Rechtsbeugung

Rechtsbeugung

Unter Rechtsbeugung versteht man im deutschen Recht die bewusst falsche Anwendung des Rechts durch Richter, Amtsträger oder Schiedsrichter bei Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei.

Die Strafbarkeit der Rechtsbeugung ist in Deutschland in § 339 StGB geregelt. Rechtsbeugung ist ein Verbrechen, das mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem und höchstens fünf Jahren bedroht ist. Da die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zwingend den Amtsverlust zur Folge hat, führt eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung regelmäßig dazu, dass der wegen Rechtsbeugung verurteilte Richter oder Staatsanwalt kraft Gesetzes sein Amt verliert, wenn nicht ausnahmsweise eine Strafrahmenverschiebung angewendet werden kann (so bei Rechtsbeugung durch Unterlassen gemäß § 13, § 49 StGB). Wie stets bei Verbrechen ist auch der Versuch strafbar (§ 22 StGB). Geschütztes Rechtsgut ist die innerstaatliche Rechtspflege, die Rechtsgüter der rechtsunterworfenen Bürger sind nur mittelbar geschützt [1].

Inhaltsverzeichnis

Definition

Definition des Bundesgerichtshofs

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt nicht jede unrichtige Rechtsanwendung eine Beugung des Rechts im Sinne von § 339 StGB dar. Nur der Rechtsbruch als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege solle unter Strafe gestellt sein. Rechtsbeugung begehe ein Amtsträger, der sich bewusst und schwerwiegend von Recht und Gesetz entfernt. Die bloße Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründe eine Rechtsbeugung hingegen noch nicht.[2]

Diese einschränkende Auslegung des Tatbestandes begründet der BGH vor allem mit der Notwendigkeit, die richterliche Unabhängigkeit zu schützen, mit dem Argument, es müsse verhindert werden, dass über den Umweg eines Strafverfahrens wegen Rechtsbeugung ein rechtskräftig entschiedener Fall erneut von der Justiz geprüft wird, und schließlich mit der hohen Strafdrohung, die einen besonders hohen Unwertgehalt der Tat voraussetze.

Kritik an der Definition des BGH

In der Rechtsliteratur wird Rechtsbeugung überwiegend weniger eng definiert. An der Definition des BGH wird kritisiert, dass die Formel des BGH vage sei und dass das Tatbestandsmerkmal des „bewussten“ Rechtsbruchs im objektiven Tatbestand fehl am Platz sei, darüber hinaus bestehe ein Widerspruch, wenn der BGH einerseits einen „bewussten“ Rechtsbruch verlangt, andererseits beim Vorsatz aber bedingten Vorsatz ausreichen lasse. Die Begründung des BGH, die enge Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes sei notwendig, um die richterliche Unabhängigkeit zu schützen und um zu verhindern, dass über den Umweg eines Strafverfahrens wegen Rechtsbeugung rechtskräftig abgeschlossene Verfahren neu aufgerollt würden, überzeuge nicht: Ein Bruch des Gesetzes könne nicht der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit unterfallen, ein Schutz der Justiz vor zu häufiger Inanspruchnahme sei durch § 339 StGB nicht bezweckt.[3]

Kritisiert wird weiter, die Judikatur schränke ihre strafrechtliche Selbstkontrolle ganz erheblich ein. Sie lasse eindeutige und vorsätzliche Rechtsverstöße der Richter in unklarem Ausmaß straflos. Unverkennbar sei das Bestreben, den Anwendungsbereich der Strafvorschrift möglichst weitgehend einzuschränken. Diese einengende Gesetzesauslegung gehe bis zur Gesetzwidrigkeit. § 339 StGB diene in erster Linie nicht, wie der BGH geradezu sinnwidrig behauptet habe, der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit, sondern ziele umgekehrt auf die Sicherung und Wahrung der Verantwortlichkeit des Richters und damit auf die richterliche Achtung von Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 4 GG). Denn die richterliche Freiheit müsse dort eine Grenze haben, wo die Unabhängigkeit in Verantwortungslosigkeit ausgeartet, der Wille des Gesetzgebers sogar vorsätzlich missachtet sei. Die Rechtsprechung habe ihre verfassungsrechtliche Bindung an das Gesetz gelockert. Dem § 339 StGB sei seine „rechtsstaatlich zentrale Stellung“ genommen. Denn die Einschränkung des Tatbestandes sei erheblich und zugleich unberechenbar. Die Anzahl der Verurteilungen könne man daher an einer Hand abzählen. [4]

