Pinchas Kahanowitsch

Pinchas Kahanowitsch

Pinchas Kahanowitsch (* 1. November 1884 in Berdytschiw, Ukraine; † 4. Juni 1950 (1952?) in einem sowjetischen Lager) war ein jiddischer Schriftsteller. Kahanowitsch veröffentlichte alle seine Werke unter dem Pseudonym Der Nister (Jiddisch: דער נסתּר ; = der Verborgene). Er gilt als der bedeutendste jiddische Schriftsteller der Sowjetunion.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Kindheit und Jugend

Pinchas Kahanowitsch wurde in eine chassidische Familie von Kaufleuten geboren. Sein Vater war Fischhändler in Astrachan an der Wolga. Durch seine Familie, die den Korschewer Chassiden nahe stand, erhielt er eine traditionelle religiöse Erziehung. Es war wohl seine Mutter als „fortschrittliches“ Element seiner Familie, die sein Interesse für sozialistische und zionistische Ideen weckte. 1905 besuchte er den Po'alei Zion-Kongress.

Pinchas studierte Pädagogik und begann als Zwanzigjähriger als Lehrer zu arbeiten. Dieser Arbeit ging er auch noch lange Jahre neben seiner literarischen Tätigkeit nach.

Mit 23 Jahren veröffentlichte er in Vilnius sein erstes Buch, wie alle seine Werke in seiner Muttersprache Jiddisch: Gedanken un motivn - lider in proze , eine Sammlung kurzer, meist philosophischer Betrachtungen. Schon sein Erstling erschien unter dem Pseudonym „Der Nister“, das er zeitlebens für all seine weiteren Veröffentlichungen verwendet. Das Pseudonym nimmt Bezug auf die alte chassidische Legende der 36 Gerechten, die verborgen vor der Welt und vor sich selbst als Rechtfertigung und Grundlage der Existenz der Welt dienen.

Der Erste Weltkrieg

Um der Einberufung zur zaristischen Armee zu entgehen, verließ Kahanowitsch 1907 seine Heimatstadt und zog nach Schytomyr. Hier gab er Privatunterricht in Hebräisch und setzte seine literarische Arbeit fort. Er veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten, und lernte den jiddischen Schriftsteller I. L. Peretz kennen, den Kahanowitsch sehr verehrte. Peretz erkannte dessen literarisches Talent und förderte ihn, indem er ihm half, seine literarische Prosa Hecher fun der erd 1910 in Warschau zu veröffentlichen.

1912 heiratete Kahanowitsch Rochl Silberberg, eine junge Lehrerin aus Schytomyr. 1914 wurde ihre Tochter Hodel geboren. Kahanowitsch fand Arbeit in Kiew, die seine bis dato rechtlose Lage klärte, und zog mit seiner Familie offiziell nach Kiew.

Zwischen 1912 und 1920 veröffentlichte er eine ganze Reihe von Werken verschiedenster Gattungen (Gedichte, Erzählungen, Kindergeschichten) und entwickelte dabei allmählich einen unverwechselbaren, stark symbolistisch geprägten Erzählstil, der mit den Jahren immer raffinierter und komplexer wurde.

Die zwanziger Jahre

1920 zog er für einige Monate nach Malakowka nahe Moskau und arbeitete hier als Lehrer für jüdische Waisenkinder, deren Eltern vorwiegend den zaristischen Judenpogromen von 1904 bis 1906 zum Opfer gefallen waren. Malakowka war zu dieser Zeit eine Art Labor für neue Konzepte moderner Kindererziehung, gleichzeitig wurde hier in Literatur, Lyrik und Malerei experimentiert. Er traf hier auf weitere jiddischen Künstler und Intellektuelle, unter ihnen Dovid Hofstein, Leib Kvitko und Marc Chagall. Chagall hatte bereits eine Sammlung kleiner gereimter Geschichten von Kahanowitsch illustriert, Meiselech in fersn, erschienen 1918/19.

Wohl Anfang 1921 verließ Kahanowitsch Malakowka wieder und zog mit seiner Familie nach Kaunas in Litauen. Da er dort große Schwierigkeiten hatte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, entschloss er sich, wie viele andere russische Intellektuelle dieser Zeit, die Sowjetunion zu verlassen, und zog nach Berlin. Von 1922 bis 1924 arbeitete er hier als freier Mitarbeiter der jiddische Zeitschrift Milgroim (Granatapfel). In Berlin veröffentlichte er auch eine zweibändige Sammlung seiner symbolistischen Erzählungen unter dem Titel Gedacht. Das Buch begründet einen ersten, bescheidenen literarischen Erfolg. Als die Milgroim 1924 ihr Erscheinen einstellte, zog er mit seiner Familie weiter nach Hamburg, wo er zwei Jahre lang für die sowjetische Handelsmission arbeitete.

