Prozessleitsystem

Prozessleitsystem
Leitstand der Lemgoer Modellfabrik (2010)

Ein Prozessleitsystem (engl. process control system, PCS) dient zum Führen einer verfahrenstechnischen Anlage, zum Beispiel einer Raffinerie. Es besteht typischerweise aus sogenannten prozessnahen Komponenten (PNK) und Bedien- und Beobachtungsstationen (BUB).

Prozessleitsysteme werden meist für größere Anlagen eingesetzt und bestehen meist aus einem Paket, das folgende Mechanismen beinhaltet:

Meist sind auch folgende zusätzliche Mechanismen erhältlich:

Die prozessnahen Komponenten sind in Schaltschränken, die sich in Schalträumen befinden, eingebaut. Sie erledigen die eigentlichen Steuerungs- und Regelungsaufgaben und sind mit Sensoren (zum Beispiel Druckmessumformern) sowie Aktoren (zum Beispiel Regelventilen) verbunden. Die Bedien- und Beobachtungsstationen dienen der Visualisierung der verfahrenstechnischen Anlage und befinden sich in der Schaltwarte, die ständig mit Anlagenfahrern besetzt ist. Prozessnahe Komponenten und Bedien- und Beobachtungsstationen sind über ein Bussystem miteinander verbunden.

Prozessleitsysteme gibt es heute in unzähligen verschiedenen Ausführungen. Die geschichtliche Entwicklung in der PLS-Technik kann man in vier Stufen unterteilen:

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Manueller Betrieb vor 1960

Die Messgrößen wurden an Ort und Stelle ausgewertet und angezeigt, es wurde keine Sammlung der Daten betrieben. Es war zum Beispiel einfach eine Druckmessung in ein Rohr eingebaut – wollte man wissen, wie groß der Druck in der Leitung ist, musste man sich vor Ort begeben und die Anzeige ablesen. Die Stellglieder waren auch noch nicht automatisiert – wollte man eine Leitung absperren, musste man vor Ort das Ventil schließen. Das Anlagenpersonal musste also ständig in der Anlage Messwerte ablesen und die entsprechenden Aktoren stellen, um den Prozess im gewünschten Bereich zu halten. Dadurch waren nur kleine Anlagen möglich, und ein hoher Personaleinsatz war vonnöten.

Parallele Systeme ab etwa 1960

Einzelne leittechnische Maßnahmen wurden durch pneumatische oder elektrische Regeleinrichtungen übernommen. Wichtige Messwerte wurden elektrisch gemessen und in den ersten Bedienwarten angezeigt. Die wichtigsten Informationen und Aktoren konnten erstmals von einem zentralen Platz, der Warte verwaltet werden. Durch die hohe Verantwortung musste das Wartungspersonal speziell geschult werden. Für jeden Sensor und Aktor gab es ein System, was dazu führte, dass bei den ersten größeren Anlagen, die gebaut wurden, teilweise hunderte Bedien- und Beobachtungssysteme in die Leitwarte eingebaut wurden. Für jedes Ventil benötigte man einen Schalter, für jede Messung eine Anzeige. Riesige Messwarten entstanden, in denen oft Unübersichtlichkeit herrschte.

Zentrale Systeme ab etwa 1970

Durch die Einführung der Mikrocontroller war es erstmals möglich, Abläufe zu automatisieren. Eine zentrale Steuereinheit konnte selbständig Aktionen durchführen, zum Beispiel gewisse Prozesszustände auswerten und daraufhin die gewünschten Maßnahmen einleiten. Durch die teilweise Entlastung des Bedienpersonals konnten komplexere und größere Anlagen gebaut werden. Erste Visualisierungssysteme kamen auf den Markt und versuchten, das Chaos an Anzeigen und Schaltern in den Messwarten einzudämmen. Es wurde nun versucht, so viele Signale wie nur möglich zentral zu erfassen, da durch die Rechnerunterstützung diese Informationsflut bewältigt werden konnte. Die Anlagenfahrer hatten erstmals den Großteil der Informationen in der Warte verfügbar, was die Bedienung weiter vereinfachte. Ein Nachteil der Zentralisierung war jedoch, dass beim Ausfall der zentralen Recheneinheit die gesamte Anlage stand. Die geringe Verfügbarkeit der Anlagen versuchte man durch Redundanzkonzepte zu bekämpfen.

