Atlantische Kreolen

Atlantische Kreolen
Die Ethnie der Atlantischen Kreolen entstand im 15. Jahrhundert gemeinsam mit dem portugiesisch-westafrikanischen Seehandel.

Unter der Sammelbezeichnung Atlantische Kreolen (engl.: Atlantic creoles) wird eine ethnisch und kulturell wenig einheitliche Gruppe von sozial und räumlich mobilen, überwiegend afrikanischstämmigen Frauen und Männern verstanden, die vom 15. bis 19. Jahrhundert im Dienste europäischer Handelsgesellschaften den Atlantik bereisten und an den afrikanischen, europäischen und amerikanischen Küsten viele eigene Siedlungen und Handelsstützpunkte errichteten.

Geprägt hat diesen Begriff der amerikanische Historiker Ira Berlin, der in seinen Arbeiten über die Sklaverei in den Vereinigten Staaten beschreibt, wie im 17. Jahrhundert unter der europäischen Kolonialherrschaft aus den Atlantischen Kreolen die ersten Generationen (Charter-Generationen) von Sklaven auf dem nordamerikanischen Festland rekrutiert wurden.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Kultur

Die Ursprünge der Atlantischen Kreolen liegen in der Begegnung von Afrikanern mit europäischen – vor allem portugiesischen, französischen und britischen – Kaufleuten, die vom 15. Jahrhundert an Handelsniederlassungen an der westafrikanischen Küste errichteten. Sie fanden dort unternehmungslustige, vielgereiste, kenntnisreiche und geschäftstüchtige Einheimische, die als Dolmetscher, Verhandlungsbeauftragte und Rechtsberater vor Ort für sie arbeiteten oder als Seeleute, Supercargo, Diener oder exotische „Trophäen“ mit ihnen an Bord gingen. Aufgrund des häufigen Kontakts mit europäischen Seefahrern und ihrer hohen eigenen Mobilität hatten viele der Atlantischen Kreolen bald europäische Vorfahren: eine Tatsache, die bei den Europäern zwar ihr Ansehen minderte; als vielseitige Experten für den atlantischen Handel waren sie für die europäischen Handelsgesellschaften dennoch unverzichtbar. In vielen Hafenstädten Westafrikas, Europas und des amerikanischen Doppelkontinents errichteten sie Siedlungen und Stützpunkte, in denen sie oftmals auch auf eigene Rechnung Handel trieben. Die größte kreolische Siedlung in Europa befand sich in Lissabon. Das Umfeld der Atlantischen Kreolen war stets mehrsprachig; neben einer Vielzahl von afrikanischen Sprachen sprachen sie europäische Sprachen – besonders Portugiesisch –, woraus sich als Verkehrssprachen verschiedene auf dem Portugiesischen basierende Pidgin-Sprachen und schließlich vollständige Kreolsprachen entwickelten.

Mit der Sklaverei waren die Atlantischen Kreolen in zweifacher Hinsicht vertraut. Erstens bestanden in Westafrika traditionell selbst viele Formen von Sklaverei, wie Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft (siehe: Sklaverei innerhalb von Schwarzafrika). Zweitens waren Atlantische Kreolen, wenn sie für europäische Handelsgesellschaften arbeiteten, häufig in deren Sklavenhandel involviert. Viele hielten eigene Sklaven oder handelten sogar selbst mit ihnen.

Im 17. Jahrhundert gelangte – mehr oder weniger freiwillig – eine größere Zahl von Atlantischen Kreolen in die Region der Chesapeake Bay in der britischen Provinz Maryland, wo die Grenzen zwischen Lohnarbeit, Schuldknechtschaft und Sklaverei damals fließend waren. Die Formen der Sklaverei waren dort im allgemeinen milder als später in der Plantagenwirtschaft der amerikanischen Südstaaten. Atlantische Kreolen, die in der Chesapeake in Sklaverei gerieten, konnten neben der Arbeit für ihren Dienstherrn eigene Produktions- und Handelstätigkeiten ausüben, waren kenntnisreich und geschäftstüchtig und wurden oftmals wieder freigelassen bzw. konnten sich selbst freikaufen. Viele Atlantische Kreolen gingen auf dem nordamerikanischen Festland Ehen und Partnerschaften mit europäischen Frauen und Männern ein, sodass jüngere Generationen noch häufiger als die älteren gemischte Vorfahren hatten. Andere hatten auch karibische Vorfahren.

Ira Berlin bezeichnet diese Generationen nordamerikanischer Sklaven als Charter Generations (deutsch etwa: „Gründungsgenerationen“) und unterscheidet sie von späteren Generationen wie den Plantagen-Generationen, den „Revolutions-Generationen“ der Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und den „Wander-Generationen“ des 19. Jahrhunderts.