1926 kehrte Kahanowitsch in die Sowjetunion zurück und ließ sich mit seiner Familie in Charkiw nieder. Die Sammlung Gedacht wurde 1929 auch in Russland veröffentlicht, allerdings mit leichten Veränderungen. Im selben Jahr erschien in Kiew ein weiterer Band mit Erzählungen, die wohl schon für die Berliner Ausgabe angedacht waren, unter dem Titel Fun mayne giter.

Das komplizierte Geflecht von Metaphern in seinen Erzählungen, die in ihrem Themen an die chassidische Mystik anknüpfen - besonders an die Kabbala sowie an die symbolistischen Erzählungen von Rabbi Nachman von Bratslav -, lassen ein Universum an Bildern und Gleichnissen entstehen, die an die romantischen Texte eines E.T.A. Hoffmann, aber auch an Volksmärchen, Kindergedichte oder Abzählreime erinnern. Der hypnotische Rhythmus seiner langen Sätze gibt den Erzählungen einen rätselhaft archaischen Unterton. Nicht zuletzt spiegeln sie aber auch den zunehmenden Druck wieder, der zu jener Zeit durch das Sowjetregime auf jüdische Intellektuelle ausgeübt wurde.

So wurde auch Der Nister Opfer der immer strenger werdenden sowjetischen Zensur. Als die russische, jiddische Zeitung Di royte velt (Die rote Welt) 1929 seine Erzählung Unter a ployt (Unterm Zaun) abdruckte, wurde er dafür heftig kritisiert. Der damalige Präsident des russischen Verbandes Jiddischer Schriftsteller, Moyshe Litvakov, initiierte eine Verleumdungskampagne, an deren Ende sich Der Nister vom literarischen Symbolismus lossagen musste. Er bemühte sich nun, seine literarische Arbeit im Sinne des vorherrschenden Sozialistischen Realismus zu verfassen und begann, Reportagen zu schreiben. Diese gesammelten Reportagen erscheinen 1934 unter dem Titel Hoiptstet („Hauptstädte“).

Die dreißiger Jahre

In den frühen Dreissiger Jahren veröffentlichte er fast ausschließlich als Journalist und Übersetzer, u. a. von Leo Tolstoi, Victor Hugo und Jack London. Seine eigene literarische Arbeit beschränkte sich auf vier kleinen Sammlungen mit Erzählungen für Kinder. Zur selben Zeit begann er mit der Arbeit an seinem eigentlichen Hauptwerk: Di mishpokhe Mashber (Die Familie Mashber bzw. Die Familie Krise, jid. Mashber = dt. Krise), einer realistisch geschriebenen Familiensaga um das jüdische Leben in seiner Geburtsstadt Berditschev am Ende des 19. Jahrhunderts.

Der erste Band der Familie Mashber erschien 1939 in Moskau. Das Werk wurde von der Kritik fast einhellig gelobt, er schien rehabilitiert zu sein. Doch der Erfolg währt nicht lange: die limitierte Auflage des ersten Bandes war schnell ausverkauft, der Zweite Weltkrieg und der Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion 1941 machten eine zweite Auflage unmöglich. Der zweite Band, seiner Tochter Hodel gewidmet, die bei der Leningrader Blockade verhungert war, erschien erst 1948 in New York City. Das Manuskript eines dritten Bandes, dessen Fertigstellung Der Nister in einem Brief erwähnt, ist bis heute verschollen. Eine deutsche Übersetzung der Familie Mashber wurde erstmals 1990 veröffentlicht.

Der Zweite Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Kahanowitsch nach Taschkent evakuiert. Hier schrieb er Erzählungen über die Gräuel der Judenverfolgung im von den Deutschen besetzten Polen, die ihm von Bekannten aus erster Hand beschrieben worden waren. Diese gesammelten Erzählungen erschienen 1943 unter dem Titel Khurbones in Moskau, wohin er zurück gezogen war, zusammen mit seiner zweiten Frau Lena Singalowska, einer Schauspielerin des damaligen jiddischen Kiewer Theaters. Zeitgleich engagierte sich Der Nister, wie seine jiddischen Schriftstellerkollegen Itzik Feffer, Peretz Markish und Samuel Halkin, in dem vom Intendanten des Jiddischen Staatstheaters Moskau Solomon Mikhoels geleiteten Jüdischen Antifaschistischen Komitee und verfasste Texte und Bittbriefe als Hilferufe gegen die nationalsozialistischen Pogrome. Die Texte wurden u. a. auch in US-amerikanischen Zeitungen abgedruckt.

