Pitirim Sorokin

Pitirim Sorokin

Pitirim Alexandrowitsch Sorokin (* 21. Januar 1889 in Turja (nördlich von Syktywkar), Gouvernement Wologda; † 11. Februar 1968) in Winchester (Massachusetts), USA) war ein russisch/US-amerikanischer Soziologe, der u.a. durch seine theoretischen Schriften zur Revolution hervorgetreten ist. Sorokin erforschte soziale Veränderungen und entwickelte eine Theorie sozialer Zyklen.

Inhaltsverzeichnis

Leben und Wirkung

Kurzüberblick 1917 wurde Sorokin Mitglied der russischen revolutionären Kerenski-Regierung, wurde 1922 zum Tod verurteilt, dann allerdings zur Verbannung begnadigt. 1923 emigrierte er in die USA. Von 1924 bis 1930 war er Professor für Soziologie an der University of Minnesota. Anschließend wechselte er nach Harvard, war dort zunächst Leiter des Zentrums für Altruismusforschung und baute dort das Institut für Soziologie auf. Unter seiner Wirkkraft entwickelten sich Talcott Parsons und Robert K. Merton (Merton wurde von Sorokin, Parsons und George Sarton promoviert) zu den prägenden Gestalten des Strukturfunktionalismus.

Kindheit Aufgewachsen ist Sorokin als Kind in Tur'ja, nach 1892 und dem Tod der Mutter lebte er mit seinem Bruder Vasilij beim Vater, der als Kunsthandwerker Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Von seinem Vater wurde Sorokin im Zustand der Trunkenheit mit einem Hammer schwer verletzt, wodurch Pitirims Oberlippe jahrelang entstellt war. 1899 verließen die Brüder ihren Vater.

Politische Aktivitäten Mit Hilfe eines Stipendiums besuchte er zwischen 1903-1906 ein Lehrerseminars in Chrenovo (östlich von Vologda), das von der russisch-orthodoxen Kirche betrieben wurde. In dieser Zeit entwickelte sich eine erste Annäherung an die 1901 entstandene anti-zaristische Sozialrevolutionäre Partei, der er schließlich beitrat. Als Anhänger der Narodniki-Bewegung lehnte er jedoch den Marxismus ab. Im Dezember 1906 wurde Sorokin anlässlich einer Versammlung der Sozialrevolutionäre von der Polizei verhaftet und vier Monate lang inhaftiert. Weitere Zusammenstöße mit der Polizei folgten, sodass er sich auf Drängen seiner Freunde zu einer Tante in Rym’ja (Respublika Komi) zurückzog, wo er in der Landwirtschaft mithalf.

Studium der Soziologie und erste Lehrtätigkeiten Zwischen 1907 und 1918 lebte Sorokin in Sankt Petersburg (1914-1924: Petrograd), wo er anfangs als Erzieher und Privatlehrer tätig war. Daneben hatte Sorokin intensive Kontakte mit Philosophen, Literaten und Künstlern und nahm das Studium der Psychologie am neu eröffneten Psichonevrologičeskij Institut (Psychoneurologisches Institut) auf. Zwischen 1910-1914 studierte Sorokin an der Universität Sankt Petersburg, wo er allerdings vornehmlich Soziologie, Ökonomie und Kriminologie hörte. Sorokin begann seit 1911 aktiv zu veröffentlichen, sodass er 1913 als Autor einer revolutionären Schrift erneut verhaftet und eine zeitlang inhaftiert. Nach dem Diplomabschluss 1914 wurde er Lehrer am Psichonevrologičeskij Institut, erhielt 1916 den Titel Mag. jur. (Strafrecht) an der Universität Petrograd [Sankt Petersburg], und war 1916-1917 Privatdozent für Soziologie. Für März 1917 war die Verteidigung seiner Dissertation „Verbrechen und Strafe, Heldentat und Belohnung. Eine soziologische Studie über die grundlegenden gesellschaftlichen Verhaltens- und Moralformen" für den Dr. jur. aus Strafrecht vorgesehen, doch durch die revolutionären Ereignisse kam es nicht mehr dazu.

