuel Hirsch und andere – erstmals ihre Prinzipien formulierten.[3] Da diese Resolution bald als nicht ausreichend empfunden wurde, kam es 1885 auf einer Konferenz in Pittsburgh („Pittsburgh Platform“) zu einer weiteren, noch einflussreicheren Erklärung.[4] Darüber hinaus wurde das amerikanische Reformjudentum auch von rationalistischen Einflüssen geprägt, darunter z. B. die von Felix Adler begründete „Ethical Culture“.[5] Zu den Organisationen, die die Stärke der Reformbewegung begründeten, zählten die „Union of American Hebrew Congregations“ (seit 1873), das Reform Union College/Jewish Institute of Religion (seit 1875) und die „Central Conference of American Rabbis“ (seit 1889).[6] Ein öffentliches Forum fand die Reformbewegung in der 1854 von Isaac Mayer Wise in Cincinnati begründeten Wochenzeitschrift „The Israelite“, die bald unter dem neuen Titel „The American Israelite“ erschien.[7] Weiter entwickelt wurde das Reformjudentum später von Persönlichkeiten wie z. B. Judah Leon Magnes und Emil Hirsch.[8]

Sozial gesehen bestand eine wesentliche Leistung des Reformjudentums in der weit reichenden Angleichung des jüdischen Alltagslebens und sogar der Liturgie an nichtjüdische – vor allem protestantische – Gepflogenheiten. Die Chancen amerikanischer Juden auf gesellschaftliche Integration stiegen damit drastisch.[9]

Während das Reformjudentum im 19. Jahrhundert und besonders in den USA auch im 20. Jahrhundert viele Traditionen des Judentums abschaffte, radikal veränderte oder in die Entscheidung der Individuen legte, werden heute viele dieser Traditionen wieder durchgeführt. Zusätzlich bildete sich in Deutschland und später in den USA mit dem konservativen Judentum eine Strömung heraus, die eine Mittelposition zwischen Orthodoxie und Reformjudentum einnimmt.

Charakteristika des Reformjudentums

Markante Unterschiede des Reformjudentums gegenüber dem orthodoxen Judentum sind:

  • besonderer Schwerpunkt auf den ethischen Aspekten des Judentums (auf Kosten der strengen Befolgung formaler Gebote)
  • Einhaltung des Schabbat im Sinne einer durchdachten weitgefassten Enthaltung von Arbeit (als Lohnerwerb) und Geldgeschäften
  • die Verwendung der jeweiligen Landessprache zumindest in mehr oder weniger großen Abschnitten des Gottesdienstes
  • völlige Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Frau bei Gottesdiensten und anderen Ritualen
  • eine Kürzung des Gottesdienstes
  • die Installation einer Orgel
  • die Verwendung gemischter Chöre (Frauen und Männer; Juden und Nicht-Juden)
  • freie Gewissensentscheidung jedes Reformjuden darüber, welche rituellen Gesetze er einhalten möchte und welche nicht
  • keine Berührungsängste mit anderen Religionen

Reformgemeinden in Deutschland

Bis zur Shoa existierte in Deutschland die Jüdische Reformgemeinde in Berlin, die umfassendere Änderungen in der Liturgie durchgeführt hat. Ansonsten bezeichnen sich die jüdischen Gemeinden, die im deutschsprachigen Raum dieser Richtung des Judentums angehören, als liberal.

Siehe auch

Quellen

  1. Hans-Christoph Goßmann: "...denn das Heil kommt von den Juden". Christliche Zugänge zum Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog, Waxmann, 2005, S. 52
  2. Karl Heinz Schneider: Judentum und Modernisierung. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich, Campus, 2005, S. 111
  3. Reform Judaism: Declaration of Principles: 1869 Philadelphia Conference [1]
  4. Declaration of Principles: 1885 Pittsburgh Conference [2]
  5. Felix Adler [3]; Ethical culture [4]
  6. The Union of American Hebrew Congregations [5]; Hebrew Union College [6]; Central Conference of American Rabbis [7]
  7. The American Israelite [8]
  8. Emil Hirsch [9]
  9. Nathan Glazer, American Judaism, Chicago: The University of Chicago Press, 1957, S. 46

Weblinks


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