Poleis

Poleis

Als Pólis (η πόλη, οι πόλεις = weibl., die Stadt, die Städte) wird gewöhnlich der antike griechische Stadtstaat als städtischer Siedlungskern Stadt (ásty) mit einem dazugehörigen Umland (chóra), dessen Bewohner rechtlich nicht von den Einwohnern des urbanen Zentrums unterschieden waren, bezeichnet. Die typische Pólis war eine Bürgergemeinde bzw. ein Personenverband und definierte sich nicht primär über ihr Territorium, sondern über ihre Mitglieder.

Seit der Entstehung der Pólis in archaischer Zeit und der großen Zahl an Neugründungen im Hellenismus blieb die Mittelmeerwelt über Jahrhunderte hinweg städtisch geprägt, obwohl die Mehrheit der Menschen auf dem Land lebte (denn in der Regel waren auch die meisten Landbewohner Bürger oder Abhängige einer Pólis). Das römische Reich stützte sich gerade im Osten in starkem Maße auf die nun nur noch halbautonomen Poleis, die dann in der Spätantike vielerorts einen langsamen Niedergang erlebten. Im sechsten Jahrhundert scheiterten letzte Versuche, die Position der Städte zu stärken, die islamische Expansion des 7. Jahrhunderts führte endgültig zum Untergang der meisten Poleis. In Byzanz verwandelten sich die meisten Städte nun von einer polis in ein befestigtes, oft winziges kastron.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung und Charakter der Polis

Polis (mit den Worten Politik, Metropole bzw. Metropolis und Kosmopolis, Kosmopolit verwandt) bezeichnete ursprünglich eine befestigte Höhensiedlung (auch: Akropolis: Burgberg), unter deren Schutz sich spätestens im 8. Jhd. v. Chr. Siedlungen städtischen, aber auch präurbanen Charakters entwickelten (vgl. nur Homer, Ilias, 6,88; 20,52 ). In Athen wurde Polis noch bis ins 5. Jhd. v. Chr. synonym mit Akropolis verwendet (Thukydides, 2,15,3-6). Hintergrund stellte wohl das im griechischen Raum seit dem frühen 8. Jhd. v. Chr. einsetzende Bevölkerungswachstum dar; auch dürfte orientalischer Einfluss eine gewisse, aber schwer zu bestimmende Rolle gespielt haben. (Mit den Stadtstaaten der Phönizier pflegten die Griechen damals enge Kontakte.) Die uns geläufige Bedeutung als "Gemeinwesen eines Bürgerverbandes" erhielt der Begriff erst im weiteren Verlauf der archaischen Epoche, als sich die Polis zu jener Form der politischen Organisation entwickelte, die so charakteristisch für Griechenland und von Griechen besiedelte Regionen in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. werden sollte.

Mit der Großen Griechischen Kolonisation (ca. 750 bis 550 v. Chr.) verbreitete sich der Typus der Polis vom griechischen Mutterland (das Festland und der Ägäisraum) über die Küsten fast des gesamten Mittelmeers und des Schwarzen Meeres. Das führte dazu, dass sich der Kommunikationsraum, in dem Griechen ihre Erfahrungen austauschten und in ihren lokalen Gemeinschaften spezifische Identitäten entwickelten, erheblich erweiterte. Zugleich ging von der griechischen Kolonisation vermutlich ein starker Impuls aus, sich in der Polis Institutionen zur Entscheidungsfindung, Rechtspflege und ständiger Wehrbereitschaft zu geben; möglicherweise beeinflusste die Entwicklung in den griechischen Kolonien (richtiger: Apoikien) auch die Verfassung der Städte im Mutterland. Später, im hellenistischen Zeitalter, waren die Städtegründungen Alexanders des Großen und seiner Nachfolger, der Diadochen, ein wichtiges Mittel der "Hellenisierung" des Alten Orients. In hellenistischer, römischer und spätantiker Zeit verloren die meisten Poleis dabei zwar ihre politische Unabhängigkeit, blieben aber noch sehr lange halbautonome Gemeinwesen und bildeten das ökonomische wie administrative Rückgrat der Diadochenreiche wie des Römischen Reiches.

