Ossip Emiljewitsch Mandelstam

Ossip Emiljewitsch Mandelstam
Ossip Mandelstam (1914)

Ossip Emiljewitsch Mandelstam (russisch Осип Эмильевич Мандельштам, wiss. Transliteration Osip Ėmil'evič Mandel'štam; * 3.jul./ 15. Januar 1891greg. in Warschau; † 27. Dezember 1938 bei Wladiwostok) war ein russischer Dichter. Neben Anna Achmatowa und Nikolai Gumiljow war er der entschiedenste Vertreter des Akmeismus.

Inhaltsverzeichnis

Leben

O. Mandelstam, Tschukowski, B. Livschitz, J. Annenkow v.l.n.r. (1914)

Ossip Mandelstam wurde 1891 als Sohn eines jüdischen Lederhändlers in Warschau geboren. In seiner Kindheit zog seine Familie nach Pawlowsk und später nach Petersburg, wo Mandelstam am renommierten Tenischew-Gymnasium eine breite geisteswissenschaftliche Ausbildung erhielt. Mit 16 Jahren lernte Mandelstam auf einer Parisreise, wo er Lesungen an der Sorbonne hörte, Nikolai Gumiljow kennen. Im gleichen Jahr wurde er auch Gasthörer an der Universität Heidelberg, hörte bei sporadischen Heimreisen auch in Petersburg Vorlesungen in Literatur und Poesie.

Beeinflusst von der Idee des Symbolismus, veröffentlichte Mandelstam 1910 seine ersten Gedichte in der Zeitschrift Apollon (Аполлон) und begann 1911 an der Petersburger Universität sein literaturwissenschaftliches Studium. Er wurde Mitglied der Literatengruppe der Akmeisten um Nikolai Gumiljow und veröffentlichte neben Gedichten auch Essays zu literarischen Themen.

Sein 1913 erschienener erster Gedichtband Der Stein (Камень) machte Mandelstam in der literarischen Welt bekannt. Schon der Titel des Gedichtbandes wies programmatisch auf Mandelstams Verständnis von Dichtung hin: Die enge Verbindung von Materie und Sinn. Das russische Wort für „Stein“ (kamen) steht für die Materie, bildet jedoch gleichzeitig ein Beinahe-Anagramm auf das griechische akme, den Grundbegriff des Akmeismus. In diesen vorrevolutionären Jahren lernte Mandelstam auch Marina Zwetajewa und Maximilian Woloschin kennen.

Die Zeit nach der Oktoberrevolution war für Mandelstam eine ruhelose Zeit. Rastlos und im „inneren Exil“, lebte er mit seiner Frau Nadeschda, die er seit 1919 kannte und 1922 heiratete, abwechselnd in Moskau, Petersburg und Tiflis, stets ohne große materielle Basis. Dennoch waren die 1920er Jahre für ihn angefüllt mit seiner Arbeit. Gedichtsammlungen wie Tristia (1922), Das zweite Buch (Вторая книга, 1923), Gedichte (Стихотворения, 1928) zeigen seine dichterische Vielseitigkeit. Essaysammlungen wie Über Poesie (1928) zeigen sein Talent als hervorragender Literaturtheoretiker und -kritiker. Sein Prosastück Rauschen der Zeit (Шум времени, 1925) spiegelt sein Gefühl der Fremdheit im sowjetischen System. Dennoch durften – im Gegensatz zur Achmatowa und anderen Dichtern – in den 20er Jahren seine Bücher noch erscheinen, angeblich aufgrund der Fürsprache Nikolai Bucharins, des Vorsitzenden der Komintern und Chefredakteurs der Iswestija.