Siehe auch

Literatur

  • Ira Berlin: Many Thousands Gone: The First Two Centuries of Slavery in North America, Cambridge: The Belknap Press of Harvard University Press, 1998
  • Ira Berlin: Generations of Captivity: A History of African-American Slaves, Cambridge, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2003, ISBN 0-674-01061-2
  • Trevor Burnard: Creole Gentlemen: The Maryland Elite, 1691-1776, Routledge, 2002, ISBN 0415931746
  • Michael Zeuske: "Atlantik, Sklaven und Sklaverei – Elemente einer neuen Globalgeschichte", in: Jahrbuch für Geschichte der Europäischen Expansion 6 (2006), S. 9-44
  • Michael Zeuske: Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks, 1400-1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliografien, Münster/Hamburg/London: LIT Verlag, 2006 (Sklaverei und Postemanzipation, ed. Michael Zeuske, Bd. 1), ISBN 3-8258-7840-6
  • Linda M. Heywood, John K. Thornton: Central Africans, Atlantic Creoles, and the Foundation of the Americas, 1585-1660, Cambridge University Press, 2007, ISBN 0521779227
  • Mikael Parkvall: Out of Africa: African Influences in Atlantic Creoles, Battlebridge Publications, 2002, ISBN 1903292050

Weblinks

Alle aufgeführten Webseiten sind englischsprachig:


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Kreolen — Als Kreolen bezeichnet man die Nachkommen jener Menschen, die aus Afrika in die europäischen Kolonien und insbesondere nach Amerika verschleppt wurden. Dadurch ergaben sich verschiedene kulturelle und ethnische Mischgesellschaften, die kreolisch… …   Deutsch Wikipedia

  • Criollos — Der Begriff Kreole wurde in der frühen Kolonisierung Westafrikas durch die portugiesische Krone, insbesondere auf den Kapverdischen Inseln und in Guinea Bissau geprägt und leitet sich aus dem portugiesischen „Crioulo“ und dem spanischen „Criollo“ …   Deutsch Wikipedia

  • Afro-Amerikaner — Afroamerikaner (amerik. engl. African American) ist eine Selbstbezeichnung von Bürgern der USA und Kanadas, deren Vorfahren oder die selbst aus dem südlich des Maghrebs gelegenen Teil Afrikas stammen. Die Abgrenzung zu US Amerikanern europäischer …   Deutsch Wikipedia

  • Afro-amerikaner — Afroamerikaner (amerik. engl. African American) ist eine Selbstbezeichnung von Bürgern der USA und Kanadas, deren Vorfahren oder die selbst aus dem südlich des Maghrebs gelegenen Teil Afrikas stammen. Die Abgrenzung zu US Amerikanern europäischer …   Deutsch Wikipedia

  • Afro-amerikanisch — Afroamerikaner (amerik. engl. African American) ist eine Selbstbezeichnung von Bürgern der USA und Kanadas, deren Vorfahren oder die selbst aus dem südlich des Maghrebs gelegenen Teil Afrikas stammen. Die Abgrenzung zu US Amerikanern europäischer …   Deutsch Wikipedia

  • Afroamerikanisch — Afroamerikaner (amerik. engl. African American) ist eine Selbstbezeichnung von Bürgern der USA und Kanadas, deren Vorfahren oder die selbst aus dem südlich des Maghrebs gelegenen Teil Afrikas stammen. Die Abgrenzung zu US Amerikanern europäischer …   Deutsch Wikipedia

  • Sklaverei in den Vereinigten Staaten — Ein reicher Plantagenbesitzer in Virginia und seine Familie besichtigen die Unterkünfte ihrer Sklaven, Darstellung von 1876 über die Situation hundert Jahre zuvor Die Sklaverei in den Vereinigten Staaten bildet die Fortsetzung und Fortentwicklung …   Deutsch Wikipedia

  • Afroamerikaner — (amerik. engl. African American) ist eine Selbstbezeichnung von Bürgern der USA und Kanadas, die oder deren Vorfahren aus dem südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas stammen (Schwarze). Die Abgrenzung zu US Amerikanern europäischer oder… …   Deutsch Wikipedia

  • Republik Sierra Leone — Republic of Sierra Leone Republik Sierra Leone …   Deutsch Wikipedia

  • Charter-Generationen — Als Charter Generationen werden in der Geschichtsschreibung der Vereinigten Staaten diejenigen Generationen afrikanischstämmiger Sklaven bezeichnet, die das nordamerikanische Festland insbesondere in der frühen Kolonialzeit, regional jedoch auch… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”