Insgesamt existierten im griech. Mutterland sowie in den "kolonialen" Gebieten der Hellenen an den Küsten des Mittelmeers und des Schwarzen Meers und später in den hellenistischen Reichen mindestens 1500 Siedlungen vom Typ der Polis (Lit.: K.-W. Welwei, Polis, in: Der Neue Pauly 10, Sp. 22).

Die Griechen beschränkten den Begriff Polis nicht auf jene Gebiete, in denen sie selbst siedelten, sondern bezeichneten auch Gemeinden wie Karthago in Nordafrika und Rom in Italien als Poleis. Die geographischen Besonderheiten Griechenlands - kleinräumige fruchtbare Ebenen, die von Gebirgen umschlossen und von Flüssen durchflossen werden, - förderten das Entstehen kleinräumiger politischer Einheiten, die sich bald als völkerrechtlich souveräne Staaten verstanden. Dabei wird die Polis in erster Linie als "Gemeinschaft von Bürgern" (koinônía tôn politôn) definiert. Der Charakter als Personenverbandsstaat zeigt sich sehr deutlich in der üblichen Bezeichnung eines Staates nach seinen Bürgern (hoi Athênaíoi, hoi Korínthioi, hoi Lakedaimónioi usw.), nicht nach seinem Staatsgebiet (etwa Athénai, Thébai). Die meisten Poleis näherten sich dem Ideal der kleinen, überschaubaren Gemeinde an, in der man einander kannte und sich leicht zu Versammlungen einfinden konnte; vgl. Aristoteles, Politik, 7, 1326 a 35 bis 1326 b 25. Platon (Gesetze, 5 737 d bis 738 a) geht von einer Idealzahl von 5040 Bürgern als Grundbesitzer und Verteidiger ihres Landes aus.

Insgesamt ist für die klassische Zeit von schätzungsweise 700 Poleis mit einer Durchschnittsgröße von 50 bis 100 km² auszugehen. Bewohnt wurden sie von meist 2000 bis 4000 Menschen. Argos verfügte im Vergleich dazu über etwa 1.400 km². 626 Stadtstaaten sind aus klassischer Zeit durch Münzen, literarische Quellen und Tributlisten bekannt. Unser heutiges Bild von einer Polis wird im Gegensatz zur damals herrschenden Wirklichkeit von einer kleinen Anzahl politisch besonders bedeutsamer Stadtstaaten bestimmt, die - wie Athen und Sparta - allerdings selbst äußerst gegensätzlich in Charakter und politischer Organisationsform sein konnten. Im Hellenismus stieg die Zahl der Poleis dann, wie gesagt, noch einmal stark an. In späterer Zeit konnten einzelne Städte wie etwa Antiochia oder Alexandria auch mehrere hunderttausend Einwohner haben, doch blieben dies Ausnahmen.

Vergleichbare Stadtgemeinden haben im Mittelmeerraum sowohl Phönizier (z. B.. Karthago), Etrusker (z. B.. Veii, aber auch Rom) begründet. Die keltischen oppida bildeten offenbar eine primitivere Siedlungsform, die die Römer dann aber in civitates umwandeln konnten.

Die Alternative zu Pólis bildete der „Éthnos“, der antike Stammesstaat. Er war in Regionen mit wenigen oder keinen städtischen Siedlungskernen wie im westlichen und nordwestlichen Griechenland die Hauptorganisationsform, in der die einzelnen dörflichen Siedlungen nur untergeordnete Kompetenzen und Funktionen ausüben konnten. Zu weltgeschichtlicher Bedeutung gelangte der Stammesstaat erst in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Stammeskönigtum Makedoniens, als Philipp II. daraus die stärkste Militärmacht Europas formte und sein Sohn und Nachfolger Alexander der Große das Stammeskönigtum über Asien und Nordafrika (Ägypten) zu einem griechisch geprägten Weltreich erweiterte - das aber rasch zerfiel.

