Postkolonialismus

Postkolonialismus

Postkolonialismus ist eine geistige Strömung seit Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Zeit nach dem Kolonialismus, die sich auf diesen bezieht. Sie ist dem Poststrukturalismus zuzurechnen. Vorausgegangen ist daher die Unabhängigkeit der Kolonie von ihrem Kolonisator. Die postkolonialistische Theorie existiert unter anderem in Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft. Postkolonialistische Ansätze untersuchen Kultur und Identität sowohl der Kolonialzeit als auch der Zeit danach im Kontext des Kulturkonfliktes der Kolonisierten wie auch der Kolonialmacht.

Inhaltsverzeichnis

Definitionen und Entwicklung

Ziel ist es, Begriffspaare zu dekonstruieren, um dem damit ausgedrückten Machtgefüge entgegenzuwirken. Erste Denkansätze in diese Richtung gab es bereits 1947, als sich u.a. Indien vom British Empire trennte und als unabhängiger Staat dem Commonwealth of Nations beitrat. Des Weiteren gab es von den 1950er Jahren an ein stetig steigendes Interesse der Linksintellektuellen an der „Dritten Welt“. Als Forschungsrichtung in den 1970er Jahren an den amerikanischen Universitäten durch Edward W. Saids Buch „Orientalism“ etabliert, handelt es sich heute um eine interdisziplinäre Theorie, die mittlerweile auch an europäischen Universitäten in den Fächern der Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaft diskutiert wird.

Einige literaturkritische Autoren (Bill Ashcroft u.a., s.u.) beziehen Literatur der Kolonialzeit in die postkoloniale Literatur mit ein, andere (Ania Loomba) betonen, dass postkoloniale Literatur sich auf die Zeit nach der Kolonialzeit bezieht, und weisen auf die für die Strömung nötige Politik der Dekolonisierung hin. Im Prozess der Kolonialisierung findet ein gewaltförmiger Kulturkontakt statt: Eine Kultur erobert die andere und formt sie nach ihrem Bilde um, verändert und zerstört, um zu herrschen. Diese Veränderung erfolgt jedoch nicht nur durch militärische Gewalt, sondern auch durch die Macht der Sprache. Die europäische Wissenschaft definiert im Zuge der Durchdringung der Welt, was z.B. orientalisch bzw. asiatisch, aber in der Selbstbeschreibung auch was westlich und europäisch ist. Trotz ihres neutralen Anspruchs legt sie dabei eurozentrische Maßstäbe an: Schon die Bezeichnung aller Kontinente stammen aus dem Alten Rom (mit Ausnahme der Benennung Amerikas), inklusive Australiens.

Durch die Dominanz der Kolonialmacht in Jurisdiktion und Religion (Einführung europäischen Rechts, Missionierung) wird die Kultur des kolonisierten Raumes zerstört. Beispiele sind die Ermordung der schwarzen Schamanen und Voodoo-Houngans im Zuge des Sklavenhandels oder die Verbrennung von heidnischen Bildern und Schriften durch die christlichen Missionare in Südamerika. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren nur Portugal, Frankreich und Großbritannien Kolonialmacht geblieben, und nach und nach erlangten alle größeren Kolonien die Unabhängigkeit. Geistig waren sie immer noch Kolonisierte: Im Kalten Krieg lehnten sie sich an eine der beiden Supermächte an.

Der Rückgriff auf eine eigene Tradition wurde ebenfalls versucht, aber da diese Tradition durch die westliche Definitionsmacht geprägt und umgeformt oder erst geschaffen wurde, ist auch dieser Weg kein eigener. Postkoloniale Ansätze, entwickelt von Immigranten in den USA und Intellektuellen aus Indien, untersuchen diesen paradoxen Prozess der Selbstfindung von Gruppen und Individuen aus den ehemaligen Kolonien.

Postkoloniale Ansätze gehen auch davon aus, dass die Kolonisierung nicht nur Spuren bei den Kolonisierten hinterlassen hat, sondern auch bei den Kolonisierenden. Postkoloniale Ansätze versuchen, diese Spuren des Kolonialismus z.B. in Europa aufzudecken und zu zeigen, wie sehr der Kolonialismus auf das Selbstverständnis Europas und der Europäer eingewirkt hat. Als kritische Perspektive auf das Weißsein entwickelte sich im akademischen Diskurs um Postkolonialismus der USA seit den 1990er-Jahren eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Critical Whiteness“.

Die Theorie des Postkolonialismus ist vor allem eine Analyse der kulturellen Dimensionen der Kolonialzeit und des Imperialismus. Postkoloniale Theoretiker befassen sich mit folgenden Fragen: Was passierte am Ende der Kolonialära mit dem kolonialistischen Denken, was ist das Erbe der kolonialen Epoche und welche gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Konsequenzen sind daraus erwachsen und noch heute sichtbar. Man erforscht in (post-)kolonialen Kontexten Erfahrungen von Unterdrückung, Widerstand, Geschlecht, Migration und dies auch im Hinblick auf die Kolonisatoren. Hinsichtlich des Westens argumentieren Postkolonialisten folgendermaßen: Zum einen kann man die Geschichte des Westens nicht isoliert betrachten. Kolonialismus und Imperialismus gehören unumstößlich zur europäischen Geschichte. Außerdem benötigte der Westen die kolonialen Gebiete, um sich selbst stets als positives Antonym zu definieren. Hier greifen Begriffspaare wie: Demokratie-Despotie, zivilisiert-primitiv, fortschrittlich-rückschrittlich, rational-irrational.