In den 1930er Jahren begann die Zeit der Säuberungen unter Stalin und der offenen Repressionen gegen den Dichter. Einzig seine Übersetzungen französischer, deutscher und englischer Prosa hielten ihn materiell und geistig am Leben. Dank Bucharins Protektion durfte er 1930 nach Armenien reisen, von wo er eine Fülle von Inspiration und Ideen mitbrachte, woraus im Herbst 1933 Die Reise nach Armenien entstand, das 1934 in der Zeitschrift Swesda erschien. Diese Texte und ein Gedicht mit dem Anfang Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr (Мы живем, под собою не чуя страны...) von Herbst 1934, das sich überdeutlich auf Stalin und seinen Terror bezieht, führten im Mai darauf zu Mandelstams erster Verhaftung. In dem Gedicht heißt es:

NKWD-Fotos des verhafteten Ossip Mandelstam (1938)
Mandelstam auf sowjetischer Postkarte, (1991)
Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,
Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –
Betrifft's den Gebirgler im Kreml.
Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,
Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.
Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,
Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.
Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.
Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
Und breit schwillt die Brust des Osseten.

Einem harten Urteil entging Mandelstam nach einem Selbstmordversuch; er wurde zunächst nur nach Tscherdyn, später Woronesch verbannt, wo er drei Jahre verbrachte. Um diese erste Verhaftung ranken sich Legenden, dass Stalin persönlich bei Mandelstams Freund und Kollegen Pasternak angerufen habe, um über Mandelstams Schicksal zu sprechen. In Woronesch arbeitete Mandelstam für Zeitungen und Zeitschriften. Seine letzten Gedichte Die Woronescher Hefte entstanden hier. Als er am 2. Mai 1938 erneut verhaftet wurde, wurde er zu fünf Jahren Lager wegen konterrevolutionärer Aktivitäten verurteilt und in ein Arbeitslager in der Nähe von Wladiwostok gebracht. Am 27. Dezember 1938 starb er in der Krankenbaracke eines Übergangslagers und wurde in einem Massengrab beerdigt.

Nadeschda Mandelstam und Freunde des Dichters bewahrten viele der Gedichte (teils durch Auswendiglernen der nicht niedergeschriebenen Texte) und ermöglichten ihre Veröffentlichung in den 60er Jahren.

Werke

  • Gedichte. Ü: Paul Celan. S. Fischer, Frankfurt am Main 1959
  • Die ägyptische Briefmarke. Ü: Gisela Drohla. Suhrkamp, Frankfurt/M 1965
  • Hufeisenfinder. Hg. Fritz Mierau. Philipp Reclam, Leipzig 1975
  • Die Reise nach Armenien. Ü: Ralph Dutli. Suhrkamp, Frankfurt/M 1983
  • Schwarzerde. Gedichte aus den Woronescher Heften. Ü: R. Dutli. Suhrkamp, Frankfurt/M 1984
  • Gespräch über Dante. Ü: Norbert Randow. Gustav Kiepenheuer, Leipzig/Weimar 1984
  • Gespräch über Dante. Ü: W. Beilenhoff, G. Leupold. Henssel, Berlin 1984
  • Briefe aus Woronesch. Ü: Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 1985
  • Tristia. Gedichte. Hg. F. Mierau. Volk und Welt, Berlin 1985
  • Das Rauschen der Zeit. Autobiographische Prosa der 20er Jahre. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1985
  • Mitternacht in Moskau. Die Moskauer Hefte: Gedichte 1930–1934. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1986
  • Der Stein. Frühe Gedichte 1908–1915. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1988
  • Im Luftgrab. Ein Lesebuch, mit Beiträgen von Paul Celan, Pier Paolo Pasolini, Philippe Jaccottet, Joseph Brodsky. Hg. R. Dutli. Ammann, Zürich 1988
  • Über den Gesprächspartner. Essays I: 1913–1924. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1991
  • Gespräch über Dante. Essays II: 1925–1935. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1991
  • Tristia. Gedichte 1916–1925. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1993
  • Armenien, Armenien! Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930–1933. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1994
  • Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1996
  • Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Gesammelte Briefe 1907–1938. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 1999
  • Die beiden Trams. Kinder- und Scherzgedichte, Epigramme auf Zeitgenossen 1911–1937. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 2000
  • Das Gesamtwerk in 10 Bänden. Hg./Ü: R. Dutli. Ammann, Zürich 2001