Politische und gesellschaftliche Entwicklung der Stadtstaaten

Die politische Entwicklung vieler Poleis scheint nach einem gemeinsamen Muster zu verlaufen: Seit den homerischen Epen und dem Beginn der archaischen Epoche Griechenlands wurden die Poleis von einer Großgrundbesitzeraristokratie regiert. Das stieß bald auf den Widerstand nichtadliger Schichten des Demos, zumal die Kluft zwischen Arm und Reich immer breiter wurde. Die akute Krise der Adelspolis nutzten machtgierige Adlige aus, um sich seit der Mitte des 7. Jhd. v. Chr. als Tyrannen an die Spitze verschiedener Poleis zu putschen. Diese Art der illegitimen Einzelherrschaft hatte, wie die Kritik Solons um 600 v. Chr. zeigt, bereits die gleiche negative Bedeutung, die wir noch heute in dem modernen Begriff des Tyrannen fassen können. Doch war spätestens um 600 v. Chr. die Institutionalisierung der Polis bereits so weit fortgeschritten, dass sie als politisch handelndes Subjekt (Lit.: Inschrift aus Dreros bei R. Meiggs - D. Lewis (Hgg.): A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fifth Century B.C., 2. Aufl., 1988, Nr. 2: "von der polis beschlossen") bzw. die Bürgerschaft als Einheit (Staatselegie Solons) gedacht wurden.

Am Ende dieses Prozesses stand meist eine Verfassung, in der alle zum Dienst als Schwerbewaffnete (= Hopliten) fähigen begüterten Bürger als politisch berechtigte Bürger mit gleichem aktiven und passiven Wahlrecht (letzteres abgestuft nach der Höhe des agrarischen Einkommens, aber nicht mehr an adlige Geburt gebunden) anerkannt waren und politische Aufgaben in Ratsgremien (bulé) vorberaten, in einer Volksversammlung (ekklesía) mit der Mehrheit der Stimmen entschieden und von jährlich wechselnden Beamten ausgeführt wurden. War auch die Masse der ärmeren Kleinbauern und der Grundbesitzlosen (= Theten), die als Leichtbewaffnete Kriegsdienst verrichteten, wenigstens mit aktivem Stimmrecht an den Abstimmungen in der Volksversammlung und im Volksgericht beteiligt, wie in Athen nach den Reformen Solons 594/93 v. Chr., so definiert man nach den Kriterien des Aristoteles (Politik, 2,9,1273 b,2,36 - 1274 a,4-5 ) diese Verfassung als eine durch oligarchische und aristokratische Elemente gemäßigte, "althergebrachte" Demokratie.

Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände der Perserkriege entwickelte sich Athen von einer Landmacht zur Seemacht, in der die Theten das Gros der Ruderer stellten und mit ihrer militärischen Bewährung in der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. und den Expeditionen des 478/77 gegründeten Delisch-Attischen Seebundes an politischem Bewusstsein soweit erstarkten, dass sich ab 462/61 mit den Reformen des Ephialtes und Perikles in Athen die gemäßigte Demokratie mit der Entmachtung des Areopags und der Verleihung auch des passiven Wahlrechts an die Theten zur sog. radikalen Demokratie wandelte.

Mit Ausbruch des Peloponnesischen Krieges geriet die Welt der griechischen Polis zunehmend in eine existenzielle Krise. Das Hegemoniestreben der größeren Stadtstaaten hatte ein Jahrhundert fast permanenter Kriege zur Folge. Versuche auf der Basis einer koiné eiréne, eines Allgemeinen Friedens, zu einer dauerhaften Friedenslösung unter Wahrung der jeweiligen Autonomie zu gelangen, scheiterten in der 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. mehrfach. Am Ende mussten sich alle Poleis mit Ausnahme Spartas zunächst der makedonischen, dann der römischen Vorherrschaft beugen. Doch blieben die Poleis in hellenistischer und römischer Zeit mit ihren charakteristischen Institutionen weiter bestehen und konnten, freilich unter der Kontrolle des Königs bzw. des römischen Statthalters und später des Princeps, eine gewisse lokale Autonomie und Freiheit genießen. Das aufstrebende Christentum fand im gesamten Imperium Romanum seine ersten Missionszentren in diesen alten städtischen Zentren (Lit.: vgl. P. J. Rhodes: Polis II. Als politischer Begriff, in: Der Neue Pauly Bd. 10, 2001, Sp. 25).