Dieser Kritik wird freilich entgegengehalten, dass angesichts der Schwere der Rechtsfolgen eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung bei Verstößen minderen Gewichts, die sich im Ergebnis nicht als ungerecht erweisen, unangemessen sein könne. Gegen die daraus abgeleitete Forderung nach Senkung des Strafrahmens und Herabstufung zum Vergehen spräche, dass eine Herabstufung der Rechtsbeugung zum Vergehen der Rechtsfriedensfunktion der Rechtsprechung nicht gerecht werde. So sei es keinen Bürger zuzumuten, dass seine Sache von einem wegen Rechtsbeugung vorbestraften Richter entschieden werde.[5]

Andere Definitionen

In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden verschiedene Versuche unternommen, den Tatbestand der Rechtsbeugung zu definieren. Nach der in der Literatur herrschenden so genannten objektiven Theorie [6] ist der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung dann erfüllt, wenn der Richtende das Recht objektiv falsch anwendet und es sich um einen eindeutigen Rechtsverstoß handelt (also nicht verschiedene Handlungen oder Auslegungen des Rechts vertretbar sind). Nach der so genannten subjektiven Theorie [7] liegt Rechtsbeugung nur dann vor, wenn die Rechtsanwendung im bewussten Widerspruch zur Überzeugung des Richtenden steht. Nach einer dritten Theorie [8] besteht die Rechtsbeugung im Verstoß gegen die pflichtgemäß erlangte Rechtsauffassung des Richters.

Einzelheiten

Täter

Rechtsbeugung ist ein so genanntes Sonderdelikt, also ein Delikt, das nicht jedermann, sondern nur ein bestimmter Personenkreis begehen kann. An erster Stelle kommt als Täter der Richter in Betracht, und zwar neben Berufsrichtern auch ehrenamtliche Richter (§ 11 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Auch andere Amtsträger im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB können Täter einer Rechtsbeugung sein, sofern sie eine Rechtssache zu leiten und zu entscheiden haben. Zu solchen Amtsträgern sind Rechtspfleger und Staatsanwälte zu rechnen. Ein Finanzbeamter, der Steuern festzusetzen hat, kann hingegen nicht als Täter einer Rechtsbeugung in Betracht kommen, da das Festsetzungsverfahren zu wenig förmlich und rechtlich durchgeformt ist [9]. Täter einer Rechtsbeugung kann nach dem Wortlaut des Gesetzes hingegen auch ein Schiedsrichter im Sinne des 10. Buchs der Zivilprozessordnung sein.

Tathandlung

Tathandlung ist die bewusst falsche Anwendung des Rechts. Unter Recht ist zunächst das Gesetzesrecht zu verstehen, daneben auch das Gewohnheitsrecht und das von den Parteien geschaffene Vertragsrecht (beispielsweise Allgemeine Geschäftsbedingungen oder Tarifverträge). Auch so genanntes überpositives Recht ist nach herrschender Ansicht Recht im Sinne des § 339 StGB [10], wobei die Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes wegen Verletzung überpositiven Rechts nur in Betracht kommt, wenn sich positives Recht als offenkundig gesetzliches Unrecht erweist, indem es unter Missachtung der Menschenwürde Gerechtigkeit nicht einmal mehr anstrebt [11].

Als Tathandlung kommt in Betracht die Verletzung materiellen Rechts, aber auch die Verletzung von Verfahrensrecht (etwa die Nichterhebung von Beweisen, die Überschreitung von Fristen, die Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes). Auch die bewusst falsche Feststellung des Sachverhalts stellt eine Rechtsbeugung dar.

Die Rechtsbeugung muss zum Vorteil oder zum Nachteil einer Partei erfolgen. Bei der Verletzung von Normen über das Verfahren ist es daher erforderlich, dass durch den Verfahrensverstoß wenigstens die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung begründet wird, ohne dass durch die Verfahrensverletzung ein Vor- oder Nachteil tatsächlich eingetreten sein muss [12] .

