Physiognomisch

Physiognomisch

Als Physiognomie (griech. physis = Körper, gnome = Wissen) bezeichnet man die äußere Erscheinung des Menschen, speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. Vereinzelt versteht man darunter auch seine ganze Statur, etwa als Konstitutionstyp. In seltenen Fällen ist mit Physiognomie auch die Kunst der Physiognomik gemeint.

Inhaltsverzeichnis

Psychologie und Philosophie

Menschen lernen im Säuglingsalter, andere Menschen an der Physiognomie wiederzuerkennen (siehe Entwicklungspsychologie).

Die moderne Psychologie kann zeigen, auf welche Weise Menschen tatsächlich Emotionen über ihre Gesichtsmuskeln kommunizieren (siehe Mimik). Unter Physiognomie wird jedoch all das verstanden, was vom Kommunikationsverhalten unbeeinflusst bleibt − die Länge der Nase, Falten, Lage der Ohren etc.

Traditionell war für die Theorie der Mimik die Pathognomik zuständig, zu der die Theorie der Affekte und des Ausdrucks gehören. Die Mimik wurde als Satz von Zeichen verstanden, die an der Oberfläche des Körpers die Zustände der Seele anzeigen.

In der Philosophie ist diese Theorie Teil des Leib-Seele-Problems.

Physiognomik und Phrenologie

Intuitiv glauben die meisten Menschen, dass aus der Physiognomie etwas über die Seele einer Person zu erfahren ist. Den Versuch, methodisch aus der körperlichen Erscheinung eines Menschen zu lesen, nennt man Physiognomik.

Die Tradition dieser Pseudowissenschaft ist bis in die Antike nachweisbar. Bereits Aristoteles sammelte Wissen über die Physiognomik: Ein Mensch, dessen Gesichtszüge einem Löwen ähnelten, sollte auch den Mut eines Löwen besitzen usw. (Siehe auch Polemon Antonius).

Immer wieder wurde auch historisch versucht, an bestimmten Rassen oder sozialen Gruppen besondere physiognomische Merkmale festzustellen, die diese von allen anderen absondern sollten.

Der englische Naturwissenschaftler Sir Francis Galton versuchte, mit Hilfe fotografischer Mehrfachbelichtung bestimmte gemeinsame physiognomische Merkmale von Verbrechern zu erkennen. Zu dieser rassistisch geprägten Forensik gehört auch die Phrenologie (Schädelkunde), die um 1800 von dem deutschen Arzt Franz Josef Gall entwickelt und von dem Italiener Cesare Lombroso 1867 in die Kriminologie eingeführt wurde. Die Rassenkunde im Nationalsozialismus versuchte, besondere Erkennungsmerkmale jüdischer Gesichter festzuschreiben, und berief sich dabei auf Lombrosos Thesen.

Angelehnt an Methoden Francis Galtons können heute per Computergrafik gemittelte Gesichter erstellt werden. Es wurde festgestellt, dass gemittelte Gesichter allgemein freundlicher und attraktiver wirken.[1][2]

Kunst und Literatur

In der Neuzeit entwickelte sich ein starkes Interesse am Individuum und damit auch an der Physiognomie einzelner Personen. Die Geschichte der Porträtmalerei zeigt, dass man individuelle Physiognomien zur gleichen Zeit anfing wichtig zu finden, als man sich auch für die Lebensgeschichte und Erfahrungen einzelner Individuen interessierte (siehe Autobiographie, Identität).

Eine wichtige Funktion von Porträts war es, die individuellen Gesichtszüge festzuhalten und für die Nachwelt zu bewahren. Nach den Malern der italienischen Renaissance war Albrecht Dürer der erste deutsche Künstler nach dem Mittelalter, der bewusst versuchte, die Gesichtszüge seiner Freunde und Geschäftspartner aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt zu bewahren.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es mit dem Erscheinen von Johann Kaspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine Flut von Porträt-Gemälden, -zeichnungen und Silhouetten. Besonders das Profil des Gesichts galt als der Teil der Physiognomie, an dem besonders viel über die Seele abzulesen war, weshalb man häufig als Gesellschaftsspiel Schattenrisse von sich anfertigen ließ und ausdeutete.

Das Gesicht gilt häufig als Speicher für Charakter, Erfahrung und Lebensgeschichte. In Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray gibt es ein Porträtgemälde, das anstelle seines Besitzers altert. Sämtliche Sünden, die dieser begeht, hinterlassen seine Spuren nicht an ihm, sondern an dem Gemälde.

Heute spielt die Fotografie eine ähnliche Rolle. Fotografische Porträts können die Veränderung individueller Physiognomien über die Jahre hinweg festhalten.

Recht

Steckbriefe, Pässe und Personalausweise verlassen sich auf die Unverwechselbarkeit der individuellen Physiognomie. Schon im Mittelalter wurde in amtlichen Dokumenten vermerkt, wie eine Person aussah, um sie zu identifizieren.

Mit der kriminalistischen Technik der Bertillonage wurden im 19. Jahrhundert physiognomische Messdaten archiviert und zur Identifizierung benutzt. Die Technik war jedoch zu ineffizient und wurde schnell durch die Speicherung von Fingerabdrücken ersetzt.

Die heutige Polizei verwendet fotografische oder digitale Techniken, um die Physiognomie von Kriminellen nach Beschreibungen zu rekonstruieren (siehe Phantombild).

Die computergestützte Gesichtserkennung verlässt sich auf die unveränderlichen Merkmale der Physiognomie. Computer sollen so lernen, in einer Menschenmenge oder bei Sicherheitskontrollen einzelne Menschen zu erkennen und zu identifizieren.

Medizin

Veränderungen der Physiognomie wurden schon immer durch Masken und Kosmetik vorgenommen. Seit einigen Jahrzehnten wird plastische Chirurgie eingesetzt, um Physiognomien dauerhaft zu verändern. Dabei kann die rekonstruktive Chirurgie durch Prothesen eine durch Unfall oder Krankheit zerstörte Physiognomie wiederherstellen.

Da die Attraktivität des Gesichts Einfluss auf den sozialen Status haben kann, sind Veränderungen zu rein kosmetischen Zwecken immer beliebter, sind aber auch umstritten. Einige Fernsehsendungen machen sich die Popularität und den Sensationswert plastischer Chirurgie zunutze.

Weitere Formen der Körpermodifikation, die temporäre oder dauerhafte Eingriffe in die Physiognomie bedeuten, sind Piercings und Tattoos. Sie haben in den letzten Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften entscheidende soziale Aufwertung erfahren und gelten ihren Trägern meistens als Zeichen für Individualität.

Literatur

  • Henning Mehnert: Formimpulse der literarischen Personendarstellung. Der Physiognomietraktat des Francesco Stelluti, in: Romanische Forschungen 1980, 371 ff.
  • TUMULT 31, Zeitschrift für Verkehrswissenschaften, Gesichtermoden, Berlin 2006. ISBN 978-3-9811214-0-7
  • Edith Mandel-Buck: Aussehen und Fähigkeit ergibt Wirkung mehr Infos hier Gesichtsstrukturen nach 3-in-One-Concepts
  • Allan Sekula: "Der Körper und das Archiv" 1967 (Artikel)

Quellenangaben

  1. Computergraphikmethoden um eine Reihe von Portraits aufeinander zu legen. [1]
  2. Zum Verlieben schön, Spektrum der Wissenschaft 11/2006, S. 28

Weblinks

Siehe auch: Gesicht, Mimik, Körper des Menschen


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