Ranajit Guha

Ranajit Guha

Ranajit Guha (* 23. Mai 1922 in einem Dorf in der Nähe von Barishal, heute Bangladesch) ist ein prominenter indischer Historiker. Im Westen wurde er zunächst als führendes Mitglied der Subaltern Studies Group bekannt. In den 1960 Jahren emigrierte er von Indien nach Großbritannien, gegenwärtig lebt er in Wien.

Guha hat mehrere Bücher über Geschichte, Geschichtsschreibung und Politik geschrieben. Sein Buch Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India wird allgemein als Klassiker angesehen.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Guhas Vater war Grundbesitzer und Rechtsanwalt. Sein Großvater, ein gebildeter Steuerbeamter, lehrte ihn Bengalisch, Sanskrit und Englisch. Guha studierte am renommierten Presidency College in Kolkata. Dort wurde er Marxist und Mitglied der Kommunistischen Partei (CPI). Er war Schüler von Sushoban Sarkar; ihm und N. Sinha ist A Rule of Property for Bengal. An Essay on the Idea of Permanent Settlement (1963) gewidmet (Archivarbeit).

1946 erwirbt er den Masterabschluss an der University of Calcutta. Die Jahre 1946–1952 sind durch intensives politisches Engagement geprägt. Kurzfristig arbeitet er an der Parteizeitung Swadhinata. 1947 reist er als Delegierter beim Treffen der World Federation of Democratic Youth nach Paris. Er unternimmt mehrjährige Reisen in Europa, kehrt 1953 nach Kolkata zurück, arbeitet kurzfristig in den Keshoram Cotton Mills, kehrt aber dann zur akademischen Tätigkeit zurück, unterrichtet an verschiedenen Colleges, arbeitet in Archiven und weiterhin für die Partei.

1956 tritt er aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn aus der CPI aus. 1958/59 wird Guha Mitglied des neu gegründeten historischen Abteilung an der Jadavpur University unter der Leitung von Sushoban Sarkar. 1959-1980 lehrt Guha in England, zunächst an der Universität Manchester, später als Lektor an der School of African and Asian Studies an der Sussex University. 1970/71 hält er sich zu einem Forschungsurlaub in Indien auf, hat Kontakte mit maoistischen Studenten und beginnt, Bauernaufstände zu erforschen, statt ein bereits beauftragtes Buch über Gandhi zu schreiben. Erste Ergebnisse werden in der radikalen Zeitschrift Frontier, später im Journal of Peasant Studies veröffentlicht.

Aus intensiven Diskussionen mit jüngeren Historikern über das koloniale Indien Ende der 1970er Jahre gehen die Subaltern Studies hervor. 1982 erscheint statt der ursprünglich geplanten Zeitschrift der erste Band bei der Oxford University Press in Delhi. 1983 erscheinen seine Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India in Delhi. Seit den späten 1980er Jahren war Guha Senior Research Fellow in Canberra.

1988 gibt Guha zusammen mit Gayatri Chakravorty Spivak die Selected Subaltern Studies heraus. Die Anthologie mit einem Vorwort von Edward Said erlangt internationale Aufmerksamkeit. 1989 zieht sich Guha aus Altersgründen von der Herausgeberschaft der Subaltern Studies zurück.

1996 erscheint Dominance without Hegemony. History and Power in Colonial India bei der Harvard University Press (Cambridge, USA), eine tiefgreifende Kritik der Geschichtsschreibung über Indien während und nach der Kolonialzeit. Das Buch beruht auf drei Essays, die mit dem Projekt der Subaltern Studies verbunden sind und ist seinen „Mitarbeitern beim Subaltern Studies Projekt 1974-1989“ gewidmet.

1997 gibt Guha bei der University of Minnesota Press (Minneapolis) einen zweiten Auswahlband heraus, Subaltern Studies Reader, 1986-1995. 2001 wird er Gastprofessor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien. 2002 erscheint History at the Limit of World-History, ein weiteres historiographisches Werk bei den University Presses of California, Columbia und Princeton.

Werke

A Rule of Property for Bengal. An Essay on the Idea of Permanent Settlement (1963)

Guhas erstes großes Buch ist der Vorgeschichte des Permanent Settlement, einer umfassenden Regelung der Landbesteuerung durch die Engländer, gewidmet. Durch seine Gründlichkeit etabliert es Guhas Reputation bei den Spezialisten der indischen Geschichte.

