Proto-Indoeuropäer

Proto-Indoeuropäer

Als Proto-Indoeuropäer werden die Sprecher sowie die (hypothetischen) Träger der teilweise rekonstruierten proto-indogermanischen Ursprache und Kultur bezeichnet. Dieses prähistorische Volk soll während der späteren Kupfersteinzeit bis zur frühen Bronzezeit existiert haben.

Die Proto-Indoeuropäer gelten des Weiteren als Stammeltern fast aller europäischen Ethnien, also der Indogermanen. Darunter fallen die Griechen, Kelten, Balten, Latiner, Romanen, Germanen, Slawen und Albaner. Auch nicht in Europa lebende Ethnien gehen teilweise auf diese zurück, zu nennen sind hier die Perser, Armenier, Kurden, Tadschiken, Paschtunen, Belutschen und die um 1500 v. Chr. nach Nordindien eingewanderten Indoarier, aus denen die Inder indoarischer Abstammung hervorgingen.

Zu beachten ist bei diesem Vergleich aber folgender, in erster Linie von Marija Gimbutas postulierter Ansatz:

„Die Indoeuropäisierung war eine sprachliche, eventuell kulturelle und religiöse, aber keine physische Verschmelzung bzw. Umwandlung.“

Damit will ausgedrückt werden, dass es nicht zu Vermischungen im Sinne der Gene, sondern zu gewaltsamen Unterwerfungen sowie allmählichen Assimilationen der ehemaligen Vorbevölkerungen Europas, Anatoliens, Persiens sowie Indiens kam.

In neuerer Zeit wird dieser Grundgedanke aber meistens etwas relativiert. So kann eine teilweise physische Vermischung der Proto-Indoeuropäer mit der jeweiligen Vorbevölkerung nicht vollständig ausgeschlossen werden. Inwiefern und in welchem Ausmaß die Ethnien ineinander aufgegangen sind, lässt sich nach heutigem Wissensstand nicht beurteilen.

Inhaltsverzeichnis

Proto-Indoeuropäer oder Urindogermanen?

In der deutschsprachigen Wissenschaft wird traditionell der Begriff indogermanisch verwendet. Die Bezeichnung wurde gewählt, um die damals bekannten westlichsten (Germanische Sprachen) und östlichsten (Indoarische Sprachen) indogermanischen Sprachgruppen auch in der Benennung der neuen Sprachfamilie zusammenzufassen, die bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert zunehmend als ethnischer Zusammenhang interpretiert wurde, der auf ein gemeinsames Urvolk hindeutete, das sich im Laufe seiner Geschichte infolge von Wanderzügen und Kriegen in verschiedene Zweige aufgespalten hatte.

Ein ethnischer Aspekt, so wie ihn dieser Artikel erläutert, wird in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur seit 1945 oft abgelehnt, da die Begriffe indogermanisch und arisch besonders unter der Naziherrschaft prominente Verwendung in rassistischer und nationalistischer Sprache und Propaganda gefunden hatten. Jedwede Erweiterung, welche über den sprachlichen Gesichtspunkt hinausgeht, wird vielfach schnell als „nicht beweisbar“, als Absurdität, wenn nicht gar als vermeintlicher Wiedergänger alter nazistischer Rassenwahnideen kritisiert. Dies entspricht zumindest der „gängigen Sichtweise“ im deutschsprachigen Raum.

Im drastischen Gegensatz zu dieser stehen nach wie vor die internationalen Überlegungen und Ansätze. So wird z. B. an einer kulturellen und religiösen Beeinflussung Europas durch die sich ausbreitenden Proto-Indoeuropäer deutlich weniger gezweifelt. Die Frage, inwiefern und in welchem Maß eine genetische und ethnische Verwandtschaft untereinander wie mit den heutigen Sprechern indogermanischer Sprachen postuliert werden kann, wird von der Ethnologie anhand vieler Argumente und Tatsachen heftig diskutiert.

