Pied piper

Pied piper
Darstellung des Rattenfängers von Hameln in einer Kopie einer Glasmalerei in Marktkirche zu Hameln (Reisechronik des Augustin von Moersperg 1592, aquarell)

Der Rattenfänger von Hameln ist eine der bekanntesten deutschen Sagen. Sie wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Es wird geschätzt, dass mehr als eine Milliarde Menschen sie kennen. Selbst in fernen Ländern gehört sie häufig zum Schulunterrichtsstoff; besonders in Japan und in den USA ist sie sehr beliebt.

Inhaltsverzeichnis

Sage (nach den Brüdern Grimm)

Der Sage nach ließ sich im Jahre 1284 zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte ein Obergewand aus vielfarbigem, buntem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Hameln litt zu dieser Zeit unter einer großen Rattenplage, der die Stadt selbst nicht Herr wurde, weshalb sie das Angebot des Fremden begrüßten.

Die Bürger sagten ihm seinen Lohn zu, und der Rattenfänger zog sein Pfeifchen oder Flöte heraus und pfiff eine Melodie. Da kamen alsbald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurückgeblieben, ging er aus der Stadt hinaus in die Weser; der ganze Haufen folgte ihm nach, stürzte ins Wasser und ertrank. Als aber die Bürger sich von ihrer Plage befreit sahen, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Mann, so dass er zornig und erbittert wegging.

Am 26. Juni kehrte er jedoch zurück in Gestalt eines Jägers, mit schrecklichem Angesicht, einem roten, wunderlichen Hut und ließ, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Pfeife abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahre an in großer Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Nur zwei Kinder kehrten zurück, weil sie sich verspätet hatten; von ihnen war aber das eine blind, so dass es den Ort nicht zeigen konnte, das andere stumm, so dass es nicht erzählen konnte. Ein Knäblein war umgekehrt, um sein Obergewand zu holen, und so dem Unglück entgangen. Einige sagten, die Kinder seien in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen. Es waren ganze 130 Kinder verloren.

(Gekürzt und sprachlich etwas modernisiert nach: Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Nr. 245, Die Kinder zu Hameln)

Historische Hamelner Hausinschrift zur Rattenfängersage

Historischer Hintergrund

Der historische Kern der Rattenfängersage lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ermitteln. Als gesichert kann jedoch gelten, dass die ursprüngliche Kinderauszugs-Sage erst Ende des 16. Jahrhunderts sekundär mit einer Rattenvertreibungs-Sage verknüpft wurde.

Unter den vielen Interpretationen des Kinderauszugs kann die Deutung auf die von Niederdeutschland ausgehende Ostkolonisation die größte Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen: Die „Kinder von Hameln“ dürften Hamelner Jung-Bürger gewesen sein, die von adligen Territorialherren oder Lokatoren zur Siedlung im Osten angeworben wurden.

Illustration von Kate Greenaway zu Robert Brownings Adaption der Sage

Die Auswanderungsregion der Hamelner Kinder – zuvor hatte man an Siebenbürgen, Mähren, Pommern oder das Deutschordensland gedacht – wurde von dem Onomastikprofessor Jürgen Udolph 1997 präzisiert: Auswanderer hatten die Angewohnheit, neu gegründete Orte in ihren Zielgebieten nach Orten aus ihrer alten Heimat zu benennen. Im Zuge der mittelalterlichen Ostkolonisation lassen sich Ortsnamen aus der Hamelner Region vor allem im heutigen Bundesland Brandenburg lokalisieren, insbesondere in den Regionen Prignitz und Uckermark. So ist beispielsweise der Name des in der Nähe von Hameln gelegenen Ortes Hamelspringe (dieser Name bedeutet: „Ort, wo der Fluss Hamel entspringt“) als Hammelspring in den Landkreis Uckermark, Brandenburg, übertragen worden, obwohl dort überhaupt kein Fluss „Ham(m)el“ entspringt. Ebenso dürfte der Name der Grafschaft Spiegelberg im Weserbergland zur Benennung des Ortes Groß Spiegelberg bei Pasewalk geführt haben.

