Raetia prima

Raetia prima
Churrätien im Frühmittelalter

Churrätien ist ab dem Frühmittelalter bis in die frühe Neuzeit eine Bezeichnung für denjenigen Teil der spätrömischen früheren römischen Provinz Raetia prima, der in der Zeit der Völkerwanderung seinen sprachlichen und kulturellen Charakter erhalten konnte und weiterhin von Curia (Chur) aus verwaltet wurde. Die Raetia prima hiess bereits in der Römerzeit auch nach ihrer Hauptstadt Raetia Curiensis. «Churrätien» ist also zunächst nichts anderes als die deutsche Übersetzung der lateinischen Bezeichnung. Verwendet wird dieser deutsche Name aber üblicherweise nur für den zentralen und südlichen Teil der früheren Provinz, nachdem in der Völkerwanderungszeit, wohl zwischen 400 und 600, der nördliche Teil zwischen Konstanz und Bregenz unter völliger Verdrängung bzw. Assimiliation der romanisierten Bevölkerung alemannisch besiedelt wurde. Dagegen blieb im Bereich Churrätiens die romanische Kultur noch einige Jahrhunderte und teilweise bis heute erhalten, weshalb es auch als «Churwalchen» oder «Churwahlen» bezeichnet wurde – wobei walch oder welsch aus deutscher Sicht die romanische Sprache und Kultur meint.

Inhaltsverzeichnis

Ausdehnung

Der genaue Umfang Churrätiens lässt sich heute nicht mehr exakt feststellen und änderte sich wohl auch im Laufe der Jahrhunderte. Den Kern Churrätiens bildete das heutige Graubünden ohne Misox und Puschlav, das heutige Liechtenstein, in Vorarlberg der Walgau samt Feldkirch, Damüls, Großwalsertal und Montafon, das St. Galler Rheintal und das Sarganserland; ferner gehörten zunächst dazu der Vinschgau (bis ins 12. Jahrhundert) und das Urseren; möglicherweise auch Galtür im Paznaun und der heutige Kanton Glarus.

Organisatorisch deckte sich Churrätien im wesentlichen mit dem damaligen Bistum Chur. Vermutlich hatte der Churer Bischof in der Völkerwanderungszeit die Verwaltung der Raetia prima übernommen, nachdem sich zunächst die Römer und dann die Ostgoten auf die Verwaltung und Verteidigung ihrer Kernlande konzentrieren mussten. Erst die Reorganisation des Bistums Chur nach dem 1815 passte die historischen Grenzen den veränderten politischen Bedingungen an.

Geschichte

Die römische Provinz Raetia

Die Schweiz in römischer Zeit

Unter dem Provinznamen →Raetia (ursprünglich Raetia et Vindelicia) waren in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. die 15 v. Chr. eroberten Gebiete des Alpenvorlands zwischen Donau und Inn, der heutigen Schweiz südlich des Bodensees sowie des nördlichen Tirols unter der römischen Herrschaft zusammengefasst worden. Um 180 wurde Raetia zur kaiserlichen Provinz 2. Klasse, verwaltet von einem Senator mit praetorischem Rang, um schliesslich ab dem 4. Jahrhundert entlang des Bodensees und der Nordalpen, zur Diözese Italia gehörig, in Raetia prima (Curiensis) und Raetia secunda (Vindelica) aufgeteilt zu werden. Die beiden unter einen Dux Raetiae gestellten Teilprovinzen wurden nun von praesides, Statthaltern niederen Ranges, verwaltet. Von deren Residenzen Curia (Chur) und Augusta Vindelicorum (Augsburg) leiteten sich die späteren deutschen Bezeichnungen «Churrätien» und «Vindelicien» ab.

