Parnassus Boicus

Parnassus Boicus
Parnassus Boicus, 1722

Der Parnassus Boicus oder „Der bayerische Musenberg“ war eine Münchner Gelehrtengesellschaft, die mit dem Parnassus Boicus von 1722 bis 1740 eine Aufklärungszeitschrift in oberdeutscher Sprache herausgab. Dies war damit die erste Wissenschaftszeitschrift in deutscher Sprache.

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Der Parnassus Boicus repräsentierte eine katholisch-bayerische Form der Aufklärung, die unabhängig von nord- und ostdeutschen Gelehrtenzirkel der Zeit agierte und sprachlich sogar in Opposition dagegen stand. Selbsterklärtes Ziel war die „Einführung und Beförderung der Wissenschaften und der Künste in den bayerischen Landen“ und damit die Überwindung des barocken Weltbildes. Aus den Mitgliedern der Gesellschaft ging 1759 die Bayerische Akademie der Wissenschaften hervor.

Die Gründungsmitglieder 1722 waren die drei Augustiner-Patres

Später nahmen auch evangelische Gelehrte aus dem süddeutschen Raum daran teil und publizierten ihre wissenschaftlichen Arbeiten in der Zeitschrift der Gelehrtengesellschaft. Ein namhaftes Mitglied war Johann Georg Lori.

Die Zeitschrift erschien in den Jahren von 1722 bis 1740 in drei Phasen unter folgenden leicht abweichenden Titeln:

  • 1722–1727 Parnassus boicus, oder neu-eröffneter Musen-Berg
  • 1736–1737 Neu-fortgesetzter Parnassus, oder Bayerischer Musen-Berg
  • 1737–1740 Etwelche meistens Bayerische Denck- und Leßwürdigkeiten

Geschichte

Schon 1702 kam es in München zur Gründung einer ersten Gelehrtengesellschaft, die sich ganz im barocken Stil „Nutz- und Lusterweckende Gesellschaft der vertrauten Nachbarn am Isarstrom“ nannte und sich vor allem der bayerischen Geschichtsforschung widmen wollte. Im Jahr 1720 gründeten die Augustiner-Chorherren Eusebius Amort aus Polling, Gelasius Hieber aus München, sowie Agnellus Kandler, eine neue Gelehrtengesellschaft, mit dem Ziel diese als offizielle Akademie anerkennen zu lassen. Diese Academia Carolo Albertina konnte jedoch nicht verwirklicht werden und so beschlossen die drei ihr Projekt zu mindest in der Form einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu verwirklichen, um so den Ideenaustausch zwischen Gelehrten zu ermöglichen.

Im Jahr 1722 kam es so zur Gründung des Parnassus Boicus und der Edition der Zeitschrift. Das besondere an dieser Zeitschrift war die verwendete Sprache in zweierlei Sinn. Zum einen war es die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache, zum anderen wurde ganz bewusst die oberdeutsche Schreibsprache verwendet, die sich lautlich und im Vokabular an der bairischen Mundart orientierte. Damit wollte man sich vom evangelischen Norden abgrenzen und zeigen, dass nicht nur das meißische Sächsisch als Wissenschaftssprache geeignet ist.

Zunächst erschien die Zeitschrift unter Anteilnahme zahlreicher Wissenschaftler. Es beteiligten sich jedoch nicht nur katholische Gelehrte sondern auch einige Lutheraner aus dem süddeutschen Raum. In Sachsen und Schlesien wurde dieses Projekt hingegen eher misstrauisch beobachtet und als katholisches Konkurrenzprojekt empfunden. Die meist negativen Reaktionen der Mitglieder der Deutsche Gesellschaft in Leipzig fasste Johann Christoph Gottsched in seinem Werk Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit vom Jahr 1732 zusammen.

Nachdem Eusebius Amort auf eine Studienreise nach Italien gegangen war und Gelasius Hieber 1731 gestorben war, wurde der Parnassus Boicus zeitweise eingestellt. Die einzelnen Ausgaben und Briefwechsel aus dieser ersten Phase sind in vier Sammelbänden publiziert worden. Amort kehrte jedoch schon 1735 nach Bayern zurück. Angeregt von der Akademiebewegung in Italien reaktivierte er das Projekt mit neuem Elan und es entstand ein fünfter Band. Im Jahr 1740 wurde noch ein sechster Sammelband publiziert, danach verhinderten jedoch die Wirren des Österreichischen Erbfolgekrieges, bei denen auch Bayern Kriegsschauplatz wurde, eine Fortsetzung des Werkes.[1]

Die Idee eine wissenschaftliche Akademie zu gründen wurde nach Einstellung des Parnassuc Boicus von Johann Georg Lori weiter getragen. Dieser gründete am 12. Oktober 1758 die Bayerische Gelehrte Gesellschaft, die 1759 als Churbaierische Akademie der Wissenschaft offiziell anerkannt wurde. In der Gründunsurkunde wurde explizit der Parnassus Boicus und auch dessen Sprachpolitik als Vorbild genannt.

Sprachpolitik

Das deklarierte Ziel des Parnassus Boicus war neben der Belebung der Wissenschaft im Allgemeinen eine sprachliche Emanzipation vom Lateinischen und eine besondere Förderung der deutschen Sprache, jedoch in ihrer spezifisch bairischen, bzw. oberdeutschen Ausprägung. Im ersten Band von 1722 wird dies folgender Massen formuliert:

„Jm übrigen wie diser Parnassus Boicus zu seinem Zihl und Ende kein anderes nicht hat / als daß man hierdurch suche so vile darnider ligende schöne Ingenia auffzumunteren / jhnen ein Lustreitzendes Keder zu allerhand Künsten vnd Wissenschaften vorzulegen / vnd die sogenanntes Belles lettres in vnserem Vatterlande desto baß floriren zu machen wenigist in vnserer Mutter=Sprach.“

Neben Artikeln zur bayerischen Geschichte, zur Geographie verschiedener Ländern, zur Chemie und Mathematik, sowie Buchbesprechungen von Neuerscheinungen, wurde deshalb auch germanistische Forschung betrieben. Neben zeitgenössischen linguistischen Fragen beschäftigte man sich auch mit frühmittelalterlicher Germanistik, und so erschien im Parnassus Boicus ein Abdruck des Annoliedes, der Straßburger Eide sowie des altbairischen Freisinger Paternosters.