Unbestritten bleibt, dass die Begriffe indogermanisch und indoeuropäisch vollkommen synonym sind. Ob die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen nun auch auf einem gemeinsamen ethnischen Ursprung beruht, ist wieder eine andere Fragestellung als jene, welcher der beiden Begriffe verwendet wird. Mängel weisen beide auf; seit der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgten Entdeckung, dass das Tocharische ebenfalls zu den indogermanischen Sprachen gehört, müsste man statt indogermanisch heute eigentlich von keltotocharisch sprechen, während der Begriff indoeuropäisch (neben der Tatsache, dass auch hier das Indoarische aufgrund der Hinzufügung des Tocharischen nicht länger die östlichste Sprache ist, ebenso wenig die germanischen die westlichsten) den vielen nichtindogermanischen Sprachinseln (u. a. Baskisch, Ägäische Sprachen, Etruskisch, Kaukasische Sprachen, sowie die Uralischen Sprachen, zu letzteren etwa die Finno-Ugrischen Sprachen) in Europa und dem daraus wahrscheinlich abzuleitenden anderen genetischen bzw. ethnischen Ursprung der Sprachträger ebenjener Sprachinseln nicht gerecht wird. Korrekter wäre es in Bezug auf die Proto-Indoeuropäer bzw. Urindogermanen wohl, stattdessen den konkreten Namen des Urvolkes zu nennen, das durch die jeweilige Urheimatstheorie favorisiert wird, also Kurgan, Anatolier etc.

Ursprung

Das Entstehungsgebiet der Proto-Indoeuropäer konnte - trotz unzähliger Ansätze - bis heute nicht gesichert nachgewiesen werden.

Der prominenteste Ansatz ist wohl die u.a. im 20. Jahrhundert durch Marija Gimbutas vertretene Kurgan-Hypothese, die den Ursprung im südlichen Russland sieht.

Einen anderen Ansatz verfolgt die Schwarzmeer-Überschwemmungs-Hypothese. Diese wurde 1996 von William Ryan and Walter Pitman, beides Geologen an der Columbia University, in einem populären Artikel der New York Times vorgestellt. Laut dieser These lebten die Proto-Indoeuropäer in unmittelbarer Umgebung des prähistorischen Schwarzen Meers. Der Auslöser für die Völkerwanderung der Proto-Indoeuropäer soll eine gigantische Flutkatastrophe gewesen sein.

An dieser Stelle muss noch darauf hingewiesen werden, dass es vor allem im frühen 20. Jahrhundert zu zahlreichen abstrusen Mutmaßungen gekommen ist.

Selbst heute noch wird von nationalistischen Strömungen immer wieder „ihre“ Nation als die wahre Urheimat propagiert. Beispiele für diese Art der Verklärung findet man im Iran. So sollen sich die ursprünglichen Arier (im Sinne von Proto-Indoeuropäer) in dessen Hochebenen gebildet und von dort ausgebreitet haben.

Kultur und Religion

In kultureller sowie religiöser Hinsicht ist ebenfalls nur wenig bekannt. Anhand archäologischer Funde sowie der daraus abgeleiteten mutmaßlichen Gesellschaftsformen lässt sich somit lediglich ein grobes (hypothetisches) Bild skizzieren.

Die Proto-Indoeuropäer bildeten wahrscheinlich patrilineare Gemeinschaften, welche vorwiegend halbnomadisch lebten. Vermutlich hielten sie domestizierte Tiere wie Hausrinder und Schafe. Als weitgehend erhärtet gilt, dass die Proto-Indoeuropäer auch die Domestizierung des Pferdes (ek'wos) kannten. Eine zentrale Rolle innerhalb ihrer Mythologie, Religion aber auch des alltäglichen Lebens, spielten wohl Kühe (gwous). Der „Wert“ und die soziale Stellung eines Mannes wurden beispielsweise anhand der Anzahl seiner Tiere gemessen, was unter anderem in der Lateinischen Sprache ersichtlich wird, in der sich das Wort für Geld (lat. pecunia) aus dem Wort für Vieh (lat. pecus) ableitet. Das lateinische Wort "pecus" ist im Übrigen durch linguistische Regelmäßigkeiten direkt mit dem Deutschen Wort "Vieh" (Althochdeutsch noch "feho") verwandt. Auf frühdatierten Goldmünzfunden der Antike sind ebenfalls noch Abbilder von Nutztieren zu sehen.

