Polysem

Polysem

Polysemie bezeichnet in den Sprachwissenschaften ein Wort bzw. ein sprachliches Zeichen, das für verschiedene Begriffe steht, in Unterscheidung zur Homonymie aber primär in Ausdifferenzierung eines gemeinsamen semantischen Zusammenhangs.

Dort, wo es auf die genaue Bedeutung ankommt, sollten durch die Verwendung von Polysemen entstehende Mehrdeutigkeiten (Unschärfe) vermieden oder aufgelöst werden (Disambiguierung). Polysemie kann zu Missverständnissen und Fehlschlüssen führen.

Inhaltsverzeichnis

Definitionen

Das Wort Polysem bildet sich ausgriechisch poly „viel“ und sema „Zeichen“, und ist der Gegenbegriff zur Monosemie[1] (gr. monos „einzeln“). Abzugrenzen ist die Polysemie auch von der Homonymie (gr. „Gleichlautung“).

[1] bedeutet Polysemie allgemein Mehrdeutigkeit eines (sprachlichen) Zeichens[2], insbesondere von Wörtern (lexikalische Mehrdeutigkeit, auch: Ambiguität[3] Äquivokation)
[2] bedeutet Polysemie spezifisch eine systematische Mehrdeutigkeit - im Gegensatz zur zufälligen Mehrdeutigkeit (Homonymie).[4][5]

Die Abgrenzung zwischen Homonymie und Polysemie erfolgt unterschiedlich, so dass Polysemie bedeuten kann:

[2.1] eine systematische Mehrdeutigkeit auf Grund etymologischer Verwandtschaft;
[2.2] eine systematische Mehrdeutigkeit auf Grund einer Verwandtschaft der einzelnen Bedeutungen, die eine gemeinsame Grundbedeutung[4][1][6] oder gemeinsame Kernbedeutung[7] haben, was vielfach – aber nicht zwangsläufig – auf eine gemeinsame etymologische Wurzel zurückzuführen ist

Letzteres ist die Hauptverwendung in sprachwissenschaftlichem Kontext.

Polysemie ist nicht auf Wörter beschränkt. Es gibt Polysemie generell eines Zeichens im allgemeinen[8], eines Ausdrucks[4] bzw. konkret eines Morphems, eines Lexems oder des Syntagmas eines Satzes[3].

Auftreten von Polysemie

Die meisten Wörter sind polysem[9], beschreiben also mehrere mehr oder minder unterschiedliche Sachverhalte, die sich aus einem gemeinsamen Kontext entwickeln. Polysemie gilt als natürlichsprachlicher Normalfall[10] und als Ausdruck des sprachlichen Ökonomie-Prinzips[10].

Beispiele für besonders viele Polyseme sind:

Polyseme können auf verschiedene Weisen entstehen. Die Ursachen der Polysemie sind Metaphorik (bildhafte Verwendung), Metonymie (nicht wörtliche Verwendung), Bedeutungsentlehnung (erweiterte Verwendung), elliptischer Gebrauch (weglassende Verwendung), Belebung von Archaismen (wiederaufnehmende Verwendung).[9]

Polysemie und Homonymie

Legt man die Hauptbedeutung zu Grunde kommt man zu folgender Übersicht:

Äquivokation, Homonymie und Polysemie

Polyseme haben mehrere Bedeutungen, die untereinander ähnlich sind[11]. Ist dies bei mehrdeutigen Wörtern nicht der Fall, so liegt stattdessen Homonymie vor. Als homonym gelten Wörter, deren Bedeutungen so verschieden sind, dass zwischen ihnen keine Ähnlichkeit zu erkennen ist. Eine eindeutige Abgrenzung zwischen Polysemie und Homonymie ist allerdings nicht immer möglich.

Die Abgrenzung zwischen Polysemie und Homonymität wird verbreitet auch dahingehend vorgenommen, dass Polysemie vorliegt, wenn ein Wort (ein Lexem) mehrere Bedeutungen (Bedeutungsvarianten) hat, und Homonymie gegeben ist, wenn (mindestens) zwei Wörter zwar denselben Wortkörper, jedoch verschiedene Bedeutungen haben[12]. Die Schwierigkeit liegt dann allerdings darin, anzugeben, wann ein und wann mehrere Wörter vorliegen.