Kollegialspruchkörper

In Spruchkörpern, die aus mehreren Richtern bestehen, begeht ein Richter, der gegen eine rechtsbeugerische Entscheidung stimmt, aber von der Mehrheit überstimmt wird, nach herrschender Meinung keine Rechtsbeugung und auch keine Beihilfe hierzu.[13] Eine Mindermeinung sieht in der Mitwirkung jedes Richters, unabhängig davon, ob er für oder gegen die Entscheidung stimmt, eine Mittäterschaft an der Rechtsbeugung gemäß § 25 Abs. 2 StGB, weil ohne die Mitwirkung aller Richter, insbesondere bei der Unterschriftsleistung, die rechtsbeugende Entscheidung nicht hätte erlassen werden können.[14]

Das Beratungsgeheimnis (§ 43 DRiG) steht einer Beweisaufnahme über das Abstimmungsverhalten nicht entgegen [15]. Auch der angeklagte Richter darf sich über das Abstimmungsverhalten äußern. Das Beratungsgeheimnis darf aber nicht in einem Ermittlungsverfahren oder in Verfahren bei Verwaltungsbehörden preisgegeben werden. Soll ein Richter vor Gericht als Zeuge vernommen werden, so trifft diesen keine Aussagepflicht, ihm steht aber ein Aussagerecht zu. Ob und inwieweit der Richter über den Hergang bei Beratung und Abstimmung aussagt, bestimmt er nach pflichtgemäßem Ermessen selbst.[16]. Da möglicherweise nicht nachgewiesen werden kann, welche Richter die rechtsbeugerische Entscheidung getragen haben, wenn alle Mitglieder des Spruchkörpers sich nicht über ihr Abstimmungsverhalten äußern, sprechen Kritiker von einer „strukturellen Straflosigkeit“ und einem „Rechtsbeugungsprivileg“ des Kollegialgerichts.[14]

Bei Entscheidungen, die nur einstimmig ergehen können (etwa § 522 Abs. 2 ZPO, § 349 Abs. 2 und Abs. 4 StPO, § 130a VwGO), steht hingegen die Verantwortlichkeit jedes Richters fest, sodass sich keine Besonderheiten ergeben.

Subjektiver Tatbestand

Gemäß § 15 StGB ist Rechtsbeugung nur strafbar, wenn sie vorsätzlich begangen wird, wobei bedingter Vorsatz ausreicht [17]. Da die Rechtsprechung des BGH aber für die Handlung der Rechtsbeugung eine bewusste Falschanwendung des Rechts verlangt, kann entgegen dem Gesetzeswortlaut bei bloß bedingtem Vorsatz im Ergebnis nicht wegen Rechtsbeugung verurteilt werden, da ein bewusster Rechtsbruch mit bedingtem Vorsatz kaum vorstellbar ist [18]. Ein Richter, der eine bewusst gesetzwidrige Entscheidung erlässt, begeht aber auch dann Rechtsbeugung, wenn er die Entscheidung für gerecht hält.

Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen, insbesondere auch auf die falsche Anwendung des Rechts. Es wird mitunter als widersinnig kritisiert, dass bei der Rechtsbeugung der Irrtum über das Recht den Vorsatz entfallen lässt (Tatbestandsirrtum gemäß § 16 StGB) und damit zwingend zur Straflosigkeit führt, während bei allen anderen Straftatbeständen der Irrtum über das Recht als Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB nur zum Wegfall der Schuld führt, und das auch nur, wenn der Irrtum unvermeidbar war, während ein vermeidbarer Irrtum nur zu einer Strafmilderung führen kann, aber nicht führen muss [19].

Sperrwirkung

Nach der Rechtsprechung [20] kommt dem Tatbestand der Rechtsbeugung zum Schutze der Unabhängigkeit der Rechtspflege eine Sperrwirkung zu: Wegen einer Tätigkeit bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache kann nach anderen Vorschriften (etwa wegen Freiheitsberaubung im Amt oder - bei der Verhängung der Todesstrafe durch NS- oder DDR-Richter - wegen Totschlags) nur verurteilt werden, wenn zugleich der Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt ist.

