Orchestrion

Orchestrion

Das Orchestrion gehört zu den mechanischen Musikinstrumenten. Es kann ein komplettes Orchester imitieren und ging aus der seit der Mitte des 18. Jahrhundert in größerem Umfang produzierten Spieluhr hervor. Das Konzertorchestrion war für das Spiel in den Salons der Haute-Volée und den Hallen großer Hotels konzipiert und spielte Musik wie Beethoven-Symphonien, Opern-Ouvertüren, aber auch Märsche und Tanzmusik.

„First musical clock“, aus einem Prospekt von Lyon & Healy, Chicago, ca. 1900

Es besteht eine gewisse Verwandtschaft zur transportablen Drehorgel und der Jahrmarktsorgel. Die Jahrmarktsorgel imitierte ebenfalls eine Blaskapelle oder ein Tanzorchester.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung des Namens

Georg Joseph Vogler ließ 1796 von Orgelbaumeister Hr. Knecht aus Tübingen eine transportable Orgel bauen, die als Orchestrion in Stockholm, später 1801 in Prag und anderen Städten Europas vorgeführt wurde.[1][2] Der Wiener Instrumentenmacher Leopold Sauer baut 1811 ein von ihm Orchestrion genanntes Instrument, das ebenfalls nur manuell spielbar war. Ein ähnliches einfacheres Instrument baut er bereits 1804 in Prag.[3] 1805 vollendete Johann Nepomuk Mälzel (1772-1838) das Panharmonikon. Mälzel baute schon in dieses erste Panharmonikon durchschlagende Zungen ein, für das Ludwig van Beethoven 1813 den zweiten Teil von „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vitoria“ (op. 91) komponierte.[4] Vogler und Mälzel waren in den Jahren 1801 bis 1805 gemeinsam in Wien und traten 1806 und 1807 beide mit ihren neuen Errungenschaften in Paris auf. Vogler erklärte und zeigte überall die Neuerungen.[5] Nach dem Tod von Wolfgang von Kempelen 1804 kam Johann Nepomuk Mälzel in den Besitz von dessen Schachtürken. Mit diesem und seinen Musikautomaten ging er auf Tournee. Im Jahre 1825 reiste er damit in die USA und sorgte für Furore, möglicherweise war er auch schon 1811 in USA, ein Panharmonikon wurde in New York, Boston und anderen Städten 1811 und 1812 vorgeführt. Johann Friedrich Kaufmann in Dresden hat 1812 das Panharmonikon nachgebaut, Kaufmann schreibt selber, dass er zur selben Zeit wie Mälzel und Vogler um 1806 in Paris war, außerdem hatte dieser gute persönliche Kontakte zu Vogler.[6] Ein Mechanischer Trompeter aus seiner Hand befindet sich im Deutschen Museum in München.[7]

  • 1811 baut der Wiener Instrumentenmacher Leopold Sauer ein von ihm Orchestrion genanntes Instrument, das aber nicht automatisch spielt.[8]
  • 1817 baut die englische Orgelbaufirma Flight & Robson in London einen ähnlichen Automaten wie das Panharmonikon und nennt dieses Apollonicon.
  • 1823 kopiert William M. Goodrich Mälzel's mit anderen das Panharmonikon in Boston, USA.
  • 1829 Mechaniker Bauer zeigte in Wien sein Panharmonikon.[9]

Orchestrien wurden auch seit ca. 1820 von dem Spieluhrenbauer Carl Blessing in Unterkirnach im Schwarzwald gebaut. Von der Familie Blessing gingen in der Folge die Grundimpulse für den Schwarzwälder Orchestrion-Bau aus: die Blessing-Orchestrien wurden in den nachfolgenden Jahrzehnten bis nach Russland vertrieben.

Das Orchestrion ab 1850

Die Verwendung der Bezeichnung Orchestrion und die Erfindung des automatischen Musikinstruments wurde in einer Londoner Zeitung 1851 dem Dresdner Friedrich Theodor Kaufmann und Sohn von Johann Friedrich Kaufmann zugeschrieben.[10]

Von 1845–1848 baute der Vöhrenbacher Spieluhrenbauer Michael Welte, ein Schüler Blessings, ein Musikwerk für einen unbekannten Käufer in Odessa, das sämtliche Orchesterstimmen imitieren sollte.