Ob Polysemie oder Homonymie vorliegt, ist vielfach nur bei vertieften etymologischen Kenntnissen noch erkennbar.

Das Schulbeispiel ist Bank im Sinne von (1) „Geldinstitut“ und (2) „Sitzgelegenheit“. Es handelt sich etymologisch um ein Wort und ist daher ein Polysem im Sinne von [2.1], jedoch bei synchronischer Betrachtung nicht mehr im Sinne von [2.2]. Es wird daher in Wörterbüchern zum Teil als ein Wort abgehandelt, zum Teil (z. B. im Duden[13]) erhält jede Bedeutung einen eigenen Eintrag.
Der Ausdruck Bauer hat die Bedeutungen (1) „Landwirt“ und (2) „Vogelkäfig“. Beide Bedeutungen haben eine bis ins 8. Jahrhundert zurückgehende gemeinsame etymologische Wurzel.[14]

Vor diesem Hintergrund kann bezweifelt werden, ob die traditionelle Unterscheidung Polysemie und Homonymie von mehr als etymologischen Wert ist. Es bietet sich daher an, entweder im (aufgeweichten) Sinne von [1] von Polysemie zu sprechen oder statt von Polysemie/Homonymie verallgemeinernd von (lexikalischer) Mehrdeutigkeit, Ambiguität[7] oder Äquivokation.

Arten von Polysemie

Polysemie durch Spezialisierung

Viele Polyseme entstehen dadurch, dass ein Ausdruck durch Verwendung in einem speziellen Kontext eine leicht veränderte Bedeutung erfährt. Auf diese Weise kann aus einem allgemeinen Begriff ein neuer Fachbegriff einer Fachsprache entstehen. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich, wenn ein fachsprachlicher Begriff mit der Zeit auch in allgemeinsprachlicher Bedeutung verwendet wird.

Reguläre Polysemie

Ein Spezialfall der Polysemie ist die reguläre Polysemie. Reguläre Polysemie liegt bei Gruppen von lexikalischen Zeichen vor, wenn von jeweils einer Bedeutung regulär eine zweite Bedeutung erschlossen werden kann. So kann bei lexikalischen Zeichen, die Institutionen bezeichnen auf eine weitere, die Mitglieder der Institution oder das Gebäude dieser Institution bezeichnende Bedeutung geschlossen werden.

In den folgenden Beispiel bezeichnet Schule eine Institution, eine Personengruppe und ein Gebäude:

  1. „Er geht noch zur Schule“ (= Institution)
  2. „Die Schule streikt heute“ (= alle Schüler, Lehrer, etc.)
  3. „Schulen sollten von außen als solche erkennbar sein“ (= Gebäude und bei als solche gleichzeitig Institution)
  4. „Unsere Schule steht unter Denkmalschutz!“ (= konkretes Gebäude)

Diese Form der Polysemie wird im Wörterbuch nicht erfasst.

Das Schul-Beispiel wird von Bierwisch angeführt. Es wird zum Teil als Beleg dafür angesehen, dass ein Ausdruck nicht direkt ambig[15] und vage sei. In Anlehnung an das Konzept der Familienähnlichkeit von Wittgenstein könne daher von einer Bedeutungs- oder Konzeptfamilie[15] gesprochen werden.

Richtiger dürfte es sein, die Vielzahl der Lesarten als gewöhnliche lexikalische Mehrdeutigkeit zu erfassen, bei denen die einzelnen Bedeutungen sich unter anderem durch das Verhältnis der Analogie voneinander ableiten lassen. Ebenso wenig ist der Ausdruck gesund in „gesunde Biokost“ und „gesunder Mensch“ vage, nur weil er im ersten Fall in einer analogen Bedeutung (gesund = „das, was Gesundheit erhält/verschafft“) verwendet wird.

