Organmedizin

Organmedizin

Der Begriff Maschinenparadigma kann dem Schlagwort Organmedizin gleichgesetzt werden und gehört zu den theoretischen Grundbegriffen der Psychosomatischen Medizin. Diese beruht auf dem begrifflichen Gegensatz von Seele und Körper (Psyche und Soma), aber auch auf deren Komplementarität.

Inhaltsverzeichnis

Gebrauch des Begriffs

René Descartes hielt Tiere - im Gegensatz zu Menschen - für reduktiv erklärbare Automaten - De homine (1622)

Das Modell des Maschinenparadigmas setzt voraus, dass der Mensch vergleichbar mit einer „Maschine“ oder einem Apparat funktioniert und dass sein Verhalten sowie die Entstehung von Krankheiten durch chemische und physikalische Vorgänge bestimmt ist. Paradigma (agrch. παράδειγμα) heißt so viel wie Beispiel und zwar a) im positiven Sinne: Vorbild, Muster, Musterbild, Modell, insbesondere Baumodell für Bauten, die zur Konkurrenz ausgegeben wurden; b) im negativen Sinne: warnendes Beispiel, Warnung, Exempel, Mahnung. – In diesem letzteren warnenden Sinne wird das Wort hier auch näher erläutert, um auf Gefahren aufmerksam zu machen, die jedem Kranken innerhalb des gesundheitlichen Versorgungssystems im Extremfall drohen. Schon die einander entgegengesetzten Wertungen des griechischen Wortes zeigen die dialektische Relevanz des Begriffs. Damit sei ausgedrückt, dass es Vertreter für und gegen die mit dieser Bezeichnung verfolgte Richtung gibt. Optimal erscheint ein jeweils individueller Mittelweg. Dieser kann auch von einem aufgeklärten und mündigen Patienten mitbestimmt werden. Wissenschaft lässt sich erlernen, ärztliche Erfahrung kann nur langsam reifen. Nur langsam reifen kann auch die Kunst des Verstehens vorgetragener Beschwerden (Verstehende Psychologie, Hermeneutik), die über das reine Beschreiben der Abweichungen von der Norm hinausgeht. Diese Relativierung will durch Verständnis für seelische Qualitäten über rein impersonalistische Sichtweisen hinausführen, nach welcher der Mensch als Prototyp standardisierter Organfunktionen oder als Teil eines festgefügten Gesellschaftssystems betrachtet wird.

Kein Patient wünscht sich, nur „als Fall“ in der Maschinerie eines Krankenhauses angesehen zu werden oder noch deutlicher gesagt als der „Blinddarm von Zimmer 174“ behandelt werden. Jeder, der aber die Erfahrung einer Krankenhausaufnahme gemacht hat, erlebt, wie er auf wichtige Bereiche seiner Individualität verzichten muss. Patienten steht jedoch das Recht auf individuelle Aufklärung und Behandlung durch den Arzt zu. Dies soll verhindern, Patienten wie Sachen zu behandeln. Der Verstoß gegen dieses Prinzip gilt als Behandlungs- oder Kunstfehler. Kunstfehler sind besonders häufig in medizinischen Fächern, in denen pragmatisches Vorgehen üblich ist, also bei Chirurgen, Orthopäden und Gynäkologen. [1]