Beispielsfälle aus der BGH-Rechtsprechung

Im folgenden einige Beispielsfälle aus der Rechtsprechung des BGH:

  • Urteil vom 23. Mai 1984 [21]: Ein Jugendstaatsanwalt hatte Ermittlungsverfahren gegen Jugendliche eingestellt, nachdem er die Jugendlichen körperlich gezüchtigt hatte, ohne die Züchtigung in den Akten zu vermerken. Der BGH hielt angesichts des eindeutig gesetzwidrigen Vorgehens des Staatsanwalts das Vorliegen von Rechtsbeugung für möglich und verwies die Sache zur weiteren Feststellung hinsichtlich des Vorsatzes an das Landgericht zurück. Im weiteren Verfahrensverlauf ist der Staatsanwalt wegen Rechtsbeugung verurteilt worden.
  • Urteil vom 5. Dezember 1996 [22]: Ein nicht zuständiger Amtsrichter hatte einem Beschuldigten Haftverschonung gewährt. Der BGH hob die Verurteilung des Amtsrichters wegen Rechtsbeugung auf, weil das Landgericht den Verfahrensfehlern des Amtsrichters zu viel Gewicht beigemessen hatte und keine ausreichenden Feststellungen zum Vorsatz getroffen hatte.
  • Urteil vom 19. Dezember 1996 [23]: Eine Amtsrichterin hatte in fünf Fällen in Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen kein Fahrverbot verhängt, obwohl das Rechtsbeschwerdegericht die vorangegangenen Entscheidungen der Richterin, in denen sie ebenfalls kein Fahrverbot verhängt hatte, aufgehoben hatte und obwohl jeweils ein Regelfall für die Verhängung eines Fahrverbots nach der Bußgeldkatalogverordnung vorlag. Der BGH bestätigte das Urteil des Landgerichts, in dem die Richterin freigesprochen wurde: Zum einen liege eine Verletzung des Verfahrensrechts (Missachtung der Bindungswirkung der vorangegangenen Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts) nicht vor, außerdem stelle nicht jede Verletzung des Verfahrensrechts eine Rechtsbeugung dar.
  • Urteil vom 20. September 2000 [24]: Ein Amtsrichter, Direktor des Amtsgerichts, hatte zu Gunsten seiner Tochter eine verwaltungsprozessuale einstweilige Anordnung erlassen, obwohl die Sache nicht in die Zuständigkeit des Amtsgerichts, sondern des Verwaltungsgerichts fiel und er darüber hinaus als Vater der Antragstellerin kraft Gesetzes ausgeschlossen war. Der BGH stellte fest, dass das Vorgehen des Richters grob fehlerhaft war und dass Rechtsbeugung auch durch einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften begangen werden könne. Da aber das Landgericht keine ausreichenden Feststellungen zum Vorsatz getroffen habe, hob der BGH die erstinstanzliche Verurteilung auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Landgericht zurück. Das Landgericht Frankfurt/Main verurteilte den Amtsrichter dann am 25. April 2001 rechtskräftig zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Rechtsbeugung [25].
  • Urteil vom 4. September 2001 (Fall Schill) [26]: Ein Amtsrichter hatte die Beschwerden von zwei Störern, die er in Ordnungshaft genommen hatte, zwei Tage nicht an das zuständige Rechtsmittelgericht weitergeleitet. Der BGH stellte fest, dass die zögerliche Bearbeitung einer Rechtssache innerhalb eines objektiv vertretbaren Zeitraums Rechtsbeugung sei, wenn der Richter mit seiner Verfahrensweise aus sachfremden Erwägungen gezielt zum Vorteil oder Nachteil einer Partei handele. Da aber das Landgericht keine genügenden Feststellungen zum Vorsatz getroffen habe, hob der BGH die erstinstanzliche Verurteilung auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Im weiteren Verfahren wurde der Richter rechtskräftig freigesprochen.
  • Beschluss vom 24. Juni 2009 [27]: Ein Vormundschaftsrichter hatte gegenüber in Pflegeheimen befindlichen Personen freiheitsentziehende Maßnahmen sowie die Verlängerung der Unterbringung genehmigt und dabei entgegen der ihm bekannten gesetzlichen Verpflichtung systematisch darauf verzichtet, die Betroffenen zuvor persönlich anzuhören und sich einen unmittelbaren Eindruck von ihnen zu verschaffen, um die Verfahren leichter und schneller entscheiden können und sich Arbeit ersparen. Um den Anschein ordnungsgemäß durchgeführter Anhörungen zu erwecken, erstellte er formularmäßig vorgefertigte Anhörungsprotokolle, die er zu den Verfahrensakten nahm. Das Landgericht Stuttgart [28] verurteilte den Richter wegen vollendeter Rechtsbeugung in 47 und versuchter Rechtsbeugung in sieben Fällen zu einer dreieinhalbjährigen Freiheitsstrafe. Der BGH begründete die Verwerfung der Revision damit, dass Rechtsbeugung auch durch den Verstoß gegen elementare Verfahrensvorschriften begangen werden kann. Die gesetzliche Anhörungspflicht in auf freiheitsentziehende Maßnahmen angelegten Verfahren sah der BGH als wesentlich an.