Des Weiteren praktizierten die Proto-Indoeuropäer eine polytheistische Religion. In deren Mittelpunkt standen vermutlich Opfer-Riten, welche durch eine Priester-Kaste vollzogen wurde. Die Kurgan-Hypothese erwägt Bestattungen vorwiegend in Hügelgräbern, teilweise aber auch in Steingräbern. Einflussreiche Anführer wurden mit ihrem Eigentum, möglicherweise gar mit bestimmten Familienmitgliedern, wie ihren Frauen, beigesetzt (Sati, Menschenopfer).

Außerdem gibt es Hinweise auf sakrale Königtümer, in welchen der Stammesführer gleichzeitig die Rolle eines hohen Priesters einnahm. Viele spätere, indoeuropäische Ethnien kannten eine Art „Dreiteilung“ ihrer Gemeinschaften, so gab es einen Klerus, eine Kriegerklasse, sowie einfache Bauern. Diese Ansicht wurde in erster Linie vom renommierten französischen Religionswissenschaftler Georges Dumézil in dieser Weise vertreten.

Werkzeuge und Waffen wurden aus Bronze gefertigt, Silber und Gold waren bekannt. Schafe hielt man um Wolle zu gewinnen, welche der Fertigung von Bekleidungsstücken diente. Hergestellt wurden diese mittels Webtechniken. Das Rad wurde nachweislich bei einfachen Ochsenkarren eingesetzt. Spätere Generationen entwickelten diese zu Streitwagen weiter, welche zu jener Zeit wohl als große Neuerung in der Kriegsführung galten.

Die ursprüngliche Eigenbezeichnung der Proto-Indoeuropäer konnte bisher nicht rekonstruiert werden. Vermutet wird eine etymologische Verwandtschaft zu „aryo-“, inwiefern diese mit „Arier“ in Verbindung gebracht werden darf oder kann ist Gegenstand der Forschung.

Zusammenfassung

Die Proto-Indoeuropäer gelten als eine hypothetische Gruppe, welche vermutlich um ca. 4000 v. Chr. existiert hat.

Basierend auf der Rekonstruktion ihrer Sprache und archäologischen Funden können einige Merkmale ihrer Kultur teilweise festgestellt werden:

  • Sie besaßen ein patrilineares Verwandtschaftsystem, das um die Vaterlinie herum organisiert war.
  • Sie verehrten mindestens einen Gott, vermutlich *diwos ph2tēr (lit. „Himmelvater“), daneben existierten wahrscheinlich noch weitere Gottheiten.
  • Sie glaubten, dass Geister sie heimsuchen kommen könnten.
  • Sie verfassten möglicherweise bereits Lieder sowie Epen, welche wohl hauptsächlich von „unsterblichem Ruhm“ handelten.
  • Sie züchteten Vieh.
  • Sie bauten vermutlich Karren mit massiven, aber nicht gespeichten Rädern, wie diese bei späteren Streitwagen vorkamen.
  • Sie hielten Sklaven, die sie ähnlich dem Vieh als Eigentum betrachteten.
  • Sie lebten in einem Klimabereich, in dem auch Schnee vorkam, was auch einige Gegenden Afrikas nicht ausschließt.

Andere Feststellungen gelten als weniger sicher:

  • Sie hatten vermutlich eine halbnomadische oder nomadische Lebensweise.
  • Sie ritten Pferde; dies ist umstritten, weil es kein gemein-indogermanisches Verb für „reiten“ gibt.
  • Sie lebten am nördlichen oder nordöstlichen Ufer des Schwarzen Meeres.
  • Sie waren mit großen Seen, jedoch nicht mit Ozeanen vertraut.

Siehe auch

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