Dagegen scheiden Siebenbürgen und Mähren entgegen früheren Annahmen als Zielgebiete der Hamelner Auswanderer weitgehend aus, weil es dort keine nachweislich aus dem Wesergebiet stammenden Ortsnamen gibt. Die ältere Literatur verweist hier vor allem auf einen Ortsnamen Hamlíkov in Mähren, doch ist dieser, wie Udolph zeigen konnte, nicht von der Stadt Hameln abgeleitet. Unabhängig von den Ortsnamen fanden der Troppauer Stadtarchivar Wolfgang Wann und der Hamelner Heimatforscher Heinrich Spanuth heraus, dass im nordmährischen Olmütz in der damaligen Zeit dieselben Familiennamen wie im Hamelner Bürgerregister verzeichnet sind (so zum Beispiel Hamel, Hämler, Hamlinus, Leist, Fargel, Ketteler und andere), was womöglich kein Zufall ist.[1].

Insgesamt aber machen die namenskundlichen Belege für die Regionen Prignitz und Uckermark sowie der überlieferte Zeitpunkt des Kinderauszugs – das 13. Jahrhundert war die Blütezeit der deutschen Ostkolonisation – die Auswanderungstheorie sehr wahrscheinlich: Der Rattenfänger mag in Wirklichkeit ein Werber für deutsche Siedler im Osten gewesen sein, und die Legende (Rattenfänger-Sage) will nur den Verlust fast einer ganzen Generation, die wegen Perspektivlosigkeit ihre Heimat verlassen hat, lyrisch umschreiben bzw. als Racheakt eines Geprellten deuten. Vielleicht wollte man sich auch nicht die Blöße geben, dass eine gesamte Generation auswanderte, weil sie in dem damaligen Zunftwesen keine Zukunft sah und lieber gen Osten zog mit der Aussicht, dort einen eigenen Hausstand oder Betrieb aufzubauen.

Mehrere Historiker nehmen an, die Sage vom Rattenfänger von Hameln solle vom Kinderkreuzzug inspiriert worden sein. Gegen diese Ansicht spricht jedoch unter anderem, dass der Kinderkreuzzug 1212 stattgefunden hat; das glaubwürdig überlieferte Auswanderungsjahr der Hamelner Kinder ist jedoch 1284. Dasselbe Argument ist auch gegen die Deutung der Rattenfängersage als Pesterzählung geltend zu machen, da Pestepidemien im mittelalterlichen Europa erst seit 1347 auftraten.

Eine andere, weniger stark vertretene Theorie besagt, dass die Hamelner Kinder einem heidnischen Sektenführer aufgesessen sein können, der diese zu einem religiösen Ritus in die Wälder bei Coppenbrügge geführt hat, wo sie heidnische Tänze aufführten. Dabei habe es einen Bergrutsch gegeben, wodurch die meisten umgekommen seien. Noch heute lässt sich dort eine große Kuhle finden, die durch einen solchen Erdrutsch entstanden sein könnte.


Rattenfänger von Hameln von Heinrich Wefing

Ähnliche Sagen

Auch aus anderen deutschen Regionen und europäischen Ländern gibt es Rattenfänger- oder Rattenbanner-Sagen, so zum Beispiel aus Drancy-les-Nouës bei Paris in Frankreich. Meistens verbinden sich diese Geschichten jedoch nicht damit, dass der Rattenfänger anschließend aus Rache noch weitere Ortsbewohner wegführte; eine Ausnahme machen die beiden nachfolgend genannten Geschichten.

Rattenfänger von Korneuburg

Im niederösterreichischen Korneuburg soll im Jahr 1646 ein Rattenfänger aufgetreten sein. Nach Ertränkung der Ratten in der Donau warf man ihm jedoch vor, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, und verweigerte ihm die Bezahlung. An dieser Stelle enden die ältesten Überlieferungen; erst später, in Anlehnung an die Hamelner Geschichte, kam die Sage hinzu, dass der Rattenfänger darauf zur Strafe Kinder aus Korneuburg weggeführt und auf dem Sklavenmarkt in Konstantinopel verkauft habe.[2]

Der Katzenveit von Tripstrille

In der Region um die sächsische Stadt Zwickau soll die Sagengestalt Katzenveit ihr Unwesen getrieben haben. Eine überlieferte Geschichte weist große Parallelen zum Rattenfänger von Hameln auf, wobei jedoch als Strafe für die zahlungsunwilligen Bürger nicht die Kinder, sondern die Katzen aus der Stadt geführt wurden.