Dezentrale Systeme ab etwa 1985

Durch die sinkenden Preise am Halbleitermarkt wurden dezentrale Konzepte erschwinglich. Mehrere Recheneinheiten steuern den Prozess und kommunizieren untereinander mit einem Bussystem. Es wird also nicht mehr eine große Steuerung, die alles steuert, verwendet, sondern mehrere kleine, die untereinander in Kommunikation stehen. Fällt nun eine Steuerung aus, so steht nicht die gesamte Anlage, denn die anderen Steuerungen laufen weiter. Dadurch wurde die Anlagenverfügbarkeit erhöht. Die Steuerungen untereinander kommunizieren über ein Bussystem, an dem auch die Bedien- und Beobachtungsstationen angeschlossen sind. Durch diese Trennung von Visualisierung und Steuerung ist es möglich, spezialisierte Produkte einzusetzen und diese räumlich zu trennen. Die Steuerungen sind meist aus Mikrocontrollern aufgebaute Spezialsysteme, die in den Schaltschränken der Anlage hängen und dort mit der Prozessperipherie verbunden sind. Sie sind äußerst robust, ausfallsicher, modular und in verschiedenen Leistungsklassen erhältlich. Die Visualisierung wird meist über PCs oder PC-ähnliche Produkte realisiert. Erstmals in der Geschichte war es auch mit vertretbarem Aufwand möglich, mehrere Bedienplätze einzurichten. Durch diesen dezentralen Aufbau konnten erstmals Anlagen realisiert werden, die an Größe und Komplexität heute noch Stand der Dinge sind. Für die Anlage x benötige ich zum Beispiel zehn Steuerungen und drei Bedienplätze. Wenn ich nun eine größere Anlage baue, erhöhe ich die Anzahl der Steuerungen, und für das zusätzliche Personal werden neue Bedienstationen aufgebaut. In der Realität konnten jedoch nur Anlagen bis zu einer bestimmten Größe gebaut werden, da die Kommunikationslast die Systembusse derart beanspruchte, dass die Bedienung einfacher Ventile unter Umständen schlicht zu langsam wurde. Auch wirkten sich die Engineeringkosten limitierend aus, da nur wenige technische Standards eingesetzt wurden und sich so die unterschiedlichen Systeme der Hersteller stark unterschieden. Dies hatte zur Folge, dass Engineeringpersonal meist nur auf einen oder wenige Hersteller eingelernt war und somit wenig Wettbewerb bestand.

Dezentrale Systeme ab etwa 1995

Durch den Einsatz von Standard-PC-Architektur und -Software konnten die Kosten weiter gesenkt werden. Auf den meisten Systembussen wird Ethernet verwendet. Dadurch ist es nicht mehr notwendig, auf Spezialkomponenten zurückzugreifen, sondern man kann ausgereifte und leistungsfähige Standardprodukte aus der IT-Welt kaufen. Durch die Nutzung derselben Techniken durch mehrere Hersteller ist es heute kein allzu großes Problem für einen Ingenieur, sich in die Produkte mehrerer Hersteller hineinzuarbeiten, was den Wettbewerb belebt. Der Anwender hat gegenüber älteren Systemen den Nutzen, dass er die Bedienung mit Maus und Tastatur aus der Büroumgebung wiedererkennt. Große Kostenersparnisse ergeben sich auch durch den Einsatz der Feldbusse, mit ihnen werden Geräte und E/A-Peripherie angebunden. Dadurch kann nicht nur der aktuelle Wert der Messung wie früher üblich ausgewertet werden, es besteht auch die Möglichkeit, Einstellungen vorzunehmen und Parameter auszulesen. Des Weiteren kann die E/A-Peripherie weiter ins Feld hinaus verlagert werden, was Kostenvorteile bei der Verkabelung mit sich bringt.

Zukunft

Die Hardware der Prozessleitsysteme bewegt sich immer mehr weg von spezialisierten Systemen hin zu verbreiteten und günstigen IT-Komponenten. Außerdem ist eine weitere Dezentralisierung zu bemerken, was die Intelligenz in immer kleinere, feldnähere und mobile Einheiten bringt. Durch den Einsatz von vorgegebenen Engineeringelementen und Projektierungshilfen werden die Engineeringkosten weiter gesenkt. Erste Systeme mit Linux beginnen, am Markt Fuß zu fassen, während gleichzeitig Microsoft Windows nun auch in Form von Windows CE in die kleineren, feldnahen und mobilen Einheiten vordringt. Ebenso gewinnt die Integration von Fremdanlagen (Packages) weiter an Bedeutung. ERP-, MES- und CMMS-Schnittstellen werden immer besser integriert.

Architektur von Prozessleitsystemen

Es gibt heute unzählige unterschiedliche Architekturen von Prozessleitsystemen. Die gebräuchlichsten sind jedoch die Einbus-Architektur und die Serverarchitektur

Einbusarchitektur

Hier sind die PNK- und BUB-Stationen auf einem Bus aufgereiht. Dabei kann jede BUB-Station die gewünschten Daten von jeder PNK abgreifen und dieser wiederum Befehle erteilen. Prominente Vertreter dieser Architektur sind die Emerson Electric Company mit DeltaV oder ABB mit Freelance 800F. Diese Architektur hat den Vorteil, dass eine hohe Verfügbarkeit gegeben ist und die Intelligenz sehr dezentral verteilt ist. Nachteile sind die oft komplizierte Datenhaltung (Bildänderungen, Download der Clients, Engineeringserver) und die oft hohe Buslast bei großen Anlagen.