Rechtsbeugung in der Zeit des Nationalsozialismus

Umstritten ist die Frage, inwieweit die Rechtsanwendung von Gerichten während der Zeit des Nationalsozialismus als Rechtsbeugung zu bewerten ist. In der Bundesrepublik Deutschland sind zwar etliche im so genannten Dritten Reich tätige Richter wegen Rechtsbeugung angeklagt worden, es kam aber nur sehr selten zu rechtskräftigen Verurteilungen [29]. Teilweise wurde den Richtern zugute gehalten, dass sich die Entscheidungen im Rahmen des damals gültigen Rechts bewegt hätten, teilweise wurden Freisprüche damit begründet, dass jedenfalls der Vorsatz der Rechtsbeugung nicht nachweisbar sei [30]. Ein bekanntes Beispiel ist der Fall des beim Volksgerichtshof als Beisitzer des Gerichtspräsidenten Roland Freisler eingesetzten Kammergerichtsrats Hans-Joachim Rehse. Der Bundesgerichtshof bedauerte in einem Urteil aus dem Jahr 1995 selbst, dass auf Grund von „folgenschweren Versagens der bundesdeutschen Justiz“ NS-Richter nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind.[31]

Rechtsbeugung in der DDR

Die Problematik der Rechtsbeugung stellte sich in Deutschland erneut im Zusammenhang mit der Bewältigung von durch DDR-Richter begangenem Justizunrecht. Der Bundesgerichtshof stellte - unter Rückgriff auf die so genannte Radbruchsche Formel - drei Fallgruppen heraus, in denen Richter und Staatsanwälte der DDR Rechtsbeugung begangen haben können [32]:

  • Fälle, in denen Straftatbestände unter Überschreitung des Gesetzeswortlautes oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit bei der Anwendung derart überdehnt worden sind, dass eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist.
  • Ferner Fälle, in denen die verhängte Strafe in einem unerträglichen Missverhältnis zu der abgeurteilten Handlung stand, so dass die Strafe, auch im Widerspruch zu den Vorschriften des DDR-Strafrechts, als grob ungerecht und schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muss.
  • Des Weiteren schwere Menschenrechtsverletzungen durch die Art und Weise der Durchführung von Verfahren, namentlich Strafverfahren, in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners oder einer bestimmten sozialen Gruppe dienten.

Dabei beharrte der Bundesgerichtshof darauf, dass in subjektiver Hinsicht nach dem insoweit anzuwendenden § 244 StGB der DDR der Nachweis des direkten Vorsatzes erforderlich sei. Angesichts der hohen objektiven Schranke für die Annahme von Rechtsbeugung in politischen Strafverfahren der DDR stehe aber in vielen krassen Fällen die Annahme des direkten Rechtsbeugungsvorsatzes außer Frage [33].

