Radikale Demokratie

Radikale Demokratie

Der Begriff Radikaldemokratie (von lat. radix = die Wurzel betreffend und Demokratie) bezeichnet eine Form von Gemeinwesen bzw. Staat, in der die Macht unmittelbar von der Bevölkerung ausschließlich über das Relative Mehrheits-Wahlrecht ausgeübt wird. Statt sich „vertreten“ zu lassen, entscheidet sie selbst alle Gesetze in Volksentscheiden, die nur nach dem Relativen Mehrheits-Wahlrecht beschlossen oder abgelehnt werden können.

Das Vorhandensein aller staatlicher Institutionen, z. B. Schulen, Kindergärten, Armee etc. richtet sich danach. Die Reinform der Radikaldemokratie existierte bis jetzt nicht auf der Welt. Die Rätedemokratie unterscheidet sich insofern davon, als die Räte zwar der relativen Mehrheit unterstehen, aber im begrenzten Umfang auch wieder eigene "Ratsvorschläge" abgeben, die ihrerseits damit nicht mehr direkt der relativen Volksmehrheit unterstehen, als mehr nur der Mehrheit im Rat selber.

Die Radikaldemokratie sichert das Leben aller nicht prinzipiell und ist auch nicht auf einen Konsens ausgelegt, bei dem eine Minderheit über ihre Sperrminorität relative Mehrheitentscheidungen blockieren kann. Eine vertikale Gewaltenteilung existiert weitestgehend nicht. Exekutive und Judikative unterstehen auf jeder Ebene den Entscheidungen der relativen Volksmehrheit als Legislative.

Unternehmensentscheidungen könnten nicht gegen relative Mehrheiten in der Bevölkerung beschlossen werden, stellvertretende Institutionen wie Betriebsräte, Gewerkschaften sowie Vorstände würden sich damit in der Radikaldemokratie erübrigen, ebenso die Finanzhoheit der Leitung in karitativen Organisationen oder in den Banken, sofern keine relative Mehrheit in der Bevölkerung die Unterstützung für die jeweilige hierarchische Form beibehält.

Inhaltsverzeichnis

Ideengeschichtliche Herkunft

Ideengeschichtlich nimmt die Radikaldemokratie die Elemente verschiedener bestehender politischer Anschauungen und Utopien auf, insbesondere aus jenen Teilen des politischen Spektrums, die in der Tradition der Aufklärung stehen. Radikaldemokratische Ideen finden sich traditionell einerseits in vielen Spielarten linker Politik, insbesondere im Sozialismus, Kommunismus (hierbei insbesondere im Rätekommunismus) sowie im Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus. Aber auch die bürgerliche Traditionslinie ist im Freiheitsgedanken der Radikaldemokratie aufgenommen, insbesondere der Liberalismus, der an die bürgerliche Idee eines mündigen und autonomen politischen Subjekts anknüpft, wie es etwa bei Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau philosophisch-politisch entworfen wurde. Der Gedanke der demokratischen Selbstverwaltung reicht dabei zurück bis in die griechische Polis.

In der Gegenwart steht außer den genannten politischen Strömungen auch der Kommunitarismus der Radikaldemokratie nahe. Aspekte einer radikalen Demokratisierung finden sich auch in verwandten Konzepten wie der direkten Demokratie, der Basisdemokratie, der Rätedemokratie oder der Partizipatorischen Demokratie.

Kritik

Bei Anhängern der Repräsentativen Demokratie gilt die Radikaldemokratie als eine zu extreme Interpretation des Demokratiegedankens, die zugunsten eines am Konzept der Masse orientierten Allgemeinwillens potentiell zu einer Verletzung oder gar Aufhebung der Individualrechte des Einzelnen führen könnte. Sie halten eine Herrschaft allein oder hauptsächlich durch Volksabstimmungen für gefährlich, weil diese ihrer Meinung nach zu Populismus und im schlimmsten Fall zu einer diktatorischen „Herrschaft des Pöbels“ (Ochlokratie) oder von ihm ermächtigter charismatischer Volksführer hinführen könnte, zumindest aber zu einer Einschränkung der privaten Sphäre zugunsten der öffentlichen. Anstelle eines radikaldemokratischen Identitätsmodells von Herrschaft bevorzugen sie im Prinzip ein Delegationsmodell (etwa nach Joseph Schumpeter), das nicht in der Ausübung von politischer Macht durch Wenige das Hauptproblem sieht, sondern in ihrer Kontrolle durch Abwahlmöglichkeit und Gerichte.

Damit zeigen sie nach Ansicht von Vertretern der Radikaldemokratie antidemokratisches Denken auf, da sie die Menschen für unfähig hielten, vernünftige Entscheidungen zu treffen und somit jeden emanzipatorischen Ansatz von vornherein untergrüben und ihre gewählten Eliten für unfehlbar hielten. Radikaldemokraten halten Populismus in diesem Zusammenhang auch in der Repräsentativen Demokratie für möglich („Herrschaft der Repräsentanten“); Anhänger der repräsentativen Demokratie widersprechen dem nicht, halten ihn aber für unwahrscheinlicher und in seinen Möglichkeiten für beschränkter.

Liberale Gegner kritisieren an der Radikaldemokratie, die – wie weiter oben erwähnt – oft auch eine „Demokratisierung“ nicht-politischer Gesellschaftsbereiche (Kultur, Wirtschaft, Schule etc.) fordert, dass eine Art von Herrschaft nicht dadurch weniger Herrschaft ist, wenn sie von vielen gegenüber wenigen ausgeübt wird; die Radikaldemokratie sei insofern gefährlich, als sie Herrschaft in vorher herrschaftsfreie oder zumindest partikulare Räume einführe, die dem Privatbereich der Bürger zuzuordnen sind und so deren individuelle Handlungsfreiheit(en) aufhebe. Dahinter steckt die Frage, ob eine Demokratie nur dann wirklich demokratisch ist, wenn alle Lebensbereiche Sache der Öffentlichkeit sind, oder ob nicht gerade die Möglichkeit, jenseits von der politischen „demokratischen“ Öffentlichkeit privat oder gesellschaftlich handeln zu können, Grundlage für eine Demokratie sein soll.

Kritiker halten Radikaldemokratie außerdem in anonymen modernen Massengesellschaften für praktisch kaum durchführbar, anders als in griechischen Stadtstaaten oder kleinen Schweizer Kantonen. Radikaldemokraten weisen allerdings darauf hin, dass die Radikaldemokratie in modernen Nationalstaaten bislang noch nicht erprobt wurde.

Literatur

Weblinks


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