Okkasionalismus

Okkasionalismus
Nicolas Malebranche, wichtigster Okkasionalist

Der Okkasionalismus oder Occasionalismus ist als Lehre von den Gelegenheitsursachen (aus lateinisch occasio, Gelegenheit, Anlass) eine dualistische Antwort auf das Leib-Seele-Problem, die insbesondere im 17. Jahrhundert vertreten wurde, heute aber praktisch keine Anhänger mehr hat.

Inhaltsverzeichnis

Theorie

Mentale/physische Ereignisse werden von Gott registriert. Daraufhin verursacht er andere mentale/physische Ereignisse.

Die zentralen Thesen des Okkasionalismus lauten:

  1. Körper und Geist haben keinen kausalen Einfluss aufeinander.
  2. Zwischen körperlichen und geistigen Zuständen vermittelt Gott.

Die Ideen der Okkasionalisten, deren Hauptvertreter Nicolas Malebranche war, können wie folgt zusammengefasst werden: Immer wenn eine Person in einem mentalen Zustand ist, so ist sie in einem immateriellen Zustand, der keinen Einfluss auf die materielle Welt haben kann. Dennoch scheint eine Interaktion zu existieren, wie sich an einfachen Beispielen verdeutlichen lässt: Personen essen etwas (physisch), wenn sie Hunger haben (mental) oder laufen fort (physisch), wenn sie Angst haben (mental). Diesen Zusammenhang erklären Okkasionalisten nun durch Gott: Wenn eine Person etwa Hunger hat, so registriert Gott diesen mentalen Zustand und setzt den Körper daraufhin in Bewegung. Genau der gleiche Prozess soll vom Physischen zum Mentalen ablaufen: Wenn eine Person sich etwa mit einer Nadel sticht, so registriert Gott dieses physische Ereignis und löst ein Schmerzerleben aus (→Grafik).

Dabei beriefen sich die Okkasionalisten, besonders Arnold Geulincx, auf den Grundsatz:

„Quod nescis, quomodo fiat, id non facis.“

„Wenn du nicht weißt, wie etwas geschieht, bewirkst du es auch nicht.[1]

Hintergrund

Der Okkasionalismus wurde als Reaktion auf Probleme des interaktionistischen Dualismus René Descartes’ von Arnold Geulincx entwickelt. Descartes hatte angenommen, dass der immaterielle Geist und der materielle Körper einen kausalen Einfluss aufeinander haben. Er hatte jedoch Probleme zu erklären, wie eine solche Interaktion aussehen könnte. Die Okkasionalisten, darunter auch Géraud de Cordemoy und Johannes Clauberg, versuchten diesem Problem zu entgehen, indem sie die Interaktion leugneten. Als ihr Vorläufer gilt wegen seiner Kausalitätsvorstellung Al-Ghazali. Die Bezeichnung „Okkasionalismus“ wurde von Géraud de Cordemoy und Louis de La Forge (1632–1666) vorgeschlagen.

Kritik

David Hume kritisierte die okkasionalistische Theorie scharf. Okkasionalisten würden jene Erklärungen durch den Willen eines Deus ex machina in allen Lagen heranziehen, auf die die meisten Menschen nur „beim Auftreten außerordentlicher Erscheinungen, wie Erdbeben, Seuchen und Ungeheuerlichem allerart“ verfielen:

„Sie machen Geist und Intelligenz [Gottes] nicht zur letzten und ursprünglichen Ursache aller Dinge, sondern zur unmittelbaren und alleinigen Ursache jedes Ereignisses, das in der Natur erscheint. Sie behaupten, daß die gewöhnlich Ursachen benannten Dinge in Wirklichkeit lediglich Gelegenheiten sind und daß das wahre und unmittelbare Prinzip jeder Wirkung nicht irgend eine Macht oder Kraft in der Natur, sondern ein Willensakt des höchsten Wesens ist […].“

Diese Position, bei der für Hume sowohl rein körperliche Kausalität als auch Geist-Körper-Interaktion und sogar rein geistige Verursachung je „durch einen besonderen Willensakt“ Gottes erklärt werde, kritisierte er als pantheistisch sowie die Macht und Weisheit der Gottheit verkleinernd. Philosophisch wies er sie zurück, da sie „zu kühn“ sei, „keine Überzeugungskraft“ habe und zu „dem gewöhnlichen Leben und der Erfahrung so fernliegenden Schlüssen führt.“[2]

Im Anschluss an Hume und die spätere Okkasionalismus-Kritik wird heute meist davon ausgegangen, dass der Preis der Leugnung jeglicher Interaktion zu hoch sei. Auch wenn man an der Existenz eines theistisch verstandenen Gottes festhält, scheint es nicht plausibel, dass Gott jedes mal eingreifen muss, um einen Zusammenhang zwischen Mentalem und Physischem zu sichern.

Literatur

  • Occasionalismus. In: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 48ff.
  • Occasionalismus. In: Friedrich Kirchner/Carl Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl., Leipzig 1907, S. 404ff.
  • Jürgen Mittelstraß: Okkasionalismus. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2: H–O, Metzler, Stuttgart/Weimar 2004 [= 1995], ISBN 3-476-02012-6, S. 1067f.
  • Die Weiterentwicklung des Cartesianismus. In: Wolfgang Röd: Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Bd. 2, Beck, München 2000, ISBN 3-406-45931-5, S. 44–49.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Vgl. Occasionalismus. In: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 48ff., hier S. 49; sowie, für die Übersetzung, Wolfgang Röd: Der Weg der Philosophie. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Bd. 2, Beck, München 2000, ISBN 3-406-45931-5, S. 45 und Anm. 45 auf S. 572.
  2. Humes Okkasionalismuskritik, der alle Zitate dieses Abschnitts entnommen sind: David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Übersetzt von Raoul Richter, hrsg. von Jens Kulenkampff. 12. Aufl., Meiner, Hamburg 1993, S. 84–88.

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