Mit Hilfe des kritischen (warnenden) Begriffs des Maschinenparadigmas wird auf die an jede Heilkunde zu richtende Grundforderung hingewiesen, nicht nur die Gesichtspunkte der Organmedizin zu verfolgen, die letztlich auf der Forschungsmethode der Pathologie (d.i. der Pathologischen Anatomie) beruhen, sondern auch die seelischen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Genannter Mittelweg kennzeichnet den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Medizin und eigentlicher Heilkunst.[2] In letzter Konsequenz ist das Maschinenparadigma – wie der Name sagt – ein Modell, ein Bestandteil der Krankheitslehre. Diagnosen können nur aufgrund einer Krankheitslehre gestellt werden. Aufgrund solcher Krankheitslehre werden multiple Krankheitserscheinungen unter Beachtung nosologisch wesentlicher Kriterien zu Krankheitseinheiten, eben den Diagnosen, in Bezug gesetzt. Krankheitserscheinungen – als etwas, „was sich zeigt“ – sind Gegenstand der Naturwissenschaft. Krankheitseinheiten – als etwas, „was sich nicht zeigt“ – letztlich ein philosophisches Konstrukt.[3] Man muss folglich auch das Maschinenparadigma als ein philosophisches Konzept bezeichnen, das auf dem Leib-Seele-Problem beruht, siehe Kap. 3 Philosophische Voraussetzungen. Psychosomatik will daher mit dem Konzept des Maschinenparadigmas keine fachlichen Wissensinhalte vermitteln, sondern als fachübergreifende Disziplin ein allgemeines Problembewusstsein für die Entstehung von Krankheiten schärfen. Ein solches verändertes Bewusstsein kann nur allmähliche Erfolge erbringen. Psychosomatik setzt voraus, Körper und Seele unter einem einheitlichem Gesichtspunkt zu betrachten (Nosologie). Dem Prinzip fachlicher Spezialisierung wird seitens der Psychosomatik das Prinzip ganzheitlicher Untersuchungs- und Behandlungsweise gegenübergestellt. Ganzheitliche Denkweise setzt jedoch die Integration der Einzelwissenschaften voraus. Das Maschinenparadigma hat eine rein methodische Zielsetzung und kann als kritisches Schlagwort nur dort gebraucht werden, wo Medizin ausschließlich oder überwiegend den auch in anderen Wissenschaften erkennbaren Tendenzen von betont nüchterner verstandesmäßiger Werturteilsfreiheit oder ausschließlich objektiver technischer Diagnostik und Behandlung folgt.

In unserer westlichen Medizin ist die Methode, geschädigte Organe, Gewebe und Zellen in den Mittelpunkt des ärztlichen Interesses zu rücken, vielfach zum Brauch, ja zu einem gewissen Zwang geworden, der die Krise des Gesundheitssystems durch kostenintensive technische Standarduntersuchungen verschärft. Die Kostenfrage resultiert aus der starken Zunahme technischer Untersuchungen in allen medizinischen Fächern. Vielfach werden apparative Untersuchungen durchgeführt, um die Anschaffung teurer Geräte zu finanzieren. Dies ist auch unter dem Stichwort Gerätemedizin bekannt geworden.

Während sich die Pathologie mit toten Organen befasst, untersucht die Psychologie die wesentlichen Bedingungen des Lebens. [4] Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, dass die Sichtweise der fachlichen somatischen Medizin für die Psychosomatik überflüssig erscheint. Im Gegenteil, die Psychosomatik berücksichtigt die Ergebnisse der somatischen Medizin, indem sie versucht, sie in die Theorien einer Psychogenese einzubeziehen. Es ist jedoch allgemein bekannt, dass eine Einsparung der Kostenentwicklung (Einsparung technisch aufwendiger Untersuchungen und teurer medikamentöser Behandlung) durch psychotherapeutische Erfolge erzielt wird.

Kritik ist nicht nur an einseitigem pragmatischen Vorgehen nach überwiegend organtechnischen Maßstäben der Pathologie angebracht. Gerade innerhalb der Psychiatrie und ihrer noch immer bestehenden Großkrankenhäuser ist diese Kritik ebenfalls angezeigt, z. T. wegen der aus organisatorischen Strukturen erwachsenden Neigung zur Bürokratisierung, z. T. wegen der vorgenannten allgemeinen Entwicklungstendenzen in der Medizin. Siehe hierzu die Stichworte mangelhafter Sorgfalt beim Diagnostizieren (z. B. durch oberflächlichen Gebrauch operationalisierter diagnostischer Verfahren, mangelnder ärztlicher Aufklärung usw.) sowie des kustodialen oder technisch-administrativen therapeutischen Umgangsstils (z. B. Problematik von Zwangsbehandlungen und unreflektierter Medikamentenverordnung bzw. Auswüchsen der Medikalisierung).[5]

Wissenschaftsgeschichte

Thure von Uexküll (1908-2004) beschreibt zur Geschichte des Begriffs Konversion, dass der von Sigmund Freud (1856-1939) gebrauchte Begriff der Erregungssumme Ausgangspunkt für Modellvorstellungen in der Psychosomatischen Medizin war. Die ,seelische Vorstellung' sei als ,Erregungssumme' gedeutet worden. Damit sei zu verstehen gewesen, dass sich seelische Energie in körperliche Symptome umsetzen könne. - Es handelte sich somit um ein Prinzip der Psychodynamik bzw. der Psychophysiologie, das mit mechanischen Abläufen der Physik und damit auch des Maschinenparadigmas durchaus zu vereinbaren war. Von Uexküll schreibt zum Apparatemodell:

„Dieses Modell hat sich in bestimmten Grenzen so gut bewährt wie kaum ein anderes. Ja, man kann sagen, daß ihm fast sämtliche Erfolge der modernen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin zu verdanken sind. Das war wohl auch der Grund, daß man sehr bald vergaß, wie problematisch der Begriff des Apparats als Modell für Lebenserscheinungen ist und wie einseitig er angewendet wird, solange man sich nur für seine stofflich-energetische Seite interessiert.“[6]

Freud selbst ging bei seinen psychoanalytischen Modellen ausdrücklich davon aus, „daß das Seelenleben die Funktion eines Apparats ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben“.[7]

Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857-2004) schlug vor, man solle den Körper als Gelegenheitsapparat ansehen, als eine Art von all-round-Gerät, das sich zum Zweck der Willenshandlung von Gelegenheit zu Gelegenheit auf die Ziele ausrichtet, die der Wille ihm vorschreibt. Dieser Wille war damals als maßgeblich für die Deutung hysterischer Symptome erkannt worden.[8]

Weitere für die psychosomatische Theoriebildung bedeutsame Parallelen mit technischen Einrichtungen sind kybernetisch-technisch Modelle, welche Ähnlichkeiten mit der Regulierung von Lebensvorgängen z.B. aufgrund nervöser oder hormoneller Steuerung aufweisen. Diese Steuerungen sind keine rein energetischen Abläufe zwischen bestimmten seelischen Instanzen, sondern vor allem semantische Bezüge von untereinander verschalteten Elementen. Diese Elemente können als Organe des Körpers oder als Faktoren unserer Umwelt z.B. sozialer Art aufgefasst werden. Infolge Rückkopplung soll ein bestimmtes Programm ähnlich dem Verfahren bei einem Computerprogramm umgesetzt werden, das einem bestimmten Organsystem oder etwa einem Individuum als Teil der Gesellschaft dienlich ist, vgl. auch Stw. Regelkreis. Dem Regelkreis in der Technik entspricht der Funktionskreis (Uexküll) in der Psychosomatischen Medizin. Es handelt sich demnach auch um ein soziales bzw. ökonomisches Modell, vgl. Metapsychologie. Das Modell bezieht sich auf analoge technische Steuerungsvorgänge, wie sie z.B. in der Nachrichtentechnik oder allgemeiner gesagt in der Steuerungstechnik üblich sind. Solche technische Veranschaulichungen können aber nur das Wie psychischer Funktionen erklären, nicht jedoch das Warum. Auf die Erforschung der Entstehung psychischer Motivationen können sie keinen Einfluss gewissen.[9]

Philosophische Voraussetzungen

René Descartes (1595–1650) hat dem Menschen Selbstbewusstsein zugeordnet und die Tiere zu Maschinen erklärt. Mit dieser pragmatischen Vorstellung hat er die Methodik der Physiologie umrissen. [10] Natürlich ist Descartes durch seine Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans nicht für den Dualismus zwischen Leib und Seele verantwortlich (Leib-Seele-Problem). Zur Erläuterung: res extensa = Ausdehnung (im Raum); res cogitans = Denken. Dieser Dualismus lässt sich vielmehr schon bei Platon feststellen. Von ihm stammt das Wortspiel soma (Körper) = sema (Grabstein), womit der Körper letztlich zum Gefängnis der Seele wird. Die Seele sei, so meint Descartes, als unteilbare Substanz mit allen Organen des Körpers verbunden.[11] Er schreibt in seiner sechsten Meditation:

„ … Die Natur lehrt mich durch die Erfahrung von Schmerz und Hunger, Durst usw. …, daß ich in meinem Körper nicht wie der Kapitän in einem Schiff wohne, sondern, daß ich innig mit ihm vereint, sozusagen mit ihm vermischt bin, so daß ich mit ihm eine Einheit zu bilden scheine.“[12]

Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716) setzte sich in seiner Monadologie weiter mit Auswirkungen der neu entdeckten physikalischen Gesetze auseinander, welche die Autorität der kirchlichen Lehrmeinung erschütterte und somit auch die gängigen Auffassungen über die Zusammenhänge zwischen Leib und Seele. Seine Lehre von der prästabilisierten Harmonie ist eine Variante des Paradigmas von den zwei gleichgehenden Uhren (Geulincxsches Uhrengleichnis, nach Arnold Geulincx) und verkörpert ausgeprägte mechanistische und deterministische Züge. Gott ist vergleichbar einem Deus ex machina.[13] Die philosophische Haltung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert gegenüber dem Leib-Seele-Problem wird allgemein als psychophysischer Parallelismus bezeichnet. Während Descartes noch die Seele als unteilbare Substanz mit allen Organen verbunden sein ließ, ist nun das Band zwischen Körper und Seele gelockert. Man bezeichnet dieses Band auch symbolisch als vinculum amoris (Fessel der Liebe). Damit ist der gefühlsmäßig anteilnehmende Aspekt für die Belange der eigenen Seele und derjenigen der Mitmenschen gemeint.

Blaise Pascal (1623–1662) hat die Logik der Anteilnahme als ordre du cœur oder als logique du cœur bezeichnet: „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point.“[14] Man darf diese Fähigkeit als spezifische Leistung der Vernunft bzw. der von ihr verfolgten Komplementarität von Gefühl und reiner Ratio betrachten.

Immanuel Kant (1724–1804) hat in seiner transzendentalen Ästhetik die Zeit als Anschauungsform des inneren Sinnes (KrV § 6, B 49), den Raum als Anschauungsform des äußeren Sinnes (B 50) bezeichnet. Am Beispiel des Satzes „Ich denke“ weist er zum Thema der dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft die von allen empirischen Eindrücken befreite rationale Seelenlehre der inneren Erfahrung zu (B 399–401). „Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper (B 400).“ – Hieraus folgt, dass Gesichtspunkte der Entwicklung (Anschauungsform der Zeit) für die Psychologie wesentlicher als für die Organmedizin (Anschauungsform des Raums) sind. Dort spricht man – was die Zeit betrifft – eher von Krankheitsverlauf. Die Seele wird als „Prinzipium des Lebens“ (B 403) angesehen und als Substanz aufgefasst. Kant verweist dazu auf seine Kategorientafel. Aufgrund ihrer Vierteilung ergeben sich 4 Paralogismen (B 406 ff).[15]

Karl Jaspers (1883–1969) macht den Verstand für die Entwicklung der Technik verantwortlich. Er schreibt:

„ … Das Denken des Verstandes erfindet und macht. Seine Vorschriften können ausgeführt werden und durch endlose Wiederholung das Machen vervielfältigen. Es entsteht eine Weltverfassung, in der einige Köpfe die Maschinen konstruieren, gleichsam eine zweite Welt erschaffen, in der dann die Massen als Funktion der Ausführung dienen. Das andere Denken, das Denken der Vernunft, ermöglicht keine Ausführung nach Anweisungen in Massen, sondern verlangt von jedem, als er selbst zu denken, ursprünglich zu denken. … [16]

Erich Fromm (1900–1980) hat die Aristotelische Logik für die Entwicklung der Atombombe verantwortlich gemacht. Er schreibt:

„ … das paradoxe Denken (Vernunftlogik) führte zur Toleranz und zur Bemühung, sich selbst zu wandeln. Der aristotelische Standpunkt (Verstandeslogik) führte zum Dogma und zur Wissenschaft, zur katholischen Kirche und zur Entdeckung der Atomenergie.“ [17]

Günther Anders (1902–1992) ging mit seiner Technikphilosophie von drei Hauptthesen aus:

  1. „daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen sind;
  2. daß wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können;
  3. und daß wir glauben, das was wir können, auch zu dürfen …“ [18] [19])

Seine Erfahrungen mit der Technik hat Günther Anders hauptsächlich als Emigrant in den USA gesammelt. Aber auch die Darstellungen eines US-amerikanischen Zeitgenossen, Lewis Mumford zu diesem Thema seien erwähnt.[20]

Thomas Samuel Kuhn (1922-1996) betrachtete das Paradigma als wesentlich für jede wissenschaftliche Revolution. Somit stellt sich die Frage nach dem möglicherweise schwindenden „historischen Laderaum“ (Bloch) für das Maschinenparadigma im Zuge der Postmoderne. [21] Dort (l.cit.) heißt es:

„Angesichts des (1) Faschismus und Stalinismus, der mit dem Fortschritt der Natur- und Sozialtechnik bisher auch verbundenen (2) Zerstörung der Umwelt sowie der in dem methodischen Ansatz vieler Wissenschaften und Wissenschaftstheorien vollzogenen (3) Eliminierung des kritischen Subjekts und der Geschichte scheint es ein Hohn zu sein, die Gegenwart im Verhältnis zur Vergangenheit schlechthin als Fortschritt oder auch nur als Zeitalter der Aufklärung zu bezeichnen.“

Psychologische Voraussetzungen

William Stern (1871–1938) mit seinem Werk „Person und Sache“ [22] ist bekannt für seinen Kampf gegen eine impersonalistische Psychologie als dessen Vertreter Kurt Schneider mit seinem Hauptwerk „Klinische Psychopathologie“[23] genannt sei, ein Werk, das 1976 in der 11. Auflage erschien und damals bereits in 7 Sprachen übersetzt worden war. Das Konzept von Kurt Schneider bestand in der Forderung nach Wertfreiheit. Er vertrat nach eigener Darstellung einen empirischen Dualismus und nahm zu einer metaphysischen Auslegung des Leib-Seele-Verhältnisses nicht Stellung. In seiner Darstellung folgte er einem deskriptivem Stil und damit einer Methodik, die bereits von Karl Jaspers in seinem psychopathologischen Standardwerk als „falsche Mosaikarbeit“ [24] dargestellt wurde, vgl. auch Stw. Nosologie. Jeder, der seine Arbeiten jedoch liest, stellt schon nach wenigen Sätzen fest, dass hier eine Objektivität „ohne Seele“ angestrebt wird, die eindeutig abwertenden Charakter besitzt. Als Prototyp für diese Abwertung gilt der Begriff des „Psychopathen“, der ursprünglich ebenfalls „wertfrei“ dargestellt werden sollte. Schneider gilt als ein Vorbild für die Forschungsgruppen, die in den 1970er Jahren die heute gültigen Diagnose-Systeme (ICD und DSM) ausarbeiteten. Das diagnostische System bedarf aber der Ergänzung durch ausgewogene nosologische Kriterien, wie sie mit dem multiaxialen System angestrebt werden. Eine einseitig deskriptive Methodik ist nicht angebracht.

Konsequenzen

Auch die Terminologie der Physik und Chemie reicht zur Beschreibung allgemeiner biologischer und erst recht menschlicher Lebensvorgänge nicht aus. Hier bleiben entscheidende Grundbegriffe unberücksichtigt, wie z. B. das Ich, das Selbstbewusstsein, die Selbstreduplikation, die Autonomie usw.

Zu den Folgen des Reduktionismus durch das Maschinenparadigma zählt auch das Phänomen unzureichender Behandlungsprinzipien gemäß den Leitsätzen a) Körper ohne Seele und b) Seele ohne Körper und damit das Auseinanderbrechen der Medizin in zwei heterogene Bereiche. Die Gründe für das Scheitern einer praktisch umzusetzenden, allgemein verbindlichen Begrifflichkeit der Subjektivität wurden bereits z. T. unter dem Stichwort Neurose erläutert. Hinzu kommen aber auch erkenntnistheoretische Probleme des Monismus oder Dualismus von Körper und Seele, die sich bereits aus dem Begriff der Substanz und den daraus ableitbaren Paralogismen ergeben.

Als psychologische Konsequenz des seit der Neuzeit einsetzenden naturwissenschaftlich-mechanistischen Denkens aufgrund der Entdeckung überragender Bedeutung der Kausalität lässt sich das Überwiegen einseitig auf nüchtern rationaler Erkenntnis begründeter Anschauungen verstehen. Dies kann zu einer gewohnheitsmäßig andauernden Ich-Spaltung führen, wobei die analytisch beobachtenden gegenüber den anteilnehmenden und erlebnisorientierten Fähigkeiten die Oberhand gewinnen. Als notwendige Reaktion gegen solche mechanistisch-materialistische Entwicklungstenzen kann der Spiritualismus angesehen werden, als Einzelphänomen auch der sog. Pauli-Effekt.

