Odo Marquard

Odo Marquard

Odo Marquard (* 26. Februar 1928 in Stolp, Hinterpommern) ist ein deutscher Philosoph. Er war ordentlicher Professor für Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Marquard studierte von 1947 bis 1954 Philosophie, Germanistik und Theologie in Münster und Freiburg, neben anderen bei Joachim Ritter und Max Müller. 1954 wurde er bei Müller in Freiburg mit der Arbeit Zum Problem der Logik des Scheins im Anschluß an Kant promoviert.

Zwischen 1955 und 1963 war Marquard wissenschaftlicher Assistent von Joachim Ritter in Münster, bei dem er sich 1963 mit der Schrift Über die Depotenzierung der Transzendentalphilosophie. Einige philosophische Motive eines neueren Psychologismus in der Philosophie habilitierte. In der Sekundärliteratur wird Marquard oftmals der "Ritter-Schule" zugeordnet, wenngleich dieser, anders als fast alle anderen Ritter-Schüler, auch durch Gedanken der Kritischen Theorie beeinflusst wurde und später zu einigen Positionierungen dieser Schule deutlich abweichende Thesen vertreten hat. In den folgenden zwei Jahren unterrichtete er als Privatdozent Philosophie in Münster, bis er 1965 als ordentlicher Professor für Philosophie nach Gießen berufen wurde. 1982 bis 1983 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 1993 wurde er in Gießen emeritiert.

Marquard war von 1984 bis 1987 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. 1984 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Ein Jahr nach seiner Emeritierung verlieh ihm die Universität Jena die Ehrendoktorwürde. 1995 ernannte ihn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt zum ordentlichem Mitglied. Für sein Lebenswerk wurde er 1996 mit dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet, für seine Beredsamkeit 1998 mit dem Cicero-Rednerpreis. 2008 wurde Marquard das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.[1]

Denken

Marquards Schriften – überwiegend kürzere Essays – zeichnen sich durch einen ebenso pointierten und humoristischen wie zuweilen polemischen Stil aus, für den er selbst den Ausdruck „Transzendentalbelletristik“ prägte. Frühe Arbeiten widmen sich besonders der Geschichts- und Naturphilosophie des deutschen Idealismus und der Wiederkehr idealistischer Motive im Rahmen der Psychoanalyse.

Im Zuge einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie, die als theoretische Reaktion auf die Krise des von Leibniz formulierten Theodizeeprogramms interpretiert wird, gelangt Marquard über die Hinwendung zur Anthropologie zu einer skeptischen Philosophie der menschlichen Endlichkeit. In ihrem Mittelpunkt steht die Feststellung, dass die durch Sterblichkeit bedingte Lebenskürze des Menschen grundsätzlich alle Bestrebungen limitiert, sich in beliebigem Umfang von faktisch vorgegebenen und damit kontingenten Lebensordnungen und -orientierungen zu distanzieren, um sie zunächst kritisch auf ihre Legitimität hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern. Als hinfälliges und sterbliches Mängelwesen[2] bleibt der Mensch nach Marquard stets darauf angewiesen, überwiegend an konventionelle Vorgaben anzuknüpfen und seine konstitutionellen Unzulänglichkeiten zu kompensieren – eine Argumentation, die ihn unmissverständlich als Konservativen ausweist.

Auf der Grundlage dieser anthropologischen Annahmen formuliert Marquard seine skeptisch motivierte Forderung nach einem „Abschied vom Prinzipiellen“ in der Philosophie, sein pluralistisches „Lob des Polytheismus“ und der Gewaltenteilung sowie seine philosophische „Apologie des Zufälligen“. Mit ihnen setzt er sich ausdrücklich in einen Gegensatz zur Gesellschaftskritik der älteren Frankfurter Schule sowie der Diskursethik, die als zeitgenössische Form der geschichtsphilosophischen „Übertribunalisierung“ der menschlichen Lebenswelt kritisiert und durch einen ethischen „Usualismus“ konterkariert wird, der gegenüber politischem Utopismus, totalisierenden Kritikprogrammen und überzogenen Legitimationsforderungen die anthropologisch bedingte „Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten“ sowie die prinzipielle Zustimmungsfähigkeit der modernen bürgerlichen Welt geltend macht.