Das Gebiet der römischen Provinz Raetia prima seit dem 4. Jahrhundert ist aus Quellen kaum zu erkennen. Lange herrschte die Meinung vor, sie habe einfach den alpinen Teil der Vorgängerprovinz Raetia umfasst, also auch die Nordalpen bis Kufstein, das Inntal von Finstermünz abwärts bis zum Zillertal und das obere Eisacktal.[1] Der Neue Pauly (2001) und Heuberger (1930e, ohne Vinschgau seit 1932) geben dagegen ungefähr die Argen als Nordgrenze und die Westgrenze als von Isny über den Arlberg durchs Val Müstair zum Stilfser Joch verlaufend an. Ob auch das nördliche Tessin mit Bellinzona und das italienische Eschental zur Raetia prima gehörten, ist nicht sicher belegt.[2]

Ende der Römischen Herrschaft - Völkerwanderungszeit

Die römischen Provinzen im Alpenraum um 395 n. Chr.
Die historische kirchliche Einteilung der Schweiz

Mit dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft um 476 riss für Churrätien die Verbindung mit Italien nicht ab, im Gegenteil, schon die Ostgoten unter Theoderich setzten in der Provinz Raetia prima zur Sicherung Italiens wieder einen Dux (deutsch: Herzog) ein. Dieser hatte aber rein militärische Befugnisse. Für die Zivilverwaltung erhielt sich das Amt des praeses. Der Hauptsitz dieser Verwaltung war Chur, das 452 erstmals als Bischofssitz erwähnt wurde.

Bereits von 533 bis 548 bemächtigten sich die Franken unter König Theudebert I. des strategisch wichtigen Churrätiens, womit die politische Verbindung dieses Gebietes mit Italien endgültig abriss.

Aus der Merowingerzeit gibt es fast keine gesicherten Informationen über Churrätien. Sicher ist nur, dass weiter Handel zwischen dem nun langobardischen Italien und dem Norden getrieben wurde. Die Geschichtsschreibung ist sich darin einig, dass sich Churrätien in dieser Zeit weitgehender Selbständigkeit erfreute, ohne dass die Bindung ans Frankenreich ganz gelöst wurde. Erst die Alamannenzüge 710 bis 712 und die endgültige Wiedereingliederung Alamanniens ins Frankenreich durch Karl Martell um 740 brachten auch Churrätien wieder näher ans fränkische Reich.

Die politische Kontrolle über Churrätien lag während der fränkischen Herrschaft in der Hand der Churer Adelsfamilie der Victoriden. Verschiedene Vertreter dieser Dynastie verbanden das alte politische Amt des praeses mit der Würde des Bischofs von Chur. So gelang es ihnen sowohl das alte römische Kaiser- und Fiskalgut wie auch Kirchengüter zu kontrollieren.

Eingliederung ins Frankenreich - die Grafschaft (Chur-)Rätien

Alamannien und Hochburgund im 10. und 11. Jahrhundert

Mit dem Tod des Churer Bischofs Tello (765) endete die Victoridenherrschaft. Karl der Grosse nutzte die Gelegenheit, indem er dessen Nachfolger, Bischof und Rector Constantius, 772/74 eine Schutzurkunde ausstellte, um ihn wieder an die Königsherrschaft zu binden. Dessen Nachfolger Remedius kam dann bereits vom Kaiserhof. Den Tod des Remedius (ca. 806) benutzte Karl dann zur endgültigen Integration des strategisch wichtigen Churrätiens in sein Reich. Indem er eine Ausscheidung zwischen Reichs- und Kirchengut vornahm (divisio inter episcopatum et comitatum) entzog er den Bischöfen von Chur praktisch die materielle Grundlage ihrer weltlichen Herrschaft, da offenbar diese «Teilung» den grössten Teil des bischöflichen Guts in Königsgut umwandelte. Weiter wurde in Churrätien die Grafschaftsverfassung eingeführt, also auch direkt die weltliche von der geistlichen Gerichtsgewalt geschieden.

Als Graf von Churrätien (comes curiae/curiensis) wurde Hunfried I. eingesetzt, dem das Königsgut als Herrschaftsgrundlage diente. Der Umfang dieses Königsguts wird durch ein Urbar des Reichsguts in Churrätien aus der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts zumindest teilweise überliefert. Dieses scheint aufgenommen worden zu sein als Reaktion auf vier Klageschriften des Bischofs Victor III. von Chur an Kaiser Ludwig den Frommen (825), in denen sich der Bischof über die Übergriffe des Grafen Roderich auf das dem Bistum noch verbliebene Gut beschwerte.