Die Merkmale der Polis als Staatstypus

Die Form der politischen Organisation, die in der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. so typisch für Griechenland und die von Griechen besiedelten Regionen war, weist etwa ab 600 v. Chr. folgende wesentliche Merkmale auf:

  1. Politische Selbstverwaltung und Selbstregierung durch die freien männlichen Bürger.
  2. Das Streben nach innerer Unabhängigkeit durch eigene Gesetze (Autonomía) und politische Institutionen.
  3. Das Streben nach äußerer Unabhängigkeit durch Wehrhaftigkeit auf der Basis einer allgemeinen Wehrpflicht und Selbstausrüstung (Eleuthería = Freiheit).
  4. Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit aller vor dem Recht.
  5. Weitestgehende wirtschaftliche Unabhängigkeit der Haushalte der einzelnen Bürger (Autarkia) durch Eigentum an einer Parzelle Land (Kléros), das sich landwirtschaftlich bearbeiten ließ und mit seinen Erträgen die Existenz der bäuerlichen Familien sicherstellen sollte. Das Eigentum an Grund und Boden war prinzipiell frei veräußerlich, beleihbar und vererblich. Das unterschied das Bodenrecht der antiken und auch mittelalterlichen Stadt des Okzidents grundlegend von der Stadt des Orients. Für die antike Stadt war ferner die Einheit von städtischem Zentrum und umliegendem Landgebiet (Chóra) im Gegensatz zur mittelalterlichen Stadt konstitutiv. Hier muss daran erinnert werden, dass die antiken Gesellschaften Agrargesellschaften waren, in denen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Lande arbeiteten. Sie produzierten für sich selbst und für die städtische Bevölkerung Nahrungsmittel, aber auch Rohstoffe wie Wolle. Die bäuerlichen Familien deckten aus den Erträgen ihrer Felder und Herden vornehmlich den Eigenbedarf (Subsistenzproduktion). Das gilt auch für den Haushalt reicher Oberschichtfamilien. Märkte hatten daher nur eine beschränkte Funktion. Nur in größeren Städten, deren Einwohner keine direkte Beziehung zur Agrarproduktion hatten, war keine Selbstversorgung mehr möglich, so dass hier viele gezwungen waren, alles Lebensnotwendige auf dem Markt zu kaufen. Dementsprechend stammt der Begriff Oikonomía von Oíkos = Haus und bedeutet ursprünglich "Hauswirtschaft" im Unterschied zur modernen "Volkswirtschaft". Das heutige Wirtschaftssystem ist erst im Verlauf der Industrialisierung entstanden, so dass seine Strukturen keineswegs auf die Antike projiziert werden dürfen.
  6. Die Poleis verfügten über öffentliche Gebäude (z. B.. Ratsgebäude) und einen zentralen Versammlungsplatz (Agorá).
  7. Sie hatten einen spezifischen Kalender.
  8. Eigene Feste und Heiligtümer; denn jede Polis war auch eine religiöse Gemeinschaft mit einer Schutzgottheit (z. B. Athena Polias für Athen).
  9. Eigene Zahlungsmittel (Münzen) sowie ein eigenes Heer und zuweilen auch eine Flotte.
  10. Am politischen Willensbildungsprozess einer Polis war nur der männliche, erwachsene, von Bürgern abstammende und zuweilen durch eine bestimmte Vermögensqualifikation amtsfähige (Ämter waren meist unbesoldete Ehrenämter) Teil der Bevölkerung beteiligt (Lit.: dazu auch P. J. Rhodes, Polis II. Als politischer Begriff, in: Der Neue Pauly Band 10, 2001, Sp. 23).