Marxistische Kritik am Postkolonialismus

Die marxistische Kritik am Postkolonialismus zielt darauf ab, dass dieser in seiner Fixierung auf kulturelle Probleme die ökonomischen Ursachen des Kolonialismus außer Acht lässt. Er liefert keine Erklärung, warum die europäischen Mächte im Rahmen des Kulturkontaktes die „Anderen“ nicht einfach in Ruhe ließen. Will man dieses Faktum erklären und wissen, wie auch heute noch koloniale Abhängigkeiten im Rahmen der sogenannten Globalisierung neu hergestellt werden, muss man sich notwendigerweise mit Imperialismustheorien oder anderen ökonomischen Erklärungen auseinandersetzen – neben der Kultur spielen Staat und Kapital eine wichtige Rolle bei der Kolonisierung. Trotz von marxistischer Seite häufig zu Recht geäußerter Kritik ist eine klare Trennung zwischen marxistischen und postkolonialen Theorieansätzen bei einigen Autoren nicht möglich. Stuart Hall vertritt beispielsweise durchaus marxistische Standpunkte, der nichtmarxistische Literaturkritiker Homi K. Bhabha hingegen bezieht sich eher auf antiessentialistischere Theoriemodelle wie Laclau und Mouffe.

Kritik an eurozentrischer Sicht

Die gänzliche Ablehnung der eurozentrischen Fortschrittsvorstellung wirft Probleme auf. Die Suche nach einem eigenen Weg kann nicht die Rückkehr zum vorkolonialen Zustand bedeuten, denn erstens ist nicht feststellbar, wie dieser genau aussah, und zweitens will auch niemand ernsthaft auf gewisse technologische oder auch politische Errungenschaften verzichten. Somit würde ein eigener Weg für die ehemals Kolonisierten notwendigerweise die Integration von in Europa geprägten wissenschaftlich-technischen Erkenntnissen erfordern. Vielleicht geht es weniger darum, die Vorstellung des Fortschritts als eurozentrisch abzulehnen, sondern einen selbstbestimmten Weg von Fortschritt und Entwicklung zu finden. Dies ist die politische Frage, wie viel Handlungsspielraum die ehemaligen Kolonien im Rahmen des globalisierten Kapitalismus besitzen, und wie sie diesen erweitern können.

Theoretiker des Postkolonialismus (Auswahl)

Siehe auch

Literatur

  • Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin: The Empire Writes Back. Routledge 2002, ISBN 0-415-28020-6.
  • Iman Attia (Hg.): Orient- und IslamBilder - Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster, 2007, ISBN 978-3-89771-466-3
  • Doris Bachmann-Medick (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 3. neu bearb. Aufl. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek, ISBN 3-499-55675-8 (darin Postcolonial Turn, S. 184-237).
  • María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. transcript-Verlag 2005, ISBN 3-89942-337-2.
  • Harald Fischer-Tiné: Postkoloniale Studien, in: Europäische Geschichte Online, hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011, Zugriff am: 16.11.2011.
  • Ania Loomba: Postcolonial Studies and Beyond. Duke: University Press, 2005, ISBN 0-8223-3523-9.
  • Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration Reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs. Berlin, überarb. und erw. Neuauflage (1999/2004), ISBN 3-86573-009-4
  • Udo Wolter: Das obskure Subjekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung. ISBN 3-89771-005-6
  • Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Unrast Münster 2007. ISBN 978-3-89771-458-8
  • Kuan-wu Lin: Westlicher Geist im östlichen Körper?: "Medea" im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 3-837-61350-X
  • Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster. ISBN 3-89771-440-X
  • Markus Schmitz: Kulturkritik ohne Zentrum. Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation. Bielefeld: transcript-Verlag 2008, ISBN 978-3-89942-975-6.
  • Robert C. Young, Postcolonialism: An Historical Introduction, Blackwell 2001, ISBN 0-631-20071-1
  • Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. ISBN 3-89771-425-6
  • Nikita Dhawan: Can the Subaltern Speak German? And Other Risky Questions. Migrant Hybridism versus Subalternity.
  • Prem Poddar und David Johnson: A Historical Companion to Postcolonial Literatures. Edinburgh University Press, 2005, ISBN 0-7486-1855-4
  • Jochen Dubiel: Dialektik der postkolonialen Hybridität. Die intrakulturelle Überwindung des kolonialen Blicks in der Literatur. Bielefeld Aisthesis Verlag 2007, ISBN 978-3-89528-609-4
  • Axel Dunker: Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München, Wilhelm Fink Verlag 2007. ISBN 978-3-7705-4497-4
  • Patricia Purtschert: Postkoloniale Diskurse in der Schweiz. 'De Schorsch Gaggo reist uf Afrika' , in: Widerspruch 28 (2008), Nr. 54, 169-180.

Weblinks


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