Das seit der Neuzeit einsetzende naturwissenschaftliche Denken und die Entdeckung der technisch überragenden Bedeutung von Kausalität haben z. T. zur Überbetonung mechanistischer und materialistischer Betrachtungsweisen geführt. Als individualpsychologische Konsequenz resultiert häufig eine andauernde gewohnheitsmäßige Ich-Spaltung, vgl. dazu z. B. auch Ich-Spaltung und therapeutische Abstinenz. Diese Spaltung ist dadurch hervorgerufen, dass analytisch beobachtende gegenüber anteilnehmenden und erlebnisorientierten Fähigkeiten bei einem Menschen die Oberhand gewinnen. Als wissenschaftliche Konsequenz kann auf das Phänomen der Neurologisierung der Psychopathologie hingewiesen werden. Als geisteswissenschaftlich entgegengesetzte Gegenreaktion wäre der Spiritualismus zu nennen, als individualpsychologisches Einzelphänomen der og. Pauli-Effekt. Als Gegenpol der Kausalität kann Synchronizität und Finalität angenommen werden.

Literatur

  1. Zeitschrift Test, 1/2003. Recht mit Risiko, Seite 88
  2. Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Bibliothek Suhrkamp, Band 1135, Frankfurt / M 1993, Zum Problem der Intelligenz, Seite 67 und 133 – Auch die Physiologie folgt dem Konzept der Organmedizin, vgl. auch Kap. 2 „Philosophische Voraussetzungen“ (Descartes) im hier vorliegenden enzyklopäd. Beitrag Maschinenparadigma
  3. Martin Heidegger: Sein und Zeit. 15. Auflage. Max Niemeyer-Verlag, Tübingen 1979, ISBN 3-484-70122-6, Seite 29
  4. Thure von Uexküll (Hrsg. u. a.): Psychosomatische Medizin. 3. Auflage. Urban & Schwarzenberg, München 1986, ISBN 3-541-08843-5, Seite 3 f.
  5. Otto Bach: Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, Seite 1–6
  6. Thure von Uexküll: Grundfragen der psychosomatischen Medizin. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg 1963, Seite 87
  7. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse. Fischer Bücherei, Frankfurt / M., Februar 1964, Seite 6
  8. Eugen Bleuler: Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie 1920,96
  9. Uexküll: a.a.O, Seite 243-274
  10. Hans-Georg Gadamer: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Bibliothek Suhrkamp, Band 1135, Frankfurt / M 1993, Zum Problem der Intelligenz, Seite 67
  11. Peter R. Hofstätter (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M. 1972, ISBN 3-436-01159-2, Seite 206 f.
  12. H. Weiner: Psychosomatic Medicine and the Mind-Body-Problem in Psychiatrie. 1984. – Zitat von Descartes nach dieser Quelle
  13. P. R. Hofstätter: a.a.O. Seite 207
  14. Blaise Pascal: Pensées IV, 277 [1670]
  15. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt / M 1995, Band 1 stw, ISBN 3-518-09327-4, text- und seitenidentisch mit Bd. III der Werkausgabe
  16. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. 7. Auflage. R. Piper München 1982, ISBN 3-492-00537-3
  17. Erich Fromm: Die Kunst des Liebens. Ullstein Frankfurt 1984, Buch-Nr 35258, ISBN 3-548-35258-8, Seite 92
  18. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Erster Band: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 6. Auflage. C.H. Beck, München [1956] 1983, ISBN 3-406-09761-8
  19. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. 3.Auflage. C.H. Beck, München [1980] 1984, ISBN 3-406-09762-6
  20. Lewis Mumford: Mythos der Maschine; Kultur, Technik und Macht. 4. Auflage. Fischer tb 1981, 21–25 Tsd., ISBN 3-596-24001-8
  21. Hermann Krings et al. (Hrsg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Studienausgabe, 6 Bände, Kösel, München 1973, ISBN 3-466-40055-4, Stichwort Aufklärung, Seite 142
  22. William Stern: Person und Sache, System des Kritischen Personalismus, III. Wertphilosophie. Mit einem Begleitwort zu Band I, II, III. Leipzig 1924, [s.n.].
  23. Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie. 11. Auflage. Georg Thieme Verlag Stuttgart 1976, ISBN 3-13-398211-7
  24. Karl Jaspers: 9. Auflage. Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin [1913] 1973, ISBN 3-540-03340-8, Seite 471

Siehe auch


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