Subaltern Studies

Ranajit Guhas Vorwort zum ersten Band der Subaltern Studies beginnt mit den Worten:

„Ziel der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen, der ersten einer geplanten Reihe, ist der Anstoß einer systematischen und informierten Diskussion über Themen der Subalternität im Rahmen südasiatischer Studien, und damit eine Hilfe zur Korrektur des elitär ausgerichteten Charakters vieler Forschung und akademischer Arbeit in diesem Gebiet. Das Wort subaltern im Titel steht für die Bedeutung, wie sie das Concise Oxford Dictionary gibt, also ‚von niedrigem Rang‘. Es wird auf diesen Seiten als Name für das allgemeine Attribute der Unterordnung in der südasiatischen Gesellschaft verwendet, ob sie sich nun in den Begriffen von Klasse, Rasse, Kaste, Alter, Geschlecht, Amt oder in anderer Weise ausdrückt.“[1]

Das Wort subaltern, das in seiner engen militärischen Bedeutung einen niederen Offiziersrang unmittelbar unter dem des Hauptmann (Captain) meint, scheint hier in einer sehr allgemeinen Bedeutung gebraucht. Subaltern ist jede und jeder, die oder der nicht zur Elite gehört. So scheint die Gesellschaft in zwei Teile zu zerfallen, eine allzu schlichte Einteilung, die allen marxistischen Bemühungen um eine differenzierte Klassenanalyse, mehr noch aber den um Differenziertheit bemühten Beschreibungen der Schichten und Kasten Indiens durch die akademische Soziologie Hohn spricht.

Guha und seinen Mitarbeitern geht es aber weder um eine soziologische Klassifikation noch primär um die Beschreibung des Verhältnisses der Akteure zu den Produktionsmitteln, obwohl dies für sie natürlich immer eine Rolle spielt. Vielmehr geht es zunächst darum, den Unterschied zwischen zwei Bereichen politischen Handelns in den Blick zu bekommen.

Nur wenn es gelingt, „the politics of the people“ (S. 4) als einen eigenständigen Handlungsbereich auszuweisen, wird die Stimme der Subalternen vernehmbar: „Die Stimme, lange unbeachtet von denen, die in der zugemauerten Stadt institutioneller Politik und akademischer Wissenschaft lebten, schallte heraus aus den Tiefen einer autonomen Parallelwelt, in die der elitäre Nationalismus nur teilweise eingedrungen war.“ [2] Die koloniale und nachkoloniale Gesellschaft Indiens ist für die Autoren und (wenigen) Autorinnen der Subaltern Studies von einer tiefen sozialen und kulturellen Kluft geprägt, deren politische und historische Implikationen von der herrschenden Geschichtsschreibung ignoriert wurden.

Nur so konnte Guha zufolge ein Teil der Geschichte für das Ganze ausgegeben werden, konnte die Auseinandersetzung zwischen den der indischen Bourgeoisie entstammenden und ihre Interessen vertretenden Führern der Nationalisten und den Briten als der freedom struggle dargestellt werden. Es spielt dabei für die Subaltern Studies kaum eine Rolle, ob die bürgerlichen Führer der Nationalisten als glühende idealistische Patrioten oder als frustrierte Postenjäger porträtiert werden – in jedem Fall gelte der elitären Geschichtsschreibung die Masse als bloßes Material, das von den Führern begeistert ist, oder – wo sie unabhängig von ihnen handelt – zu irrationalen Gewaltausbrüchen neigt.

Dabei bleibt Guha in mancher Beziehung dem leninistischen Verständnis der Massen verhaftet, nach der die Arbeiter von selbst kein revolutionäres Bewusstsein entwickeln und deshalb der Führung durch eine straff organisierte Kaderpartei bedürfen. Was Lenin über die Arbeiter sagt, behauptet Guha ähnlich von den Bauern. Weil die Arbeiterklasse noch zu schwach war, warteten die peasants vergeblich: „Im Ergebnis warteten viele Bauernaufstände in dieser Zeit, obwohl manche durchaus einen großen Umfang und ein starkes antikolonialistischen Bewusstsein hatten, umsonst auf eine Führung, die sie aus der lokalen Begrenzung in eine nationale antiimperialistische Kampagne hätte führen können.“[3]

Den Subaltern Studies geht es so wenig um eine bloß additive Geschichtsschreibung wie der feministischen Geschichtsschreibung. Ob sie ihren Intentionen treu geblieben sind, kann daher auch nicht einfach an der Anzahl der Aufsätze über subaltern groups gemessen werden. Wie die feministische Forschung auch das klassische Verständnis von Staat und Wirtschaft in Frage gestellt hat, so sehen die Subaltern Studies auch die Eliten mit anderen Augen.

Dominance without Hegemony. History and Power in Colonial India

Schon in einem Kapitel seines ersten Buchs hatte sich Guha kritisch mit der herrschenden Geschichtsschreibung über Indien auseinandergesetzt. Das große Buch über die Bauernaufstände und die Subaltern Studies war der Versuch, der eliteorientierten Geschichtsschreibung etwas entgegenzusetzen, Geschichte also anders zu schreiben. In Dominance without Hegemony fordert Guha seine Kollegen zur Rechenschaft auf darüber, wie die Geschichtsschreibung selbst in die beschriebenen Verhältnisse verwickelt ist.: Die Grundbedingungen einer Kritik der Geschichtsschreibung Indien habe von dem besonderen Charakter der Macht Englands auszugehen. Guha nähert sich damit der Foucaultschen Thematik der Verschränkung von Wissen und Macht.

History at the Limit of World-History (2002)

Guhas bisher letztes Buch ist im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Weltgeschichte bei Hegel sowie eine Konfrontation des gewöhnlichen historiographischen Diskurses mit den Erkenntnismöglichkeiten eines poetischen Diskurses (Rabindranath Tagore).