Literatur

  • Volker Käswieter: Der Begriff der Rechtsbeugung im deutschen Strafrecht. Aachen: Shaker, 1989, 267 p. (Berichte zur Rechtswissenschaft)
  • Carsten Thiel: Rechtsbeugung § 339 StGB, Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870. Berlin: BWV Berliner-Wissenschaft, 2004.

Weblinks

  • § 339 StGB (dejure, mit Rechtsprechung)

Einzelnachweise

  1. Fischer, Kommentar zum StGB, 55. Auflage 2008, § 339 Rz. 2
  2. BGH, Urteil vom 4. September 2001, Az. 5 StR 92/01; BGHSt 47, 105-116
  3. Fischer, Kommentar zum StGB, 55. Auflage 2007, § 339 Rz. 15 - 15b; Spendel in Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Auflage 1988, Band 7, § 336 a. F. StGB Rz. 36ff. jeweils mit weiteren Nachweisen
  4. Bemmann, Seebode, Spendel: Rechtsbeugung - Vorschlag einer notwendigen Gesetzesreform, in: ZRP 1997, 307f.
  5. Fischer, Kommentar zum StGB, 55. Auflage 2008
  6. Spendel in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Auflage 1988, Band 7, § 336 a. F. Rz. 41; Heine in: Schönke / Schröder, Kommentar zum StGB, 27. Auflage, § 339 Rz. 5a; jeweils mit weiteren Nachweisen
  7. Musielak, Die Rechtsbeugung (§ 336 StGB), Dissertation Köln 1960; Sarstedt, Fragen zur Rechtsbeugung, Heinitz-Festschrift (1972), Seite 427
  8. Rudolphi, Zum Wesen der Rechtsbeugung, ZStW 82 (1970), Seite 610
  9. BGHSt 24, 326
  10. Spendel in Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Auflage 1988, Band 7, § 336 a. F. Rz. 53 mit weiteren Nachweisen
  11. Tröndle / Fischer, Kommentar zum StGB, 54. Auflage 2007, § 339 Rz. 13
  12. BGHSt 42, 343, 346, 351
  13. Tröndle / Fischer, StGB, 54. Auflage 2007, § 339 Rz. 8
  14. a b Strecker, Betrifft Justiz Nr. 96, Dezember 2008, S. 377ff.
  15. RGZ 89, 13, 16; Spendel, Das richterliche Beratungsgeheimnis und seine Grenze im Strafprozess, ZStrW 65 (1953) Seiten 406ff, 418
  16. OLG Naumburg, Beschluss vom 6. Oktober 2008, Az. 1 Ws 504/07 - Fall Görgülü
  17. BGHSt 40, 276; 41, 336
  18. Tröndle / Fischer, StGB, 54. Auflage 2007, § 339 Rz. 19
  19. Ingo Müller, Justiz ohne Gewissen - Justiz „nach bestem Wissen und Gewissen“; Beitrag auf der Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll vom 4. bis 6. Mai 2007, Tagungsnummer 520507
  20. BGHSt 10, 294; 32, 364
  21. Az. 3 StR 102/84; BGHSt 32, 365
  22. Az. 1 StR 376/96; BGHSt 343-356
  23. Az.5 StR 472/96; NJW 1997, 1455
  24. Az. 2 StR 276/00; NStZ-RR 2001, 243-244
  25. Az. 5/2 KLs (N 9/00) - 3290 Js 211012/01
  26. Az. 5 StR 92/01; BGHSt 47, 105-116
  27. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009, Az. 1 StR 201/09, HRRS 2009 Nr. 725
  28. Richter ließ Senioren ans Bett fesseln, Der Spiegel, 14. November 2008
  29. Eine Ausnahme war die Verurteilung im Regensburger-Standgerichts-Fall OLG Nürnberg Just. und NS-Verbrechen II 318, siehe Spendel, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Auflage 1988, 7. Band, § 336 Rn 11
  30. Ingo Müller, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit der Justiz, München 1989
  31. BGH, Urteil vom 16. November 1995, Az. 5 StR 747/94; BGHSt 41, 317-347
  32. BGH, Urteil vom 22. Oktober 1996, Az. 5 StR 232/96; NStZ 1997, 127-129
  33. BGH, Urteil vom 26. Juli 1999, Az. 5 StR 94/99; NStZ 1999, 361
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