Siehe auch

Quellen

  1. Richter, Rudolf: Der Rattenfänger von Hameln. In: Jahrbuch der Heimat. 1953. Für die Bewohner des ehemaligen Heimatkreises Bärn. St. Ottilien. S. 125.
  2. Humburg, Norbert: Der Rattenfänger von Hameln, S. 23.

Literatur

  • Achim von Arnim: Der Rattenfänger von Hameln. Mein allererstes Märchenbuch. Karl Müller, Köln 2004. ISBN 3-89893-910-3
  • Hans Dobbertin: Quellensammlung zur Hamelner Rattenfängersage. Schwartz, Göttingen 1970.
  • Hans Dobbertin: Quellenaussagen zur Rattenfängersage. Niemeyer, Hameln 1996 (erw. Neuaufl.). ISBN 3-8271-9020-7 (Dobbertin verbindet den Verlust die Hamelner Kinder mit dem Treck des Grafen Nicolaus von Spiegelberg nach Pommern und ins Baltikum)
  • Norbert Humburg: Der Rattenfänger von Hameln. Die berühmte Sagengestalt in Geschichte und Literatur, Malerei und Musik, auf der Bühne und im Film. Niemeyer, Hameln 2. Aufl. 1990. ISBN 3-87585-122-6.
  • Wolfgang Mieder: Der Rattenfänger von Hameln. Die Sage in Literatur, Medien und Karikatur. Praesens, Wien 2002. ISBN 3-7069-0175-7
  • Heinrich Spanuth: Der Rattenfänger von Hameln, Niemeyer Hameln 1951
  • Jürgen Udolph: Zogen die Hamelner Aussiedler nach Mähren? Die Rattenfängersage aus namenkundlicher Sicht, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 69 (1997), 125-183. ISSN 0078-0561

Adaptionen

Julius Wolff: Der Rattenfänger von Hameln
  • Robert Browning (1812–1889): The Pied Piper of Hamelin. (Digitalisat einer deutschen illustrierten Ausgabe, um 1889)
  • Julius Wolff (1834–1910): Der Rattenfänger von Hameln. (Roman-Adaptation von 1876)
  • Carl Zuckmayer (1896–1977): Der Rattenfänger (Theaterstück), ISBN 978-3-596-12716-0

Die Motive der Sage wurden auch in der Fantasy-Literatur aufgegriffen, unter anderem in:

  • Gilbert Shelton: Fat Freddys Kater und der Rattenfänger von Hameln. Rotbuch. Europäische Verlagsanstalt, Berlin 1993, ISBN 3-88022-800-0
  • Kai Meyer: Der Rattenzauber, Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach, 1995, ISBN 3-404-15265-4
  • China Miéville: König Ratte. Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2003, ISBN 3-404-24310-2 (Miévilles Romandebut führt die Sage aus Sicht der Ratten fort und verlegt ihn ins zeitgenössische London.)
  • Terry Pratchett: Maurice, der Kater. Ein Märchen von der Scheibenwelt. Goldmann, München 2004, ISBN 3-442-54570-6
  • Wolfgang Hohlbein: Dreizehn Heyne, München 2004, ISBN 3-453-87763-2
  • Bill Richardson: Der Klang der Freiheit cbt/C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München 2004, ISBN 3-570-30141-9

Filmografie

  • Das süße Jenseits (1997) von Atom Egoyan. (Das Spielfilmdrama übernimmt das Grundmotiv der Sage als Plot für seine Geschichte)
  • »Bilderbuch Deutschland« – Hameln. Buch und Regie v. Anne Worst. Produktion NDR. Erstausstrahlung 13. Juni 2004, 45 Min. [1]
  • Märchen & Sagen: Der Rattenfänger und die verschwundenen Kinder. Dokumentation. Produktion ZDF. Erstausstrahlung 16. Oktober 2005. 45 Min. [2]
  • Der Rattenfänger von Hameln – Die wahre Geschichte aus der Reihe ›Die wahre Geschichte‹, GB 2005, Discovery Channel

Weblinks


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