Polysemie durch Bedeutungserweiterung

Eine weitere Form der Mehrdeutigkeit ist die Bedeutungserweiterung durch übertragenen Gebrauch. In dem Satz „Peter ist eine Banane“ wird das lexikalische Zeichen Banane nicht in einer neuen, Personen bezeichnenden Bedeutung verwendet. Es werden lediglich bananentypische Eigenschaften, etwa die, lang und krumm zu sein, auf Peter übertragen. Auch diese Form der Mehrdeutigkeit wird nicht in Wörterbüchern kodiert. Wenn sich diese Form der Bedeutungsübertragung aber im Gebrauch verfestigt, wird dies auch in Wörterbüchern registriert (Beispiel Schwein in: „Peter ist ein Schwein“).

Lexikografische Erfassung von Polysemie

Die Polysemie ist ein linguistisches oder lexikologisches Phänomen, das sich nicht unmittelbar aus dem Gebrauch eines lexikalischen Zeichens ablesen lässt.

Bei der Wörterbucherstellung (Lexikografie) wird die Mehrdeutigkeit von sprachlichen Zeichen dadurch erfasst, dass in einem Artikel zu dem betreffenden sprachlichen Zeichen mehrere semantische Kommentare, zu jeder Bedeutung einer, erstellt werden. In Wörterbüchern werden Polyseme unter einem Stichwort behandelt, Homonyme dagegen unter verschiedenen Stichwörtern. So findet man nur ein Stichwort Pferd, das u.a. die Bedeutungen „großes Säugetier“ und „Turngerät“ hat, aber zwei Stichwörter Bank mit den Bedeutungen „Sitzgelegenheit“ oder „Geldinstitut“.[13]

Polyseme und homonyme lexikalische Zeichen erweisen sich auch als Problem bei der Indexierung innerhalb der Dokumentation, wo durch einzelne, definierbare Schlagwörter (Lemmatisierung) ein Sachverhalt erschlossen werden soll. Aus diesem Grund werden die Schlagwörter in einem kontrollierten Vokabular voneinander abgegrenzt.

Siehe auch

Literatur

  • Pethö, Gergely: What is Polysemy? A Survey of Current Research and Results. In: Németh, Enikö T. / Bibok, Károly: Pragmatics and the Flexibility of Word Meaning. Amsterdam:Elsevier 2001, S. 175-224.

Einzelnachweise

  1. a b Homberger: Sachwörterbuch zur Sprachwissenschaft. 2000; Eintrag Polysem.
  2. dtv-Lexikon: in 20 Bänden (1992), Stichwort Polysemie ISBN 3-423-05998-2: „Mehrdeutigkeit eines sprachlichen Zeichens“
  3. a b Ulrich: Linguistische Grundbegriffe. 5. Aufl. 2002, Polysemie
  4. a b c Meibauer: Einführung in die germanistische Linguistik. 2. Aufl. 2007, S. 193
  5. Die Terminologie von „zufälliger“ und „systematischer Mehrdeutigkeit“ findet sich bei Meibauer 2007
  6. Ulrich 2002: „Polysemie fordert einen noch erkennbaren Zusammenhang der Bedeutungen“
  7. a b Schwarz, Chur: Semantik 5. Aufl. 2007, S. 56
  8. Regenbogen, Meyer: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 2005, Eintrag Polysemie
  9. a b Kühn: Lexikologie 1994, S. 55
  10. a b Zitat wörtlich nach Pelz: Linguistik. 1996, S. 216
  11. Kessel, Reimann: Basiswissen Deutsche Gegenwartssprache. Tübingen (Fink), 2005, ISBN 3-8252-2704-9, S. 163f. verlangen für eine Polysemie zusammengehörige Bedeutungen und mindestens ein identisches semantisches Merkmal
  12. Pospiech: Semantik. In: Volmert (Hrsg.): Grundkurs Sprachwissenschaft. 5. Aufl. 2005, ISBN 3-8252-1879-1, S. 160
  13. a b Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Dudenverlag, Mannheim/Wien/Zürich 1983, ISBN 3-411-02175-6
  14. Kessel, Reimann, 2005, S. 166
  15. a b Schwarz, Chur: Semantik. S. 57

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