Diese oberdeutsche Sprachforschung geht vor allem auf Gelasius Hieber zurück, der im dritten Band auch einen Abschnitt Von der Teutschen Poeterey publizierte. Die verwendete Form der oberdeutschen Schreibsprache dieser Texte, enthält zahlreiche regionale bairisch-österreichische Formen, wobei Hieber und Kandler betonen, dass sie sich nicht gegen einen ostmitteldeutschen Einfluss sträuben und durchaus überregionale Formen verwenden wollen. Ihre Intention ist es jedoch eine Diskussion über Sprachtheorie und eine noch zu definierende Sprachnorm zu initiieren und ein Bewusstsein für die regionale Vielfalt der deutschen Sprache zu schaffen.[2]

Im spätbarocken Sprachenstreit setzte sich jedoch trotz aller Bemühungen schon kurze Zeit später die von Johann Christoph Gottsched definierte Form des Ostmitteldeutschen auch im Süden als Sprachnorm durch, obwohl noch 1759 bei der Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Verwendung der Oberdeutschen Schreibsprache fortgeführt werden sollte. Gottsched äußerte sich dazu polemisch in einem Brief an Lori vom 23. August 1759:

„Daß man in Deutscher Sprache die Schriften der Akademie abfassen und ans Licht stellen will, ist sehr zu loben; und E. Hochedlg. werden standhaft bey dieser Satzung beharren. Daß aber der Parnassus Boicus zum Gewährsmann dieser vortrefflichen Anstalt, oder doch zu ihrem Vorläufer erkläret worden, hätte mir fast ein lautes Glächter abgedrungen. Um Gottes Willen! gedenken doch E. Hochedlg. dieses Parnassus Boicus nicht mehr, wenn sie nicht alle ihre Bemühungen bey dem größten Theile von Deutschland lächerlich machen wollen.“[3]

Johann Georg Lori verteidigte zwar in einem Antwortbrief das Vorbild des Parnassus Boicus, jedoch fiel schon 1774 im habsburgischen Österreich die politische Entscheidung gegen die oberdeutsche Schreibsprache und so war auch das vom Parnassus Boicus begründete sprachpolitische Projekt zum scheitern verurteilt. Damit war der Weg frei für eine einheitliche deutsche Schriftsprache, die jedoch schon wenige Jahrzehnte darauf in einen großdeutschen Sprachnationalismus führen sollte. Spuren eines regionalen Sprachbewußtseins im bairischen Raum haben jedoch möglicherweise dazu beigetragen, dass Bairisch nach wie vor einer der lebendigsten deutschen Dialekte ist.

Literatur

  • Andreas Beck: "Katholisch-bayerische Prosapropaganda in opitzianisch-poetologischer Tradition: Gelasius Hiebers 'Sprach-Lehr' und 'Von der Teutschen Poeterey' (1723-25) im 'Parnassus Boicus' [im Druck, erscheint in einem Beiheft zu den 'Simpliciana'].
  • Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979, S. 89ff. [wohltuende Ausführungen, die darauf verzichten, den 'Parnassus Boicus' pauschal irenisch weichzuzeichnen; nur eine der wichtigen Publikationen Breuers zum Thema 'Parnassus Boicus' bzw. konfessionellkonfliktuöser Literatur des Barock bzw. Spätbarock bzw. der Frühaufklärung].
  • Max Dreher: Die Augustiner-Eremiten in München. im Zeitalter der Reformation und des Barock (16. bis Mitte des 18. Jahrhunderts); Studien zur Kirchengeschichte, 1; Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2003; ISBN 3-8300-0847-3 [leider häufig keine Quellenangaben; wenig strukturierte Wiedergabe ebenso gängiger wie fragwürdiger Forschungstopoi].
  • Guillaume van Gemert: "Oberdeutsche Poetiken als Forschungsproblem. Zur Dichtungslehre des 'Parnassus Boicus' (1725/1726). In: Oberdeutsche Literatur im Zeitalter des Barock. München 1984 (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47,1), S. 277–296. [lesenswerter Aufsatz, der die poetologischen Ausführungen des 'Parnassus' kompetent in Traditionszusammenhänge einbettet].

Weblinks

Siehe auch

Quellen

  1. Walter Tauber: Mundart und Schriftsprache in Bayern (1450–1800) – Untersuchungen zur Sprachnorm und Sprachnormierung im Frühneuhochdeutschen; S. 226, Kapitel 4.2: Die Academia Carolo Albertina und der Parnassus Boicus; Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1993; ISBN 9783110135565
  2. Walter Tauber: Mundart und Schriftsprache in Bayern (1450–1800) – Untersuchungen zur Sprachnorm und Sprachnormierung im Frühneuhochdeutschen; S. 228, Kapitel 4.2: Die Academia Carolo Albertina und der Parnassus Boicus; Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1993; ISBN 9783110135565
  3. Walter Tauber: Mundart und Schriftsprache in Bayern (1450–1800) – Untersuchungen zur Sprachnorm und Sprachnormierung im Frühneuhochdeutschen; S. 233, Kapitel 4.3: Die Bayerische Akademie der Wissenschaften; Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1993; ISBN 9783110135565

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