Die (Mark-)Grafschaft (Chur-)Rätien bildete fortan einen Teil des fränkischen Reiches. Im Jahre 917 proklamierte Markgraf Burchard II. von Churrätien das Herzogtum Schwaben. Unter seinen Nachfolgern wurde Churrätien deshalb Teil des Herzogtums Schwaben und mit diesem wiederum des Heiligen Römischen Reiches. Im 10. und 11. Jahrhundert bestanden in Churrätien drei Grafschaften: Oberrätien und Unterrätien, getrennt durch die Landquart und die Rätikonkette, sowie der Vinschgau, der auch das Unterengadin umfasste. Die Grafschaft über den Vinschgau fiel Mitte des 12. Jahrhunderts an die Grafen von Tirol, Oberrätien an die Grafen von Buchhorn und Unterrätien an die Grafen von Bregenz.

Adlige Herrschaften in Graubünden um 1367

Die Bischöfe von Chur konnten sich im Mittelalter zwar wieder verschiedene Herrschaftsrechte in Churrätien verschaffen, ihr weltlicher Einfluss blieb jedoch auf die Umgebung von Chur, das Domleschg, das Engadin, das Bergell, Chiavenna, Bormio und den Vinschgau beschränkt.

18. und 19. Jahrhundert - der helvetische Kanton Rätien

Die geographische Bezeichnung «Rätien» wurde im ganzen Mittelalter und vermehrt wieder im 18. und 19. Jahrhundert für den Freistaat der drei Bünde verwendet. Der Zusatz Chur-Rätien verschwand endgültig im 19. Jahrhundert. Als am 21. April 1799 der ehemalige Freistaat der drei Bünde als neuer Kanton in die Helvetische Republik aufgenommen wurde, erhielt dieser vorerst die Bezeichnung «Kanton Rätien», später Graubünden.

Siehe auch

Literatur

  • Otto P. Clavadetscher: Rätien im Mittelalter. Verfassung, Verkehr, Recht, Notariat. Ausgewählte Aufsätze. Festausgabe zum 75. Geburtstag. Thorbecke, Sigmaringen 1994. ISBN 3799570020
  • Otto P. Clavadetscher: Die Einführung der Grafschaftsverfassung in Rätien und die Klageschriften Bischof Viktor III. von Chur. in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Böhlau, Weimar 70.1953, S.46–111. ISSN 0323-4045
  • Otto P. Clavadetscher: Zum churrätischen Reichsgutsurbar aus der Karolingerzeit. Sonderdruck aus: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte. Schwabe, Basel 30.1950. ISSN 0036-7834
  • Reinhold Kaiser: Churrätien im frühen Mittelalter. Schwabe, Basel 1998. ISBN 3-7965-1064-7.
  • Ursus Brunold, Lothar Deplazes (Hrsg.): Geschichte und Kultur Churrätiens. Festschrift für Pater Iso Müller OSB zu seinem 85. Geburtstag. Disentis 1986. ISBN 3-85637-112-5
  • Sebastian Grüninger: Grundherrschaft im frühmittelalterlichen Churrätien. Dissertation Universität Zürich 2003. Disertina, Chur 2006. ISBN 3856373195
  • Elisabeth Meyer-Marthaler, Franz Perret (Hrsg.): Bündner Urkundenbuch. Bd 1. Bischofberger, Chur 1955.
  • Wolfgang von Juvalt: Forschungen über die Feudalzeit im Curischen Raetien. Zürich 1871.
  • Thomas von Mohr (Hrsg.): Codex Diplomaticus ad Historiam Raeticam. Sammlung der Urkunden zur Geschichte Cur-Raetiens und der Republik Graubünden. Bd 1. Chur 1863, Bd 2. Chur 1852–54.
  • Ulrich Stutz: Karls des Grossen divisio von Bistum und Grafschaft Chur. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichs- und Kirchenverfassung der fränkischen Zeit im allgemeinen und zur Geschichte Churrätiens sowie des Eigenkirchenrechtes im besonderen. Weimar 1909.

Weblinks

Anmerkung

  1. Vgl. R. Heuberger: Raetia prima und Raetia secunda (1930e bzw. Klio 1931), S. 352.
  2. Handbuch der Schweizer Geschichte Bd. 1, S. 68. Für den vollständigen Literaturüberblick siehe dort.

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