Olympische Sommerspiele 1900/Marathon

Olympische Sommerspiele 1900/Marathon
Olympische Ringe

Die in der französischen Hauptstadt Paris im Rahmen der Weltausstellung (Exposition Universelle et Internationale de Paris) ausgetragenen Internationalen Wettbewerbe für Leibesübungen und Sport (Concours Internationaux d’Exercices Physiques et de Sports) umfassten auch einen Marathonlauf. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) ordnete diesen Wettbewerbe dem Programm der Olympischen Sommerspiele 1900 (Spiele der II. Olympiade) zu.

Marathon war und ist ein Bestandteil der leichtathletischen Wettkämpfe. Bei Olympischen Spielen erfährt der Marathonlauf stets eine besondere Aufmerksamkeit, denn beide sind umgeben vom mythischen Flair der griechischen Antike. Schon der Marathonlauf während der ersten Olympischen Spiele in Athen an historischer Stelle begeisterte eine enorme Menschenmasse. Dies sollte sich nach Vorstellung der Organisatoren in Paris wiederholen. Der anlässlich der Weltausstellung ausgeschriebene Lauf stand jedoch unter einem äußerst ungünstigen Stern.

Kurz nach dem Start.
Der Sieger Théato ist in diesem Bild noch Vorletzter

Langstreckenläufe waren in jener Zeit nicht ungewöhnlich. Es hatte sich bereits eine Szene von Berufsläufern gebildet, die von Ort zu Ort tingelten und um die Geldpreise wetteiferten. Vielfach handelte es sich um Läufe in einem Stadion, die mehrere Stunden dauerten. Auch während der Weltausstellung gab es Langstreckenläufe einen Lauf über 6  Stunden, der vom IOC nicht als olympisch angesehen wurde.

Am 8. Juli, 11 Tage vor dem olympischen Marathonlauf, fand der seit 1896 ausgetragene Langstreckenlauf über 40 km von Conflans nach Paris statt, an dem sich 132 Berufsläufer beteiligten. Sportfunktionäre, Läufer und Zuschauer stellten sich nun die Frage, warum man nur kurze Zeit später einen Lauf von gleicher Länge veranstaltete, bei dem es so gut wie nichts zu gewinnen gab? Die Presse urteilte entsprechend negativ und gab dem Rennen den Namen Marathon des Fortifs (Festungs-Marathon), unter dem dieser Lauf in die Geschichte einging. Es war also nicht verwunderlich, dass nur 16 Läufer den Wettkampf aufnahmen. Dennoch dürfte ein gewisses Prestige nicht zu bestreiten sein, denn 7 Nationen waren unter den Läufern vertreten.

Der zweite unglückliche Umstand betraf die Temperaturen, die am Tag des Wettkampfes, dem 19. Juli, herrschten. Je nach Streckenabschnitt hatte man 35 bis 39 Grad gemessen. Der Streckenverlauf war ein Rundkurs entlang den alten äußeren Befestigungsanlagen (den fortifications) im Uhrzeigersinn um den Stadtkern von Paris herum, wo heute der innere Autobahnring verläuft (Boulevard Périphérique). Diese exakt 40,26 km lange Strecke war ein weiterer Grund für Unmut und vielerlei Streitigkeiten.

Um 14:36 Uhr startete man auf dem Vereinsgelände des Racing Club de France im Bois de Boulogne, der auch Schauplatz aller übriger leichtathletischen Wettbewerbe war. Zu Beginn wurde die Laufbahn aus Gras viermal umrundet, bevor es hinaus in die Stadt ging. Die Streckenposten, von denen die meisten einige Tage zuvor mittels Annonce in einer Zeitung angeworben wurden, schienen überfordert. Nicht nur, dass sie nicht in der Lage waren, die Läufer vor dem Gewirr an Kutschen, Fahrrädern und einem riesigen Gefolge neugieriger Mitläufer zu schützen, auch waren sie über den Streckenverlauf durch die winkligen Straßen scheinbar nicht ausreichend informiert und leiteten einige Läufer auf Umwege. Markierungen gab es ohnehin nicht.

Die französischen Läufer führten von Beginn an, nur der Schwede Ernst Fast konnte mithalten. Die ortskundigen und über den Streckenverlauf bestens informierten Franzosen, allen voran einer der Favoriten, Georges Touquet-Daunis, bahnten sich ihren eigenen Weg durch das Chaos. Nach knapp der Hälfte der Strecke rankt sich um den Führenden eine Anekdote, wonach er in einem Bistro nahe dem Porte de Clignancourt hastig ein Bier trank und kurz danach mit Magenproblemen aufgeben musste.