Zentren der Produktion für die Konzertorchestrien waren in Deutschland Freiburg im Breisgau, Vöhrenbach im Schwarzwald und Leipzig, für Jahrmarkts-, Straßen- und Drehorgeln Waldkirch im Breisgau.

Welte-Orchestrion 1862 in London

Berühmt wurde das 1862 von Michael Welte auf der Weltausstellung in London ausgestellte Instrument, dem von der Presse die Bezeichnung Orchestrion gegeben wurde und dessen Abbildung in zahlreichen Nachschlagewerken als Beispiel für die gesamte Instrumentengattung verwendet wurde.[11]

1883 ließ Emil Welte ein Verfahren patentieren,[12] das die Steuerung der Welte-Orchestrien durch gelochte Papierstreifen - die sogenannte Notenrolle - steuerte und innerhalb weniger Jahre die Stiftwalze ablöste. Zwei weitere Patente von 1889 (DRP 48.741 und 58.252) verbesserten das Verfahren entscheidend. Von da an stellte Welte die gesamte Produktion auf die Notenrolle um, die Patente wurden in Deutschland für M. Welte & Söhne eingetragen.

1905 oder 1906 stellte die Mills-Novelty-Company in Chicago, USA, das erste Orchestrion mit einer integrierten Geige vor. Dieses Instrument, die Automatic Virtuosa, hatte im Oberteil eine liegend eingebaute Geige, die Saiten wurden durch vier sich drehende Zelluloid-Scheiben gestrichen. Ab 1909 gab es ein verbessertes Modell, die Violano-Virtuoso. Diese wurde in verschiedenen Varianten bis etwa 1930 hergestellt.

Außer der Mills Novelty Company gelang es nur noch der Ludwig Hupfeld AG in Leipzig ein Orchestrion mit Geige zu bauen. Auf der dortigen Herbstmesse 1908 stellte sie den Prototypen eines Geige spielenden Orchestrions vor, die Hupfeld Phonoliszt-Violina. Dies war ein mit einem Reproduktionsklavier vom Typ Hupfeld-Phonoliszt gekoppeltes Geigen-Orchestrion. Es spielte mit einem Rundbogen fünf senkrecht im Oberteil des Instrumentes rundum angebrachte Geigen, die vom Klavier begleitet wurden. In der Serienfertigung wurden dann nur drei Geigen eingebaut. Die Phonoliszt-Violina wurde von 1909 bis 1930 gebaut.

Technische Entwicklung

Anfangs wurden Orchestrien mit Gewichtsantrieb oder Kurbel, gelegentlich auch mit Dampfmaschine, Gasmotor oder Wassermotor angetrieben. Später wurden sie meist mit einem Elektromotor ausgestattet. Die Musik wurde anfangs mit einer Stiftwalze aus Holz, später durch gelochte Scheiben oder Kartonstreifen auf das Instrument übertragen. Durch die Einführung neuer Technologien wie des Rundfunks und der elektrischen Schallplattenspieler um 1926 brach der Verkauf von Orchestrien weltweit ein. Durch die nun billigere und einfachere „elektrische Aufnahme“ von Ton durch das Kohlemikrofon und die Wiedergabe durch Verstärker über Großserien-Lautsprecher waren die aufwändigen Orchestrien und auch die Grammophone nicht mehr konkurrenzfähig. Innerhalb kurzer Zeit wurde ihre Herstellung weltweit eingestellt.

