Protobulgaren

Protobulgaren
Khan Krum Anfang des 9. Jahrhunderts
Bolgarische Runenschrift

Protobulgaren (gelegentlich auch Ur-Bulgaren oder Hunno-Bulgaren) ist eine wissenschaftliche Bezeichnung für diverse, vor allem turksprachige Stammesverbände der eurasischen Steppenzone, die seit dem 5. Jh. in den Schriftquellen unter dem Ethnonym „Bulgaren“ erscheinen.[1][2] Ihre Sprache wird als Bolgarische Sprache bezeichnet. Größere Reichsgründungen gelangen den Protobulgaren östlich und westlich des Azowschen Meeres (Megale Boulgaria, siehe Großbulgarisches Reich), auf dem Balkan (Erstes Bulgarisches Reich) und an der mittleren Wolga (Wolga-Kama-Bulgarien). Die auf den Balkan eingewanderten Protobulgaren wurden im Frühmittelalter (7.-10. Jh.) slawisiert. Sie nahmen im 9. Jh. das Christentum an und werden zu den Vorfahren der heutigen (slawischen) Bulgaren gezählt.[2] Die Wolgabulgaren hingegen nahmen im 10. Jh. den Islam an. Einige Forscher zählen auch die Ungarn (oder Teile von ihnen) zu den proto-bulgarischen Stämmen[3].

Inhaltsverzeichnis

Ethnonym

Über die Bedeutung des Volksnamens „Bulgaren“ (griech. Βούλγαροι) gab es zahlreiche Theorien. Man leitete ihn gerne vom Flussnamen der Wolga (Wolgaren) ab.

Am verbreitetsten ist die Theorie, dass sich der Name „Bulghar“ aus dem protobulgarischen „bulganmış“ ableitet, was „vermischt“ bedeutet und auf eine Föderation ethnisch heterogener Verbände hindeutet.

Einige bulgarische Forscher um Prof. Nikolaj Owtscharow zählen die Protobulgaren zu den Nachfahren der antiken Baktrer, die die Region um Balkh besiedelten, woher auch der Name abgeleitet wird (Balkhar - Bolgar)[4]. Andere wiederum sehen die Protobulgaren als Stämme des Hunnenreiches (die so genannten Hunno-Bulgaren), die sich nach der Schlacht am Nedao nach Osten zurückzogen und sich an der unteren Wolga niederließen.

Geschichte

Großbulgarien um 650 n. Chr.
Khan Asparuch

Einige Chroniken berichten über bulgarischen Siedlungen im 3. Jahrhundert, wie die des armenischen Chronisten Anania Shirakatsi.[5]

Bei den Protobulgaren handelte es sich um turksprachige Nomadenstämme aus Zentralasien[6][7][8][2]. Sie hatten sich im 4.- 5. Jahrhundert mit den Hunnen zusammengeschlossen.[4] Nach dem Tod des hunnischen Führers Attila (453) und dem Zerfall des Hunnenreiches ließen sich die Protobulgaren in der pontischen Steppe (südrussische Steppe) nördlich des Schwarzen Meeres und in Mittelasien nieder. Dazu kamen finno-ugrische beziehungsweise ural-altaische Stämme. Ihnen schlossen sich die Turkvölker der Kutriguren, Utriguren, Saguren und Oguren an, die um 463 von den sprachverwandten Sabiren aus ihrer Heimat im heutigen Westsibirien und Kasachstan nach Westen verdrängt worden waren. Die neue „Liga“, der auch die Altungarn (Onogur - „Zehn Stämme“)[2] und alanische Elemente angehörten, stand unter der Führung des Attilasohnes Irnik (laut dem Namensbuch der bulgarischen Khane).[2]

559 wurde Dinogetia an der Unteren Donau von den Kutriguren unter deren Khan Zabergan überrannt. Der spätantike Historiker Prokopios von Caesarea berichtet, dass die Bulgaren bereits bei diesem ersten Einfall fast alle Gebiete südlich der Donau verwüstet haben.[9]

Um 567 wurden die Protobulgaren von den Awaren besiegt. Einige schlossen sich den Awaren an und zogen mit diesen weiter westwärts. Große Teile der Protobulgaren, Hunnen und der anderen Reiternomaden verblieben aber in den südrussischen Steppen. 635 erhoben sich die Protobulgaren-Onoguren unter Khan Kubrat (auch Kobrat, von qobrat - „sammle das Volk“) mit Erfolg gegen die Herrschaft der Awaren. Kubrat vereinte die Völker zum Großbulgarischen Reich (griech. Η παλαια μεγαλη Βουλγαρια; megale Boulgaria - „Großbulgarien“). Mit Byzanz war er verbündet. Aus diesem Anlass bekam Kubrat vom byzantinischen Kaiser Herakleios den Ehrentitel Patricius.[2]