Theoretischer Hintergrund

Guha ist immer Marxist geblieben. Unter allen marxistischen Theoretikern hat ihn Antonio Gramsci am stärksten beeinflusst. Guhas Lehrer Sushoban Sarkar hatte schon sehr früh – Ende der 1950er Jahre – begonnen, mit seinen Studenten Gramsci zu diskutieren. In den 1960er Jahren wurde Gramsci dann intensiv in der britischen Zeitschrift New Left Review besprochen. Entscheidend für die Rezeption in der englischsprachigen Welt wurden die Selections from the Prison Notebooks[4]. Gramsci wurde in den 1970er Jahren breit diskutiert, vor allem natürlich von Marxisten, die eine enge ökonomistische Interpretation der Geschichte ablehnten. Hier finden sich die „Notes on Italian History“, auf die sich Guha im Vorwort zu Subaltern Studies 1 direkt bezieht: „Natürlich werden wir vergeblich darauf hoffen, dass der Umfang der Beiträge zu diese Serie auch nur entfernt dem sechsteiligen Projekt entspricht, das Antonio Gramsci für seine Notes on Italian History ins Auge faste“.[5]

Gramsci nennt:

  1. „Die objektive Herausbildung der subalternen Gruppen durch Entwicklungen und Transformationen, die sich in der Sphäre der ökonomischen Produktion vollziehen; ihre quantitative Verbreitung und ihre Ursprünge in früher existierenden sozialen Gruppen, deren Mentalität, Ideologie und Ziele sie für einige Zeit bewahren,
  2. ihre aktive oder passive Zugehörigkeit zu der dominierenden politischen Formation, ihre Versuche die Programme dieser Formation zu beeinflussen, um ihre eigenen Ansprüche durchzusetzen und die Konsequenzen aus diesen Versuchen, soweit sie den Prozess des Auseinanderfallens, der Erneuerung und der Neuformierung dieser Formationen betreffen,
  3. die Geburt neuer Parteien in den dominierenden Gruppen, die dazu bestimmt sind, die Zustimmung der subalternen Gruppen und die Kontrolle über sie zu bewahren,
  4. die Formationen, die die subalternen Gruppen selbst hervorbringen, um begrenzte und partielle Forderungen durchzusetzen,
  5. die neuen Formationen, die die Autonomie der subalternen Gruppen behaupten - dies aber innerhalb der alten Ordnung
  6. Die Formationen, die deren integrale Autonomie behaupten...“[6]

Generell betont Gramsci stärker als Guha die ideologische Abhängigkeit der subalternen Gruppen von den dominierenden Gruppen. Guhas Hegemonie ähnelt der „intellektuellen und moralischen Führung“, von der Gramsci spricht[7]. Die Kriterien der Definition sind jedoch andere: Guha geht es um die Mittel der Herrschaft – wenn eher Überredung (persuasion) als offene Gewalt (coercion) angewendet wird, spricht Guha von Hegemonie. Gramsci hingegen ist vor allem wichtig, auf welche Gruppe sich die herrschende Gruppe bezieht: A social group dominates antagonistic groups, which it tends to „liquidate“, or to subjugate perhaps even by armed force; it leads kindred and allied groups.[8]

Einzelnachweise

  1. „The aim of the present collection of essays, the first of a series, is to promote a systematic and informed discussion of subaltern themes in the field of South Asian studies, and thus to help to rectify the elitist bias charateristic of much research and academic work in this particular area. The word ‚subaltern‘ in the title stands for the meaning as given in the Concise Oxford Dictionary, that is , ‚of inferior rank‘. It will be used in these pages as a name for the general attribute of subordination in South asian scociety whether this is expressed in terms of class, caste, age, gender and office or in any other way.“ (S. vii)
  2. „The voice, unheeded for a long time by those who lived within the walled city of institutional politics and academic scholarship, rang out of the depths of a parallel and autonomous domain which was only partially penetrated by the elite nationalism.“ - Ranajit Guha, Dominance without Hegemony. Cambridge (USA) 1997, S. 134
  3. „The outcome of it all was that the numerous peasant uprisings of the period, some of them massive in scope and rich in anticolonialist consciousness waited in vain for a leadership to raise them above localism and generalize them into a nationwide anti-imperialist campaign.“, S. 6
  4. Selections from the Prison Notebooks, herausgegeben und übersetzt von Quintin Hoare und Geoffrey Nowell Smith, London 1971
  5. „It will be idle of us, of course, to hope that the range of contributions to this series my even remotely match the six-point project envisaged by Antonio Gramsci in his Notes on Italian History“.
  6. a.a.O., p.52
  7. „intellectual and moral leadership“, Seite 57
  8. (a.a.O., Seite 57)

Sekundärliteratur

  • Reading Subaltern Studies. Critical History, Contested Meaning and the Globilization of South Asia, hrg. Von David Ludden, London 2001
  • Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, hrg. von Vinayak Chaturvedi, London und New York 2000

Weblinks



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