Die Gliederung der Polis

Bereits in der Ilias (2,362 f. und 9,63) ist das Heer nach Phylen und Phratrien geordnet. Homer spielt damit auf ein neues Gliederungsprinzip der Polis seiner Zeit (Mitte 8. Jhd. v. Chr.) an. Doch sind die Anfänge der Phylen und Phratrien sicher früher anzusetzen. Ursprünglich offenbar nur bei Ioniern und Doriern gebräuchlich wurden die Phylen seit dem 8. Jhd. v. Chr. das am weitesten verbreitete Gliederungselement der Poleis. Zahl und Namen der Phylen („Stämme“) stimmen in den verschiedenen Städten der Ionier wie in Athen die vier Phylen (Geleontes, Aigikoreis, Argadeis und Hopletes) und in den Städten der Dorier wie in Sparta die drei Phylen (Hylleis, Dymanes, Pamphyloi) anfangs weitgehend überein. Das deutet darauf hin, dass sich die Phylen bereits als Bestandteile dieser Ethnien vor deren Wanderung und Ausbreitung etabliert hatten und dann im Prozess der Polis-Entstehung zu den obersten Abteilungen der Poleis wandelten (Lit.: B. Smarzyck, Phyle, in: Der Neue Pauly 9, 2000, Sp. 983 gegen D. Roussel, Tribu et cité, Paris 1976).

Dass die vier vorkleisthenischen Phylen Athens aus einem Zusammenschluss der Phratrien („Bruderschaften“) hervorgegangen sind, hat die neuere Forschung (Lit.: vgl. Roussel, a.a.O., 193ff.) widerlegt. In der klassischen Polis gehörte der einzelne Bürger den verschiedensten Korporationen an. Das wird in der Vor- und Frühphase der Poleis nicht anders gewesen sein. Regionale Bindungen traten gegenüber dem Prinzip des personalen Zusammenhaltes dieser Vereinigungen frühzeitig in den Hintergrund. Phylenmitglieder („Phyleten“), die ihren Wohnsitz innerhalb Attikas wechselten, blieben Angehörige ihres alten Phylenverbandes. Die vorkleisthenischen Phylen nahmen auch keine regionalen Sonderrechte in Anspruch. Vielmehr handelten ihre Vorsteher, die sog. Phylobasileis („Phylenkönige“), nicht als Repräsentanten verschiedener Regionen Attikas, sondern übten ihre Funktionen im Namen der ganzen Polis aus (Lit.: K.-W. Welwei, Die griechische Polis, S. 56). Dass die Phratrien und Phylen aus verschiedenen Schichten der Freien, Adligen wie Nichtadligen, zusammengesetzt waren, beweist: Die archaische Polis war keine „Geschlechterstadt“ (Lit.: wie Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 766 ff., in einer vergleichenden Typologie der Städte die antike Adelspolis charakterisierte).

Die erbliche Phylen-Zugehörigkeit war in der Regel die Voraussetzung für eine Teilhabe am Vollbürgerrecht. Beruhend auf einer etwa gleich großen Zahl von Bürgern bzw. Schwerbewaffneten („Hopliten“) leisteten die Phylen einen wichtigen Beitrag zur politischen, militärischen, religiösen und kulturellen Selbstorganisation der Polis. Phylen und Phratrien wirkten im Prozess der Polisbildung integrativ. Die „öffentlichen“ Aufgaben, die diese Personenverbände im Rahmen der Organisation des Gemeinschaftslebens als „Kleingesellschaft“ der Polis übernahmen, ergänzten die der zentralen Polisbehörden, so dass sich ein perfektionierter Verwaltungsapparat erübrigte. So bildeten die Phylen (mit der für Athen von Aristoteles (?), Athenaion Politeia, frg. 3 bezeugten ursprünglichen weiteren Unterteilung in jeweils drei Trittyen = „Drittel“) und Phratrien insgesamt ein Grundgerüst für die Teilhabe der Bürger am Gemeindeleben, an Verwaltung und Regierung: Sie kanalisierten deren Rechte und Pflichten, indem sie Verteilungsmechanismen für Ämter und Funktionen bzw. für die Teilhabe an Verwaltung und Regierung sowie für den Militärdienst schufen. Durch ihre Zentrierung auf die Gesamt-Polis wirkten die Phylen und Phratrien im Sinne einer Zentralisierung und verstärkten die institutionalisierte Staatlichkeit der Polis. Das gilt vor allem in Athen nach der Phylen- und Demenreform des Kleisthenes 508/507 v. Chr.: An die Stelle der vier alten, nach Personenverbänden, d. h. gentilizisch gegliederten Phylen zu je drei Trittyen traten zehn neue lokale Phylen zu je drei lokalen Trittyen aus den drei großen Distrikten von Attika, nämlich „Stadtgebiet“, „Binnenland“ und „Küstengebiete“.