Das Großbulgarische Reich an der Nordküste des Schwarzen Meeres reichte von der Maeotis bis nach Kuban. Hauptstadt war Phanagoria am Azowschen Meer, das heutige Taman.[2] An der Spitze des Reiches stand der Khan und an dessen Seite wurde ein Rat der Adligen (Große Boilen) errichtet. Zweiter Mann im Staat war der Kawkhan (hatte mehrere Funktionen inne, unter anderem Oberster Befehlshaber der Streitkräfte und Diplomat), dritter der Itschirgu-Boil (Verwalter der Hauptstadt und Befehlshaber der hauptstädtische Garnison). Als höchste Verwaltungsbeamte und militärische Kommandanten üben sie eine Doppelfunktion aus, die in den nachfolgenden Stufen der administrativen Hierarchie ihre Fortsetzung findet. Einige Theorien sehen in dem mittelalterlichen Adelstitel Boljaren eine slawisierte Ableitung des urbulgarischen Titel Boil.[10] Das Großbulgarische Reich wurde jedoch schon in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts von den ebenfalls turkstämmigen Chasaren vernichtet.

Kubrats ältester Sohn Batbajan hatte sich den Chasaren unterworfen und blieb in der alten Hauptstadt Phanagoria. Seine vier Brüder aber spalteten sich mit bedeutenden Stammesteilen ab. Die nordwärts ziehenden Protobulgaren unter der Führung von Kotrag, des zweiten Sohn von Kubrat, gründeten das Reich der Wolgabulgaren mit ihrer Hauptstadt Bolgar. Das Reich der Wolgabulgaren existierte bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts, als es von der Goldenen Horde der Mongolen besiegt wurde. Das Volk der Tschuwaschen sieht sich als Nachfolger eines Teils der Wolga-Bulgaren. Ein anderer Teil verschmolz mit den Kasan-Tataren, die sich noch bis ins späte 19. Jahrhundert als „Bolgarları“ (Bolgaren = Bulgaren) und nicht als „Tatarlar“ (Tataren) bezeichneten.

Die nach Südwesten ziehenden Teile unter Kubrats Sohn Asparuch überquerten die Donau und verbündeten sich (nach anderer Meinungen unterwarfen) mit der lokalen slawischen Bevölkerung der Seweren und den Sieben Stämmen und errichteten 678 das Donaubulgarische Reich mit der Hauptstadt Pliska. Asparuch gilt daher als Gründer des heutigen Bulgarien auf dem Balkan. Dieses bulgarische Reich war das erste Reich, dem ein byzantinischer Kaiser Tribut zahlen musste, was als große Schmach in Konstantinopel empfunden wurde. Obwohl vom byzantinischen Kaiser Konstantin IV. vertraglich anerkannt, belagerten die Protobulgaren mehrfach Konstantinopel (705 und 813) und dehnten unter Krum (802-814) ihr Reich nach Westen bis zur Theiß aus. Im Jahre 718, während des Zweiten Angriff auf Konstantinopel der Araber, schickte jedoch Khan Terwel seine Armee dem byzantinischen Kaiser Leo III. zu Hilfe, was mit zur Aufhebung der arabischen Belagerung beitrug. Bis zum Einbruch der Ungarn 895 umfasste das Bulgarenreich faktisch den gesamten (nicht-byzantinischen) Balkan und reichte im Norden nach dem Sieg über die Awaren bis nach Budapest.[2]

Das Donaubulgarische Reich unter Khan Krum

Die beiden jüngsten Söhne Kubrats, Kuver (Kuber) und Alzek zogen mit ihren kleineren Stammesverbänden ebenfalls Richtung Westen und schlossen sich in Pannonien (Ungarn) den Awaren an. Nach einer misslungenen Revolte gegen die Stammesführung trennten sich ihre Wege wieder. 680 zog Kuver Richtung Süden zusammen mit Teilen der Sermesianoi, Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung in Pannonien und die von den Awaren 626 verschleppten und in Pannonien angesiedelten römischen Gefangenen. Er ließ sich im unbesiedelten Gebiet um Bitola in Makedonien nieder, das zum byzantinische Thema Thesalonika gehörte, wo Kuver ein Khaganat errichtete. Unter Khan Malamir und Khan Presian I. vereinigten sich die Kuverbulgaren mit dem Bulgarenreich von Asparuch. Im Jahr 1000 sollte seine Hauptstadt unter Zar Samuil und seinen Nachfolgern auch Hauptstadt ganz Bulgariens werden.

