Prozessphilosophie

Prozessphilosophie

Prozessphilosophie ist eine Bezeichnung für metaphysische Konzeptionen, die Ereignisse und Prozesse als die grundlegenden Elemente der Realität darstellen. Damit verbunden ist in der Regel die Ablehnung einer Metaphysik, die stabile Substanzen als Grundelemente anführt. Letztere sogenannte Substanzmetaphysik dominiert seit der griechischen Antike die Diskussion in der Philosophie und zum Teil auch in anderen Disziplinen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Der erste Prozessphilosoph der abendländischen Geschichte dürfte Heraklit sein, auch wenn sein Ansatz noch auf der Grenze zwischen Mythos und Theorie (im modernen Sinne) steht. Sein berühmtes Diktum „panta rhei“ („Alles fließt“) trifft aber bereits die wesentliche Grundentscheidung der Behauptung eines Primats des Werdens vor dem statischen Sein.

Unter den großen philosophischen Autoren werden teilweise auch Aristoteles, Friedrich Nietzsche, Leibniz, Hegel und Spinoza der Prozessphilosophie zugeordnet.

Die aristotelische Philosophie weist insofern stark prozessphilosophische Elemente auf - und gerade darin unterscheidet sie sich signifikant von ihren platonischen Wurzeln -, als sie in Umkehrung der sogenannten platonischen Ideenlehre behauptet, dass sich alle Dinge auf ein metaphysisch vorbestimmtes Ziel (telos) hin entwickeln. Ihre Entwicklung verläuft folglich nicht zufällig, sondern auf einer als ihr Formziel, das heißt ihrer definierten Vollendlichkeit (entelecheia), vorgegebenen Bahn. Auf dem Wege dorthin bewegt sich jeder Gegenstand in dem Umfange, wie seine Entelechie noch nicht realisiert ist, in einer Art Möglichkeitszusammenhang, der sogenannten dynamis. Der jeweils realisierte Zustand ist seine energeia, das heißt wörtlich „das Erarbeitete“, also das bereits an ihm Realisierte. Prozessphilosophisch ist dieser Ansatz außerordentlich entwickelt, weil er bereits einen konsistenten Zusammenhang von Werden und Sein entwirft.

Den nächsten großen Sprung im prozessphilosophischen Denken leistet Hegel. Seine Konzeption der Dialektik ist keineswegs nur eine Methode des Denkens, sondern beansprucht ausdrücklich ontologische Geltung. Dies führt Hegel geschlossen in seiner Wissenschaft der Logik aus. Die Welt ist demzufolge ein riesiger Entwicklungsprozess. Allerdings sieht Hegel ein Ziel dieser Entwicklung, bei dessen Erreichen der von ihm beschriebene Entwicklungsprozess, zumindest theoretisch, endet. Dieses Ziel stellt er als das Sich-selbst-Bewusstwerden des objektiven Geistes dar, das sich keimhaft bereits in jedem Begriff äußert. Das Ziel des hegelschen Weltprozesses ist also immer noch - ähnlich wie bei Aristoteles und seiner Konzeption der entelecheia - ein gewissermaßen idealer Endzustand jeglicher Entwicklung. Der Prozess ist auch bei ihm nur Mittel zum metaphysischen Zweck.

Im zwanzigsten Jahrhundert hat besonders die Philosophy of Organism des englischen Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead und seines Schülers Charles Hartshorne die heutige Charakterisierung der Prozessphilosophie beeinflusst. In einer prozessphilosophischen Denktradition stehen aber auch Henri Bergson, Charles Peirce, John Dewey, William James, Nicholas Rescher.

Nicholas Rescher

In der Gegenwartsphilosophie ist Nicholas Rescher der prominenteste Vertreter der Prozessphilosophie. Er beschreibt Prozessphilosophie als eine allgemeine metaphysische Theorie über die Realität und das menschliche Wissen darüber. Die grundlegende ontologische Kategorie der Prozessphilosophie ist der Prozess, ist die These, dass die Natur vorrangig aus Prozessen und Veränderungen besteht und dass Dinge bereits abgeleitete Abstraktionen im Zuge der Erkenntnis sind. Dinge sind nicht mehr als eine zeitlich begrenzte stabile Ordnung von Prozessen. Im Rahmen von Prozessen stehen drei Dinge im Vordergrund[1]:

  • Ein Prozess ist ein Komplex – eine Einheit aus mehreren Stufen oder Phasen
  • Dieser Komplex hat eine bestimmte zeitliche Verknüpfung und Einheit, sodass entsprechend Prozesse unverzichtbar eine zeitliche Dimension haben.
  • Ein Prozess hat eine Struktur, eine eigene generisches Form durch die jeder konkrete Prozess eine bestimmte Ordnung oder Form erhält.

Wichtige Kategorien sind daher Zeit, Wandel, Emergenz, Fluss, Aktivität oder Innovation. Gegenüber der traditionellen, vom Substanzdenken geprägten Philosophie nennt Rescher folgende Thesen, die mit der Prozessphilosophie zu verbinden sind[2]:

  • Substanz kann nicht ohne Bezug auf einen Prozess gedacht werden.
  • Eine rigorose Substanzmetaphysik hat keine Erklärung für Handeln und Wandel.
  • Prozesse haben eine natürliche Eigendynamik, die zu neuen Prozessen führt.
  • Ein Prozessansatz kann mit einer Theorie der Substanzen erfolgreich verbunden werden.
  • Die Identität und Identifikation von Substanzen ist unabweislich an das Vorhandensein von Prozessen gebunden.
  • Der Prozessansatz vermeidet oder minimiert das Problem der Universalien.
  • Der Prozessansatz kann leichter mit den modernen empirischen Wissenschaften (Physik, Biologie, Sozialwissenschaft) verbunden werden.
  • Der Prozessansatz vermittelt eine natürlichere Sicht auf Personen und Persönlichkeit.
  • Der Prozessansatz bietet eine überlegene Erklärung für die Entstehung, Entwicklung und Handhabung von Informationen.
  • Der Prozessansatz bietet einen effektiveren Rahmen für Verständnis für das Vorgehen und die Ergebnisse rationaler Forschung.
  • Prozesstheologie vermeidet eine Reihe von Widersprüchen, die mit der Vorstellung von Gott als Substanz entstehen.
  • Mit dem Prozessansatz ergibt sich ein leichterer Zugang zur Philosophie und zum Philosophieren.

Einzelnachweise

  1. Nicholas Rescher: Process Philosophical Deliberations, ontos, Heusenstamm 2006, 2 (ISBN 978-3-938793-37-4)
  2. Nicholas Rescher: Process metaphysics: an introduction to process philosophy, SUNY Press, 1996, 173 (ISBN 978-0-79142817-7)

Weblinks


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