Die Demen („Ortsgemeinden“) mit dem jeweiligen Wohnsitz der Bürger als kleinste natürlich gewachsene Einheiten übernahmen im Rahmen einer weitgehenden kommunalen Selbstverwaltung mit einem jährlich gewählten Bürgermeister an der Spitze und der Gemeindeversammlung als letztem Entscheidungsträger in allen die Gemeinde betreffenden Angelegenheiten die „öffentlichen“ Aufgaben der Phratrien: Sie verwalteten jetzt das Personenstandsregister, nämlich Geburts-, Heirats- und Sterbelisten, das Wehrregister und die Liste der Vollbürger.

Das alte System von Personenverbänden ließ Kleisthenes freilich bestehen (Aristoteles, Athenaion Politeia, 21,6), beließ ihm aber nur noch religiöse Funktionen. Ungeachtet der neuen „politischen“ Rolle der sich weitgehend selbst verwaltenden Ortsgemeinden („Demoi“) blieb aber die Mitgliedschaft in der Phratrie weiterhin die sakralrechtlich geforderte Voraussetzung für die Aufnahme in die Bürgerschaft.

Soziale Gruppen und Bürgerbegriff in der Polis

Die Einwohner der Poleis waren Männer, Frauen, Kinder, Metöken (= ortsansässige freie Fremde), Periöken (= Umwohnende der Polis Sparta) und Sklaven. Als Personenverbandsstaat umfasste jede Polis nur die vollberechtigten, volljährigen männlichen Bürger (Politen) als Teilhaber an der „Herrschaft“ . Frauen, Kinder, Metöken, vorübergehend in der Stadt als „Touristen“ weilende Ausländer und Unfreie waren vom Vollbürgerrecht und damit von jeder Beteiligung an der Selbstverwaltung ausgeschlossen. Als Kleisthenes 508/507 in Athen die zehn neuen lokalen „Phylen einrichtete und die Demokratie schuf“ (Herodot, 6,131), schloss er diejenigen formal aus den Phylen aus, denen die geforderte familiäre Herkunft und/oder der dauernde Wohnsitz fehlte und die so nicht als Mitglied einer Deme registriert werden konnten. Damit beginnt die Geschichte der mit dem Begriff Métoikos bezeichneten Personengruppe.

Die Metöken durften keinen Grundbesitz erwerben und mussten regelmäßig, vermutlich monatlich, eine Kopfsteuer (Metoíkion ) bezahlen: 1 Drachme für einen erwachsenen Mann, eine halbe Drachme für eine unabhängige erwachsene Frau. Wohlhabende Metöken waren zudem verpflichtet, als Hopliten Militärdienst zu leisten. Zu Beginn des Peloponnesischen Krieges stellten die Metöken bei der Invasion in das Gebiet der Polis Megara (nach Thukydides, 2,31,2) 3.000 Hopliten. Weniger die Kopfsteuer war es, sondern vor allem der Militärdienst, der von den Metöken als Belastung empfunden wurde. Da die meisten Metöken aufgrund der Tatsache, dass sie kein Land erwerben konnten, auf landwirtschaftliche Aktivitäten verzichten mussten, waren sie vor allem im Bereich von Handwerk, Handel und Geldverleih tätig. Das klassische Athen zog als größte Polis der griechischen Welt die meisten Fremden an. Um 313 v. Chr. erreichte die Zahl der Metöken, die offiziell registriert waren, angeblich knapp die Hälfte der gesamten Vollbürger, deren Zahl freilich kurz zuvor stark geschrumpft war (10.000 Metöken und 21.000 Politen: Athenaios, Deipnosophistai 272 c.).