Alzek[11] zog weiter westlich, überquerte 667 die Alpen und zog friedlich nach Norditalien in die Gegend um Ravenna. So berichtet Paulus Diaconus über die Ankunft von Vulgarum dux Alzeco nomine, der aus unbekannten Gründen, jedoch in friedlicher Absicht mit seinem Heer nach Italien gekommen war. Die Gastfreundschaft der Römer sei aber nur eine Tarnung gewesen. Im selben Jahr mussten die Bulgaren bei mehreren Hinterhalten um ihr Überleben kämpfen. Daher zogen sie immer weiter südwärts, bis sie schließlich das Herzogtum Benevent errichteten. Der Geschichtsschreiber Paulus Diaconus berichtet weiter, dass dort Khan Alzek von dem Langobardenkönig Grimoald empfangen wurde.[12] Alzek wurde die Region Molise zugesprochen, unter der Voraussetzung, dass er auf seinen Titel dux und Herrschaftsanspruch verzichtet, da Grimoald selbst dux von Benevent war. Noch heute tragen in ganz Italien Berge, Regionen, Dörfer, Flüsse und Familien bulgarische Namen oder die Bezeichnung „Bulgaren“ (bulg. Bulgari). Beispiele dafür sind der italienische Hersteller von Luxusartikeln Bulgari, Bartolomeo Bulgarini, Kardinal Pietro Bulgaro, der Name del Bulgaro oder die Gemeinde Bulgarograsso.[13]

Reiter von Madara

Das kulturelle Erbe der Protobulgaren blieb in einer Reihe von Baudenkmälern erhalten, so in rund 100 gemeißelten Schriftdenkmäler mit protobulgarischer Kerbschrift aus der Zeit des Donaubulgarischen Reiches oder in bildlichen Darstellungen. Einige wie der Reiter von Madara sind zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt worden.

In Bulgarien und Mazedonien verschmolzen die Protobulgaren vor allem mit den Anten, die teils schon auf dem Balkan siedelten, teils erst mit den Protobulgaren aus Südrussland gekommen waren, und anderen slawischen Stämmen, sowie den Resten der römischen Provinzialbevölkerung zum heutigen Volk der Bulgaren. Die relativ dünne protobulgarische Herrscherschicht ging in der Bevölkerungsmehrheit der vier unterworfenen Slawenstämmen rasch auf, jedoch wird erst nach der Christianisierung der Bulgaren nicht mehr zwischen Bulgaren und Protobulgaren unterschieden. Die Protobulgaren regierten das Donaubulgarische Reich bis es 1018 unter byzantinische Herrschaft fiel.

Theorien zur Herkunft der Protobulgaren

Die Erforschung der Protobulgaren begann im Jahre 1832 damit, dass Christian Martin Frähn bei der Interpretation arabischer Nachrichten über die Wolgabulgaren den Namen des Asparuch als persisch einordnete. Seither sind dann häufiger ähnliche Interpretationen für diese Namen erwogen worden. Da Personennamen besonders häufig aus anderen Sprachen entlehnt werden, ist ihre Aussagekraft jedoch begrenzt.

Dabei wurden die Protobulgaren mit den antiken Pamir-Völkern und ihren Sprachen somit mit dem Avestischen und Sanskrit in Verbindung gebracht, vor allem mit dem antiken Baktrien. Dabei beziehen sich diese Theorien auf eine deutlich frühere Zeitspanne als die Zeit der protobulgarischen Wanderung nach Europa. In Expertenkreisen finden diese Theorien jedoch wenig Zustimmung.

Wesselin Beschewliew rollte im Jahre 1967 mit zwei Artikeln über die Abstammung der Bulgaren die Diskussion darüber auf. Darin akzeptierte er zwar die türkische Abstammung der Protobulgaren, machte aber gleichzeitig auf iranische Einflüsse aufmerksam.

Die alte protobulgarische Hauptstadt Pliska

Neuere Arbeiten Petar Dobrews, mit denen er die Protobulgaren erneut mit indogermanischen Stämmen Zentralasiens in Verbindung bringt, sind in Bulgarien sehr populär, aber werden im Ausland als spekulativ kritisiert, da Dobrew ausschließlich Elemente wie etwa einige Namen berücksichtigt, und andere Erkenntnisse über die Protobulgaren unberücksichtigt lässt.

Neben der obengenannten Theorie existieren andere, vor allem in Bulgarien weit verbreitete Thesen, die Turkabstammung der Protobulgaren sowie eine mögliche Verbindung des protobulgarischen Gottes Tangra mit dem von antiken Turkvölkern verehrten Gott Tengri ablehnen. Petar Dobrew geht von der Herkunft von einem angeblichen sumerischen Gott DINGIR (sumerisch: Wikimedia Foundation.

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