Wirkungsmächtig wurde insbesondere die Anwendung des Kompensationsgedankens auf die Entstehung und gesellschaftliche Aufgabe der Geisteswissenschaften, mit der Marquard im Eröffnungsvortrag der Jahresversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz am 5. Mai 1985 in Bamberg an Überlegungen Joachim Ritters anknüpfte. Die Geisteswissenschaften hätten die Funktion, die unvermeidlichen Schädigungen der menschlichen Lebenswelt im Zuge des grundsätzlich bejahenswerten Prozesses der gesellschaftlichen Modernisierung auszugleichen:

„Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muß man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr – kompensatorisch – muß erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie. [...] Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften, nämlich als erzählende Wissenschaften.“

Odo Marquard[3]

Werke (Auswahl)

  • Zum Problem der Logik des Scheins im Anschluß an Kant. Über Möglichkeiten und Grenzen einer kompromittierenden Genealogie der Metaphysik. Diss. phil. Freiburg im Breisgau 1954
  • Skeptische Methode im Blick auf Kant. (Symposion Bd. 4) Alber, Freiburg/München 1958, 3. unveränd. Aufl. 1982, ISBN 3-495-44033-X
  • Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Suhrkamp (stw 394), Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-27994-7
  • Abschied vom Prinzipiellen. Reclam (UB 7724), Stuttgart 1981, ISBN 3-15-007724-9
  • Apologie des Zufälligen. Reclam (UB 8351), Stuttgart 1986, ISBN 3-15-008351-6
  • Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse (= Habil. 1962). Dinter, Köln 1987
  • Aesthetica und Anaesthetica. Schöningh, Paderborn 1989, ISBN 3-7705-3750-5
  • Skepsis und Zustimmung. Reclam (UB 9334), Stuttgart 1994, ISBN 3-15-009334-1
  • Glück im Unglück. Fink, München 1995, ISBN 3-7705-3065-9
  • Philosophie des Stattdessen. Reclam (UB 18049), Stuttgart 2000, ISBN 3-15-018049-X
  • Zukunft braucht Herkunft. Reclam (Reihe Reclam), Stuttgart 2003, ISBN 3-15-050040-0
  • Individuum und Gewaltenteilung. Reclam (UB 18306), Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018306-5
  • Skepsis in der Moderne. Reclam (UB 18524), Stuttgart 2007, ISBN 3-15-018524-6

Literatur

  • Arne Jaitner: Zwischen Metaphysik und Empirie. Zum Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Psychoanalyse bei Max Scheler, Theodor W. Adorno und Odo Marquard. Königshausen und Neumann (Epistemata 262), Würzburg 1999, ISBN 3-8260-1722-6
  • Alois Halbmayr: Lob der Vielheit. Zur Kritik Odo Marquards am Monotheismus. Tyrolia (Salzburger theologische Studien 13), Salzburg 2000, ISBN 3-7022-2255-3
  • Rochus Leonhardt: Skeptizismus und Protestantismus. Der philosophische Ansatz Odo Marquards als Herausforderung an die evangelische Theologie. Mohr (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 44), Tübingen 2003, ISBN 3-16-147864-9

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Justus-Liebig-Universität Gießen: Großes Verdienstkreuz für Odo Marquard, 17. März 2008; Abruf am 19. März 2008
  2. Diesen Begriff übernimmt er von Arnold Gehlen.
  3. Odo Marquard: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. Vortrag vor der Westdeutschen Rektorenkonferenz. In: Ders., Apologie des Zufälligen, 1986, S. 105 f.

Weblinks


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