Ein Jahrhundert später war der Anteil der Metöken an der freien Bevölkerung vielleicht noch höher. Auch wenn der Status des Metöken am besten für Athen bezeugt ist, war er keineswegs auf diese Polis beschränkt. In etwa 70 Städten ist ihre Existenz während der klassischen und hellenistischen Epoche, wenngleich unter verschiedenen Bezeichnungen, bezeugt. In allen griechischen Städten stellten die „Bürger“ also nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung einer Polis. Nicht die Gemeinschaft des Ortes, sondern die Teilhabe an der „Herrschaft“ und „Rechtsprechung“ machte den Stadtbewohner nach der literarisch bedeutsamsten Theorie des Polítes bei Aristoteles, Politik, 3,1, 1275 a, 3,7 ff. zum „Bürger“. Nur diesem war es vergönnt, ein „bürgerliches Leben“ (Bíos politikós) zu führen. Darunter verstand man die Lebensweise des Bürgers, in der seine „Freiheit“ (Eleuthería) Dasein hatte (siehe auch Achsenzeit).

Unter Berufung auf die alten Zeiten, wo nur Knechte und Fremde Handwerker waren, entschied sich Aristoteles, der berühmteste Metöke Athens, dafür, dass nur der Freie (eleútheros) - und das heißt für griechisches Denken: der vom Erwerb des Lebensnotwendigen freie, über ein Haus gebietende Mann - „Bürger“ genannt werden könne: Aristoteles, a.a.O., 1277 a 21 ff.

So ist der gemeineuropäische Bürgerbegriff vom antiken Stadtstaat aus gebildet worden. Der Verbandscharakter der Polis und die Freiheit der sie autonom regierenden Politen unterschieden die okzidentale Stadt grundlegend von der außereuropäischen (orientalisch-asiatischen) Stadt. Der europäische Bürgerstatus wurde von der klassisch-griechischen Philosophie (Platon, Aristoteles) auf den Begriff gebracht und blieb prägend für die weitere Entwicklung des europäischen Bürgerbegriffs im Mittelalter und der Neuzeit. (Lit. dazu M. Weber, a.O.741 ff.)

Frauen

Frauen hatten in der politischen Öffentlichkeit keinen Platz. Nur Priesterinnen konnten in gewichtige Positionen gelangen. Sonst standen die Frauen ein Leben lang unter der Vormundschaft ihres Mannes oder, falls dieser nicht anwesend oder gestorben war, unter der ihres Vaters bzw. ältesten Bruders. Frauen waren nicht testierfähig und konnten sich auch ihren Ehepartner nicht aussuchen. Eine materielle Abhängigkeit ergab sich daraus, dass Frauen nur sehr selten Eigentum besaßen. Schutz gegen den Mann konnte allenfalls die eigene Familie bieten.

Innerhalb des Oikos, der Verwaltung des Hauswesens, und in der Erziehung der Kinder war die Frau jedoch relativ frei und konnte große Bedeutung und hohes Ansehen genießen. Je nach Persönlichkeit und Stand konnte sie in der Lage sein, sich einen eigenen Lebensbereich zu schaffen.

Gegen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. begann ein philosophischer Diskurs über die Stellung der Frau. Platon forderte in seinem unvollendeten Alterswerk über die „Gesetze“ (gr. Nomoi, lat. de legibus) um 350, dass Frauen grundsätzlich gleichberechtigt sein und an der Ausbildung sowie den Symposien teilnehmen sollten (Plat. Nom. 781 A ff.). Mindestalter für ein Zeugnisrecht vor Gericht und für die Bekleidung von Staatsämtern solle bei den Frauen 40, bei Männern 30 Jahre sein (Plat. a.a.O. 937 A ). Männer seien vom 20. bis zum 60. Lebensjahr wehrpflichtig, Frauen von der Geburt ihres letzten Kindes bis zum 50. Lebensjahr, doch solle man sie im Militärdienst nicht überfordern (Plat. a.a.O. 785 B). Platons Ideen konnten teilweise zu einer Verbesserung der Rechte der Frau führen, ohne dass sich ihre grundsätzliche Stellung aber veränderte.