Quellen

  1. Allgemeine musikalische Zeitung, Band 15, 17. Februar 1813, S. 117..
  2. Wilhelm Schneider: Historisch-technische Beschreibung der musicalischen Instrumente. Neisse und Leipzig, 1834, Seite 116, Artikel Orchestrion: Mit diesem Namen wurden zwei verschiedene Instrumente benannt. Das erste erfand Abt Vogler im Jahre 1789, es gehört eigentlich under die Blasinstrumente, ist aber, um Verwechselung zu vermeiden, seines Namensbruders wegen hier angeführt. Dieses Vogler'sche Orchestrion ist eine tragbare Orgel in Form eines Cubus von 9 Schuh, aber im Ton so stark, als eine 16 füßige Orgel, und man hört darin alle Orchesterstimmen, weshalb der Erfinder ihm auch diesen Namen gab. Das Instrument hat 4 Claviere, jedes von 63, und ein Pedal von 39 Tasten. Das zweite also benannte Instrument erfand Anton Kunz, Musiker zu Prag im Jahre 1796. Dieses ist aber ein Fortepiano in Flügelform, dessen Kasten 3 Schuh 9 Zoll in der Höhe, 7 Schuh 6 Zoll in der Länge, und 3 Schuh 2 Zoll in der Vorderbreite beträgt. [1]
  3. Abt Vogler: Leopold Sauers Orchestrion, In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 147, 8. Dezember 1804, S. 1174-1175
  4. Kastner, Emerich; Kapp, Julius: Ludwig van Beethoven: Sämtliche Briefe, Leipzig 1923 (Repr. Tutzig 1975), S. 274: „Ich hatte Maelzel auf eigenen Antrib ein Stück Schlachtsymphonie für seine Panharmonika ohne Geld geschrieben“.
  5. Allgemeine musikalische Zeitung, Band 10, 5. März 1823, S. 149 - 155
  6. Allgemeine musikalische Zeitung, Band 10, 5. März 1823, Fußnote S. 153.
  7. Carl Maria von Weber in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Band 14, Nr. 41, 7. Oktober 1812, Seite 663: Ein Trompetenwerk mit Uhr von 24 Trompeten und 2 Pauken, welches mehrere Stücke spielt. Hier hat zwar jede Trompete nur Einen Ton: die Zahl derselben erzeugt aber doch Mannigfaltigkeit, und Ref. fand daran besonders auszeichnenswerth, dass sie die Abwechslungen des Piano und Forte besitzt. Bey dem Paukenwirbel wird das Crescendo durch einen auf besondere Art gefertigten Klöppel hervorgebracht, wo auch zugleich das Unangenehme des unwillkührlich doppelten Anschlags derselben bey Mälzel — vermieden wird. Das Gehäuse von Mahagoni und Bronze, wo die Trompeten selbst eine natürliche Trophee bilden, ist geschmackvoll und zweckmässig. — Diese Maschine ist im Ganzen den Mälzeischen Trompetenwerken nachgebildet, doch vollkommner, namentlich des Piano und Forte wegen etc. S. 665: Die beyden Spieluhren sind von der Erfindung des Vaters, J. G. Kaufmann; das Harmonichord ist durch gemeinschaftlichen Fleiss entstanden: der Trompeter aber alleinige Schöpfung des Sohnes, Johann Friedrich Kaufmann. Möge dieser thätige, genievolle, junge Mann die Unterstützung und Aufmunterung finden, die seines rühmlichen Strebens würdig ist!.[2]
  8. Abt Vogler: Leopold Sauers Orchestrion, In: Zeitung für die elegante Welt, Nr. 147, 8. Dezember 1804, S. 1174-1175
  9. Eduard Hanslick: Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869, Band 1, S. 259
  10. London Illustrated News, 5. Juli 1851. Zitiert nach: Arthur Wolfgang Julius Gerald Ord-Hume: Clockwork music. New York, Crown, 1973
  11. The London Illustrated News, No.1106, 27. Sept. 1862, S. 321 (Bild), S. 323 (Text)
  12. Zeichnungen zu US-Patent 287.599, Emil Welte, New York, 30. Oktober 1883

Literatur

  • Orchestrion. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 12, Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1892, ‎ S. 421.
  • Automatische Musikinstrumente aus Freiburg in die Welt - 100 Jahre Welte-Mignon: Augustinermuseum, Ausstellung vom 17. September 2005 bis 8. Januar 2006 / [Hrsg.: Augustinermuseum]. Mit Beitr. von Durward R. Center, Gerhard Dangel, ... [Red.: Gerhard Dangel]. Freiburg : Augustinermuseum, 2005.
  • Herbert Jüttemann: Orchestrien aus dem Schwarzwald: Instrumente, Firmen und Fertigungsprogramme. Bergkirchen: PVMedien, Ed. Bochinsky 2004. (Fachbuchreihe „Das Musikinstrument“; Bd. 88) ISBN 3-932275-84-5
  • Quirin David Bowers: Encyclopedia of automatic musical instruments: Cylinder music boxes, disc music boxes, piano players and player pianos... Incl. a dictionary of automatic musical instrument terms. Vestal, N. Y.: The Vestal Press, 1988
  • Peter Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik. Bern: Lang, 1984. Online-Version Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau 2002

Weblinks

 Commons: Orchestrions – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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