Émile Champion Nr.2 unterwegs

Der erst 19 Jahre alte Schwede Fast übernahm nun die Führung, doch lange konnte er sich nicht an der Spitze behaupten. Ein anderer Favorit, Émile Champion, und ein unbekannter Läufer namens Michel Théato überholten Fast. Champion wurde von einem Tempomacher unterstützt, dem Berufsläufer Ducro. Auch dieser Umstand ein Ärgernis, insbesondere für die ausländischen Läufer, und ein Beispiel für die planlose Organisation. Auf den letzten Kilometern setzte sich Théato deutlich von Champion ab und gewann mit einer Zeit knapp unter 3 Stunden. Erst 5 Minuten später folgte Champion. Der Rückstand von Fast, der Dritter wurde, betrug bereits mehr als eine halbe Stunde. Nur 7 Läufer erreichten das Ziel, die übrigen mussten den unsäglichen Zuständen Tribut zollen.

Nach Ende der Veranstaltung gab es zahlreiche Proteste. Ernst Fast beklagte sich darüber, dass er angeblich von einem Polizisten absichtlich fehlgeleitet wurde und erst von erstaunten Passanten wieder auf den richtigen Weg geschickt wurde, dadurch jedoch einen uneinholbaren Rückstand hinnehmen musste. Der Fünfte, der US-Amerikaner Arthur Newton, behauptete jahrelang, dass die französischen Läufer aufgrund ihrer Streckenkenntnis abgekürzt hätten, denn schließlich habe er zur Hälfte des Rennens die Führung übernommen und wäre danach von niemanden mehr überholt worden. Richard Grant, Landsmann von Newton und Letzter des Laufs, hatte die Veranstalter sogar verklagt und führte einen jahrelangen ergebnislosen Prozess.

So haftet dem olympische Marathon von Paris bis heute ein Makel an. Dieser wird leider vom IOC noch dadurch verstärkt, dass der Sieger, Michel Théato, bis heute in den Siegerlisten fälschlicherweise als Franzose geführt wird. Inzwischen ist durch Auffinden seiner Geburtsurkunde festgestellt worden, dass Théato in Luxemburg geboren wurde. Théato lebte zwar in Paris, aber zur Annahme der französischen Staatsbürgerschaft war er definitiv zu jung. Als Mitglied beim Club amical et sportif de Saint-Mandé rühmte sich sein Club und ganz Frankreich nach dem Sieg seiner Person, so dass man seine Herkunft nicht weiter verfolgte. Auch das IOC hat diese Erkenntnis in ihren veröffentlichten Siegerlisten und im Medaillenspiegel bislang nicht berücksichtigt.

Ebenso wenig lässt sich ein Gerücht aus der Welt schaffen, wonach Théato ein Bäckerjunge war, der sich seine Kondition beim Austragen der Brötchen geholt habe und die Hitze während des Marathons deshalb gut verkraftete, weil er diese aus der Backstube gewöhnt war. Sein Sieg war überraschend und für viele Beobachter unerklärlich, verständlicherweise bediente man sich dieser einfachen Begründung. Tatsächlich war Théato jedoch Möbeltischler.

Marathon

Platz Land Athlet Zeit
1 LUX
(FRA)
Michel Théato 2 h 59:45,0 min
2 FRA Émile Champion 3 h 04:17,0 min
3 SWE Ernst Fast 3 h 37:14,0 min
4 FRA Eugène Besse 4 h 00:43,0 min
5 USA Arthur Newton 4 h 04:12,0 min
6 CDN Ronald MacDonald unbekannt
7 USA Richard “Dick” Grant ca. 4 h 24 min
- FRA Auguste Marchais Aufgabe
FRA Georges Tourquet-Daunis
GBR Frederick Derek Randall
GBR Ernest Ion Pool
GBR William Saward
SWE Johan Nyström
USA John Cregan
USA John B. Maguire
ITA Emilio Banfi
Michel Théato beim Zieleinlauf


Die vielen Legenden, die sich um Théato ranken, machen auch vor den Fotografien nicht halt. Das weitverbreitetste Foto zeigt einen Läufer in einem quergestreiften Trikot mit der Nummer 63, wie er von einem Streckenposten mit einer Wasserspritze besprüht wird. Es war lange Zeit das einzige bekannte Foto vom olympischen Marathonlauf, und deshalb ging man davon aus, dass es den Sieger darstellt. Tatsächlich entstand das Foto jedoch beim 11 Tage zuvor ausgetragenen Rennen der Berufsläufer. Es handelt sich hier also nicht um Théato.


Literatur

  • Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik Teil 1. Athen 1896 – Berlin 1936. Sportverlag, Berlin 1997, ISBN 3-328-00715-6.
  • Karl Lennartz, Walter Teutenberg: Olympische Spiele 1900 in Paris. Agon-Sportverlag, Kassel 1995, ISBN 3-928562-20-7.
  • Bill Mallon: The 1900 Olympic Games. McFarland & Company, Inc., Jefferson, North Carolina 1998, CIP 97-36094.
  • Walter Mallmann: Olympischer Marathon. Sport und Medien Verlag 1993, ISBN 3-9803182-4-9.

Weblinks


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