Sklaven

Die unterste soziale Gruppe bildeten die Sklaven. Ein solcher wurde man meist durch Kriegsgefangenschaft oder Schuldknechtschaft. Sie besaßen keinerlei Rechte, somit waren sie voll und ganz von den Launen ihres Herrn abhängig. Die Unfreien konnten eine zentrale Stütze der Wirtschaft darstellen und zudem erst die zeitaufwändige politische Teilhabe der Vollbürger oder deren Abwesenheit während der Kriegszüge ermöglichen. Berühmt-berüchtigt sind die attischen Staatssklaven in den Silberbergwerken von Laurion, die unter vernichtenden Bedingungen vegetieren mussten und gleichzeitig durch ihre Arbeitsleistung die Finanzierung des Flottenbauprogramms des Themistokles 483 v. Chr. ermöglichten. Freilassungen aus dem Sklavenstand fanden äußerst selten statt. Freigelassene Sklaven stiegen in den Status eines Metöken auf. Das verstärkte die negativen sozialen Implikationen, die mit dem Status eines Metöken in Athen verbunden waren.

Stadtaufbau

Die antike griechische Stadt war vor allem durch einen zentralen Platz geprägt, der Agora. Diese stellte den Mittelpunkt des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens dar. Eine Stadtmauer zum Schutz der Polis war je nach Lage und Bedeutung der Stadt unterschiedlich befestigt.

Durch die Kolonisation der Griechen wurde der griechische Stadttyp nach Ägypten, an das heutige Schwarze Meer, sowie nach Sizilien, Italien und Südfrankreich getragen. Die meisten neuen Kolonien wiesen ab 450. v. Chr. einen sehr strengen rechteckigen Straßengrundriss auf. In Anlehnung an den griechischen Baumeister Hippodamus nennt man diesen Grundriss auch Hippodamisches Schema. Eine antike griechische Stadt, in der Hippodamus dieses Schema besonders angewendet hat, ist Milet.

Beispiele antiker Poleis

Siehe auch

Literatur

Nicht extra aufgeführt werden die im Text erwähnten antiken Quellen (mit Ausnahme der Inschriftensammlung von Meiggs/Lewis).

  • Heinz Bellen: Polis, in: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 4, München 1979, Spalte 976f. (dtv).
  • Victor Ehrenberg: Der Staat der Griechen, 2. erweit. Auflage, Zürich-Stuttgart 1965.
  • S. D. Lambert: The Phratries of Attica, 2. Aufl., Ann Arbor 1998.
  • R. Meiggs - D. Lewis (Hgg.): A Selection of Greek Historical Inscriptions to the End of the Fifth Century B.C., 2. Aufl., Oxford 1988.
  • M. Riedel: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Studienausgabe Band 1, Stuttgart 2004, 672-725.
  • P. J. Rhodes: Polis II. Als Politischer Begriff, in: Der Neue Pauly (DNP) 10, 2001, Sp. 23-26 (jeder DNP Artikel jeweils mit weiterführender Literatur).
  • D. Roussel: Tribu et cité. Études sur les groupes sociaux dans les cités Grecques aux époques archaique et classique, Paris 1976.
  • H. Schneider: Phratrie, in: DNP 9, 2000, Sp. 962f.
  • B. Smarcyk: Phyle Nr. 1, in: DNP 9, 2000, Sp. 982-986.
  • Karl-Wilhelm Welwei: Polis I. Topographische und frühe Entwicklung, in: DNP 10, 2001, Sp. 22-23.
  • Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Polis, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 1998.
  • Karl-Wilhelm Welwei, Mischa Meier (Hrsg.): Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts-und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, Historia-Einzelschriften Bd. 146, Stuttgart 2000 (Sammlung wichtiger Aufsätze von Welwei zur Polis und ihrem Verhältnis zum Territorialstaat im Wandel der drei Epochen der griechischen Antike).
  • Max Weber: Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte), in: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, fünfte, revidierte Auflage, besorgt von J. Winckelmann, Studienausgabe Tübingen 1972, Kap. IX, S. 727 ff.

Weblinks


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