Serverarchitektur

Hier sind zwei Bussysteme aufgebaut. Der Systembus verbindet alle PNKs mit dem Server, der Terminalbus verbindet alle BUB-Einheiten mit dem Server. Die BUB-Einheiten und die PNKs haben keine physikalische Verbindung. Der Server sammelt zyklisch von allen PNK die gewünschten Daten und stellt sie im Terminalbus den BUB-Einheiten zur Verfügung. Ein prominenter Vertreter dieser Architektur ist Siemens mit PCS 7. Diese Architektur hat den Vorteil, dass durch die getrennten Bussysteme die Buslast gut skaliert werden kann und dass ein einfacher Eingriff für Fremdapplikationen (MES, ERP…) durch den Server ermöglicht werden kann. Nachteil ist, dass bei einem Serverausfall keine Bedienung mehr möglich ist (Redundanzkonzepte nötig) und die zusätzliche benötigte Hardware. Oft sind heute auch Mischversionen dieser Architekturen im Einsatz und spezielle Architekturen für besondere Einsatzgebiete zum Beispiel besonders hohe Verfügbarkeit, hohe Verarbeitungsgeschwindigkeiten, geringe Kosten und besondere Flexibilität im Einsatz.

Erkennungsmerkmale eines Prozessleitsystems

Ursprünglich konnte man ein PLS durch zwei Merkmale erkennen:

  • ein PLS ist zeitdeterministisch
  • ein PLS hat eine Datenbasis für alle beteiligten Systeme

Unter einem Zeitdeterministischen Verhalten wird verstanden, dass das Anwenderprogramm in festen Taskzyklen abgearbeitet wird. Diesen Taskzyklen sind feste Bearbeitungszeiten zugewiesen die diese im Normalfall auch einhalten. Zum Beispiel kann ein Task sekündlich ausgeführt werden. Das Anwenderprogramm das diesem Task zugewiesen ist wird dann sekündlich abgearbeitet. Auch wenn dieses Anwenderprogramm in 200 ms abgearbeitet ist wird es nur sekündlich gestartet. Wenn nur eine Task auf dem Hauptprozessor ausgeführt werden würde wäre dies Ressourcenverschwendung. Wenn nun in diesem Anwenderprogramm aufgrund eines Programmierfehlers oder aus anderen Gründen eine Endlosschleife ausgeführt wird erhöht sich die Abarbeitungszeit von 200 ms auf 1000 ms. Spätestens nach einer Sekunde wird jedoch das Anwenderprogramm abgebrochen da der Task beendet ist. Wenn der Task wieder neu gestartet wird, wird auch das Anwenderprogramm neu ausgeführt. Wenn man nun das Anwenderprogramm seiner verfahrenstechnischen Anlage in mehrere Teile zerlegt und diese durch unterschiedliche Tasks abarbeiten lässt, kann man erreichen, dass beim Ausfall eines Programmteils durch fehlerhaften Code die anderen Programmteile trotzdem durch ihre Tasks ausgeführt werden. Wird in einem Task eine Endlosschleife ausgeführt, belegt dieser zwar den Hauptprozessor, wird aber spätestens dann abgebrochen, wenn ein anderer Task zur Ausführung eingeteilt wird. Dadurch kann man Teilanlagen programmtechnisch voneinander entkoppeln und Leistungsoptimierungen vornehmen. Man kann zum Beispiel Temperaturmessungen, die ihren Wert nur im Minutenbereich ändern, in einen fünf-Sekunden-Task legen und Druckmessungen, die sich sehr schnell ändern, in einem 200-ms-Task abarbeiten. Durch dieses System kann man deterministisch, also bestimmt, sagen, dass diese Druckmessung alle 200 ms ausgewertet wird, egal ob andere Programmteile fehlerhaft sind und es wird erreicht, dass Systemgrößen, die nur eine geringe zeitliche Dynamik aufweisen, wie etwa die Temperaturmessung, den Hauptprozessor nicht zu stark beanspruchen.

Unter einer Datenbasis für alle beteiligten Systeme versteht man, dass Prozessobjekte (z.B. eine Druckmessung) in der PNK und in den BUB nicht doppelt angelegt werden müssen. In der PNK muss für die Druckmessung ein Programm vorhanden sein, das aus der Hardware den Messwert aufnimmt und eine Grenzwertüberwachung durchführt. Übersteigt der Messwert einen eingestellten Grenzwert wird ein Alarm ausgelöst (z. B. „Kessel 42 hat Überdruck“) der vom Alarmsystem gehandhabt wird. Des Weiteren wird der gemessene Wert vom Visualisierungssystem angezeigt, damit der Anlagenfahrer Informationen erhält. Nun kann auch noch ein Tagloggingsystem (Kurvenarchivierung) die Messwerte aufnehmen damit später Messwertkurven dargestellt werden können. Damit nun in all diesen Systemen die Druckmessung vorhanden ist müssen alle Systeme ihre Informationen aus einer Datenbasis erhalten.

Speicherprogrammierbare Steuerungen und Prozessleitsysteme sind heute zusammengewachsen.

Produkte und Hersteller

Eine Marktübersicht der in Deutschland verbreiteten Prozessleitsysteme befindet sich im Internet-Angebot der Zeitschrift SPS-Magazin.

Siehe auch


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