Literatur

  • Anna Bonola: Osip Mandel'stams „Egipetskaja marka“. Eine Rekonstruktion der Motivsemantik. München: Sagner 1995. (= Slavistische Beiträge; 325) ISBN 3-87690-607-5
  • Ralph Dutli: Als riefe man mich bei meinem Namen. Dialog mit Frankreich. Ein Essay über Dichtung und Kultur. Zürich: Ammann 1985 ISBN 3-250-10050-1
  • Ralph Dutli: Ein Fest mit Mandelstam. Über Kaviar, Brot und Poesie. Ein Essay zum 100. Geburtstag. Zürich: Ammann 1991 ISBN 3-250-01040-5
  • Ralph Dutli: Europas zarte Hände. Essays über Ossip Mandelstam. Zürich: Ammann 1995. ISBN 3-250-10265-2
  • Ralph Dutli: Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam. Eine Biographie. Zürich: Ammann 2003. ISBN 3-250-10449-3
  • Olga Forero-Franco: Die Metapher in Osip Mandel'stams lyrischem Frühwerk. Untersuchungen zum Metapherngebrauch in den Zyklen Kamen' und Tristia. Heidelberg: Winter 2003. (= Beiträge zur slavischen Philologie; 8) ISBN 3-8253-1406-5
  • Gregory Freidin: A Coat of Many Colors: Osip Mandelstam and His Mythologies of Self-Presentation. University of California Press, Berkeley 1987.
  • Nadeschda Mandelstam: Das Jahrhundert der Wölfe. Deutsche Ausgabe: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1971
  • Osip Mandel'stam und Europa, hrsg. v. Wilfried Potthoff. Heidelberg: Winter 1999. (= Beiträge zur slavischen Philologie; 5) ISBN 3-8253-0841-3
  • Wolfgang Schlott: Zur Funktion antiker Göttermythen in der Lyrik Osip Mandel'stams. Frankfurt am Main: Lang 1981. (= (Europäische Hochschulschriften; Reihe 16,18) ISBN 3-8204-5893-X
  • Efraim Sicher: Jews in Russian literature after the October Revolution. Writers and artists between hope and apostasy. Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 1995. ISBN 0-521-48109-0
  • Carmen Sippl: Reisetexte der russischen Moderne. Andrej Belyj und Osip Mandel'stam im Kaukasus. München: Otto Sagner 1997. (= Slavistische Beiträge; 347) ISBN 3-87690-667-9

Weblinks

 Commons: Ossip Mandelstam – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Ossip Mandelstam — Ossip Emiljewitsch Mandelstam (russisch Осип Эмильевич Мандельштам, wiss. Transliteration Osip Ėmil evič Mandel štam; * 3.jul./ 15. Januar 1891greg. in Warschau; † 27. Dezember 1938 bei Wladiwostok) war ein russischer Dichter. Neben Anna… …   Deutsch Wikipedia

  • Ossip — (auch Osip) ist ein männlicher Vorname. Der Name ist eine Variante von Josef. Er wird in Osteuropa bzw. im osteuropäischen Judentum häufig verwendet. In Mitteleuropa kommt er nur sehr selten vor. Namensträger Ossip Bernstein (1882–1962),… …   Deutsch Wikipedia

  • Nadeschda Mandelstam — Nadeschda Jakowlewna Mandelstam Nadeschda Mandelstam (russisch Надежда Яковлевна Мандельштам; wiss. Transliteration Nadežda Jakovlevna Mandel štam; * 31. Oktober 1899 in Saratow; † 29. Dezember 1980 in Moskau), gebo …   Deutsch Wikipedia

  • Erenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Ilja Ehrenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Ilja Erenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Ilja G. Ehrenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Ilja Grigorjewitsch Erenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Ilya Ehrenburg — Ehrenburgs Grab auf dem Nowodewitschi Friedhof mit Picassos Porträt Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg (gelegentlich auch als Erenburg transkribiert; russisch Илья Григорьевич Эренбург; * 15. Januarjul./ 27. Januar 1891greg. in …   Deutsch Wikipedia

  • Liste der Biografien/Mam–Maq — Biografien: A B C D E F G H I J K L M N O P Q …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”