1947 wurde er nach Birobidschan nahe der chinesischen Grenze verbannt, um über eine vom Sowjetregime in dieser Gegend vorgesehene, selbst verwaltete jüdische Siedlung zu berichten. 1949 wurde er schließlich verhaftet, im Zuge der vom sowjetischen Staatsapparat befohlenen Ausrottung jüdischer Schriftsteller und der Vernichtung der jüdischen Kultur auf sowjetischem Boden. Pinchas Kahanowitsch starb offiziellen sowjetischen Angaben zufolge am 4. Juni 1950 in einem unbekannten sowjetischen Gefängniskrankenhaus.

Rezeption

Während der Stalinzeit wurden die Werke Der Nister's, wie sämtliche jiddische Literatur, vollkommen totgeschwiegen. Das änderte sich erst in den 60er Jahren. 1960 wurde sein Tod erstmals offiziell bestätigt. Nach und nach erschienen wieder Fragmente aus seinen Werken in der 1961 gegründeten Zeitschrift Sowetisch Heimland. 1969 erschien eine Sammlung seiner Erzählungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel Widerwuks. Die beiden Bände der Familie Mashber wurde zusammen 1974 in der Sowjetunion verlegt. Der Nister wurde somit schrittweise rehabilitiert, ohne dass dies je offiziell ausgesprochen worden wäre. Der Nachdruck beschränkte sich zudem auf seine „realistischen“ Schriften.

Der Nister erscheint als Figur im 2006 veröffentlichten Roman The World to Come (Dt. Die kommende Welt) von Dara Horn.

Werke (Auswahl)

  • Gedanken un motivn - lider in proze, Wilna, 1907
  • Hekherfun der Erd, Warschau, 1910
  • Gezang un gebet, ?, 1912
  • Meiselech in fersn, ?, 1918/19, mit Illustrationen von Marc Chagall
  • Gedacht, Berlin, 1922/23
  • Fun mayne giter, Kiew, 1929
  • Hoiptstet, Moskau, 1934
  • Sechs meiselech, ?, 1939
  • Di mishpokhe Mashber, Kiew, 1939 (1. Band), New York, 1948 (2. Band)
  • Khurbones, Morkau, 1943
  • Dertseylung und eseyen, New York, 1957 postum
  • Widerwuks, Moskau (?), 1969 postum

Literatur (Auswahl)

Von Der Nister:

In deutscher Übersetzung wurden veröffentlicht:

  • „Unterm Zaun“. Jiddische Erzählungen, Frankfurt, 1988, Nachwort von Daniela Montovan-Kromer
  • „Die Brüder Mashber“. Das jiddische Epos. Übs. von Hans-Joachim Maass, Frankfurt/M., 1990

In englischer Übersetzung wurde veröffentlicht:

  • The Family Mashber, New York, 1987

In französischer Übersetzung wurden veröffentlicht:

  • Sortilèges. Contes, traduits par Delphine Bechtel, Paris, 1992
  • Contes fantastiques et symboliques, traduits par Delphine Bechtel, Paris, 1997

In italienischer Übersetzung wurde veröffentlicht:

  • Prologo di uno sterminio. Venedig, 2000, Nachwort von Dr. Daniela Montovan-Kromer

Über Der Nister:

  • Delphine Bechtel: Der Nister’s Work 1907-1929: A Study of a Yiddish Symbolist. Bern 1990 (=«Contacts» Etudes et Documents, III, 11).
  • Delphine Bechtel: Der Nister’s ‘Der Kadmen’: a Metaphysical Narration on Cosmogony and Creation. [«L’origine» de Der Nister : une narration métaphysique sur la cosmogonie et la création], Yiddish, vol. VIII, n° 2, New York, 1992, p. 38-54.
  • Daniela Montovan-Kromer: Female Archetypes in Nister's Symbolist Short Stories. Jerusalem 1992 (Beitrag zur 4. International Conference in Yiddish Studies)
  • Daniela Montovan-Kromer: Der Nister' s 'In vayn-keler'. A Study in Metaphor. In: The Field of Yiddish. Fifth Collection, Northwestern University Press and YIVO Institute for Jewish Research, New York 1993
  • Peter B. Maggs: The Mandelstam and „Der Nister“ Files: An Introduction to Stalin-Era Prison and Labor Camp Records. 1995

Weblinks


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