Die Russische Oktoberrevolution Nach dem Sturz des Zaren im März war Sorokin führender Funktionär der Sozialrevolutionäre und Herausgeber der sozialrevolutionären Zeitung "Volja Naroda" (Volkswille). Er engagierte sich dabei vor allem für einen Allrussischen Bauern-Sowjet als Gegengewicht zum bolschewistisch dominierten Arbeiter-Sowjet, und machte dazu zahlreiche Reisen aufs Land. Im Mai 1917 Sekretär beim eben ernannten Kriegsminister Aleksandr Fedorovič Kerenskij (1881-1970), der dann vom 8. Juli bis 26. Oktober 1917 Ministerpräsident war; gleichsam als zweitmächtigster Mann Russlands. Nach der Oktoberrevolution und der Machtübernahme durch die Bolschewiki wurde Sorokin Anfang 1918 verhaftet und zwei Monate inhaftiert. Nach seiner Freilassung siedelte er nach Moskau über und beteiligte sich an der Gründung einer anti-bolschewistischen Zeitung sowie an der Organisation anti-bolschewistischer Kräfte.

Ab 1918 lebte er wieder in Petrograd [Sankt Petersburg] und nahm 1919 seine Lehrtätigkeit an der Universität Petrograd als Professor der Soziologie wieder auf. Kurz nach der Veröffentlichung seiner zwei Bände "Sistema sotsiologii" (System der Soziologie) wurde er 1920 zum Leiter des neu gegründeten Instituts für Soziologie ernannt. Im April 1922 Promotion zum Dr. phil. (Soziologie); Dissertation: Sistema sociologii (Das System der Soziologie). Nach erneuter Verhaftungswelle der russischen Intelligenz flüchtete Sorokin wieder nach Moskau, wo er sich freiwillig stellte und inhaftiert wurde. Vladimir Il'ic Lenin (1870-1924) hatte den Befehl zur Erschießung gegeben, Sorokin wurde aber nach Interventionen und unter der Bedingung, Russland zu verlassen, freigelassen.

Emigration über Berlin und Prag nach Cambridge (USA) Am 23. September 1922 begann seine Emigration zuerst mit einem Aufenthalt in Berlin, lebte 1922-1923 auf Einladung des tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937) in Prag und hielt Vorlesungen an der Karls-Universität Prag. Im Oktober 1923 emigrierte Sorokin in die USA auf Einladung der Soziologen Edward C(ary) Hayes (1868-1928) und Edward A(lsworth) Ross (1866-1951) und nahm 1930 die US-amerikanische Staatsbürgerschaf an. Nach Russland sollte er nicht mehr zurückkehren Anfang 1924 hielt Sorokin seine erste Vorlesung am Vassar College in Poughkeepsie, New York, lebte ab 1924 in Minneapolis, Minnesota, wo er zunächst als Lecturer an der University of Minnesota in Minneapolis tätig war. Noch 1924 Visiting Professor mit dem Gehalt eines Full Professor war Sorokin schon 1925 Full Professor of Sociology.

Von 1930 an war er Professor of Sociology an der Harvard University in Cambridge, zunächst am Department of Economics, seit 1931 am neu geschaffenen Department of Sociology, das Sorokin als Chairman bis zum freiwilligen Rückzug 1942 leitete. Zu den Lehrenden, die ans neue Department berufen wurden, gehörten unter anderem Talcott Parsons (1902-1979) und William I. Thomas (1863-1947), zu den Absolventen Robert K. Merton (1910-2003) und Kingsley Davis (1908-1997). 1964 emeritiert Sorokin und starb am 10. Februar 1968 in Winchester, Massachusetts.[1][2]

Quelle: http://agso.uni-graz.at/lexikon/index.htm

Antisemtismus

Im politisch umstrittenen Buch «Der moderne Zustand Russlands» (1922) verteidigte Sorokin die in der Emigrantenumgebung verbreitete These über «die jüdische Natur» der bolschewistischen Revolution, die als Rechtfertigung des Antisemitismus in Russland gelten kann:

«Diese Erscheinung beruht auf der außerordentlich hervorragenden Rolle, die die Unmenge von Juden bei der Vertiefung unserer Revolution und dem Wachstum unseres Kommunismus spielte. Geschwiegen von den Führern, die meisten Juden waren wie etwa Sinowjew, Trotzki, Kamenew, Steklow, Swerdlow, Radek, Krassin, Urizki, Wolodarski, Litwinow, Ioffe usw., waren die leitenden Positionen in allen Kommissariaten hauptsächlich von ihnen bekleidet, und so bleibt es bis heute. Ferner muss man sagen, da sie im wirtschaftlichen Sinne weniger als betroffen wurden, da sie viel gewandter waren. Der bedeutende Teil aller Reichtümer ist in ihre Hände übergegangen. Dank derselben praktischen Gewandtheit und der Hilfe seitens ihrer Verwandten hungerten sie weniger. Eine Reihe der berüchtigtsten Funktionen wurde ebenfalls in bedeutendem Maße von ihnen erfüllt. Der Anfang der neuen Wirtschaftspolitik hat fast alle von ihnen zu "Kapitalisten" und "Reichen" gemacht, in deren Hände so gut wie alle staatliche sowie genossenschaftliche, und private Industrie und Handel geraten. Darüber hinaus muss man erwähnen, dass die Bevölkerung Petrograds, Moskaus und anderer Städte jetzt aufgrund der Flut des Judentums aus Örtchen in die Zentren stark von Juden geprägt ist, dass sich das Judentum besser ernährt, besser bekleidet und besser lebt, dass Russen eben Juden auf allen leitenden Positionen, in allen Kommissariaten sieht, außer dem GPU, in dem es z.Z. wenig Juden gibt, dass sogar der Studentenhochschulbestand vorzugsweise jüdisch ist: in medizinischen Schulen geht es um 60, 70%, in anderen um etwas weniger: im Volksmund heißt es „die Prozentnorn umgekehrt; wenn man all das im Betracht zieht, versteht man wohl den Wachstum des Antisemitismus. Ich bin kein Antisemit, aber ich halte solche Lage für nicht normal. Ich habe nie die Beschränkungen der Juden-Rechte niemals verteidigt, aber ich kann nicht die heutige privilegierte Lage der Juden und die heutige Ausbeutung des russischen Volkes durch die Juden rechtfertigen. Ich war nie für die Prozentnorm, aber ich finde es nicht normal, dass während spezielle jüdische Hochschulen staatlich finanziert werden, 60, 70% aller Schüler normaler Hochschulen auch Juden sind. Ich muss auch darauf hinweisen, dass das Verhalten mehrerer Juden, darunter derjenigen, die keine Kommunisten, sondern reine Geschäftemacher waren, schlicht einfach räuberisch, ausbeutend und hässlich war».[3]

Diese Ansichten Sorokins werden im modernen Russland von Vertretern der äußerst nationalistischen Bewegungen auf den Schild gehoben; in diesen Kreisen wird ein Kult um Sorokin gefeiert.[4]

Werke

  • Sociology of revolution, dt. Die Soziologie der Revolution, Lehmann, München 1928.
  • Amitology as an applied science of amity and unselfish love, in: Karl Gustav Specht (Hg.), Soziologische Forschung in unserer Zeit. Ein Sammelwerk. Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1951, S. 277-279
  • Die Wiederherstellung der Menschenwürde, J. Henrich, Frankfurt am Main 1952
  • (mit W. A. Lunden): Power and morality. Who shall guard the guardians?, Porter Sargent Publishers, Boston, MA 1959
  • Social and cultural dynamics. A study of change in major systemsof art, truth, ethics, law and social relationships, Porter Sargent Publishers. Boston, MA 1970
  • The crisis of our age, Oneworld Publications, Chatam, NY 1992

Literatur

  • Balla, B./Srubar, I./Albrecht, M., Pitirim A. Sorokin, Hamburg: Krämer 2002, ISBN 3-89622-051-9
  • Cuzzort, R. P. / King, E. W., Twentieth-Century social thought, 5. Aufl., New York, NY: Harcourt Brace College Publishers 1995
  • Hillmann, K.-H., "Sorokin", in: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Kröner 1994, S. 796
  • Johnston, Barry: V. Pitrim A. Sorokin: an Intellectual Biography, Lawrence: University Press of Kansas, 1995
  • Mills, C. W., The sociological imagination, New York, NY: The Oxford University Press 2000

Weblinks

Fußnoten

  1. http://agso.uni-graz.at/lexikon/index.htm
  2. Balla,B.; Srubar, I.; Albrecht, M. (Hrsg.) 2002: Pitirim A. Sorokin - Leben, Werk und Wirkung - Beiträge zur Osteuropaforschung. Bd. 6. ISBN 3-89622-051-9
  3. http://rusology.narod.ru/thought/sorokin/sorokin1.htm
  4. http://www.liveinternet.ru/users/2587857/post92222202/

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