Artikel 23 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland

Artikel 23 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland

Der Artikel 23 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in der Fassung von 1992 wird auch als Europa-Artikel bezeichnet. Im Jahre 1992 wurde er neu eingefügt (BGBl. I 92, 2086) und ersetzte somit den vormaligen[1] Artikel 23, den sogenannten Beitrittsartikel, der 1990 mit der Wiedervereinigung gestrichen wurde. Der Artikel ebnete den Weg für den Vertrag von Maastricht.

Inhaltsverzeichnis

Wortlaut

Artikel 23

(1) Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.

(1a) Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 zugelassen werden.

(2) In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.

(3) Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahme des Bundestages bei den Verhandlungen. Das Nähere regelt ein Gesetz.

(4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären.

(5) Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.

(6) Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren.

(7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

Juristische Bedeutung

Vor der Einfügung des Artikels 23 Grundgesetz erfolgte die Übertragung von Hoheitsrechten auf die supranationalen Gemeinschaften (EAG, EWG, EGKS) nach Maßgabe des Artikel 24 Grundgesetz. Durch die immer stärker werdende politische Verflechtung der Mitgliedstaaten und der anwachsenden Kompetenzen der Gemeinschaften, war die völkerrechtliche Ermächtigungsnorm des Art. 24 GG überdehnt. In ihr war lediglich eine Ermächtigungsgrundlage für eine Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu erblicken. Nicht geregelt wird hingegen in welchen Grenzen, mit welchen Zielen und Grundsätzen dies zu erfolgen hat. Im Hinblick auf die dynamische Entwicklung der EG und der neu geschaffenen Europäischen Union, sowie der Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), war eine dem Artikel 79 Grundgesetz Rechnung tragende Ermächtigungsgrundlage geboten. So steht das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBL. I 2086) im engem Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrages über die Europäische Union (auch als Vertrag von Maastricht bezeichnet), welcher am 1. November 1993 in Kraft getreten ist.

Wichtigste Normierungen sind:

  • Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips
  • Grundrechtsbindung der EU (Bezugnahme auf den Beschluss vom BVerfG Solange II)
  • Angemessene Beteiligung und Mitwirkung der Länder (vgl. Artikel 23 Absätze 2, 4, 5 und 6 Grundgesetz)
  • Verpflichtung zur Mitwirkung an der Verwirklichung und der Entwicklung der Europäischen Union (Staatszielbestimmung)

Es bestand in der Jurisprudenz Uneinigkeit darüber, ob die Übertragung von Hoheitsrechten gemäß dem Artikel 24 GG selbst eine Verfassungsänderung darstellt. Danach bestanden im Wesentlichen zwei Ansichten. Die eine Ansicht sah den Artikel 24 GG als abschließend an und lehnte eine Überprüfung anhand von Artikel 79 GG ab. Die andere Ansicht hingegen hielt Artikel 79 GG parallel für anwendbar. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat im Hinblick auf die Europäische Union diesem Streit ein Ende bereitet: Artikel 23 Absatz 1 Satz 3 GG erklärt explizit den Artikel 79 Absatz 2 und 3 GG für anwendbar.

Der Artikel 23 Abs. 1 S. 2 GG enthält die für die Hoheitsrechtsübertragung maßgebliche Ermächtigungsgrundlage. Der Bund kann demnach mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Die Übertragung bedeutet mithin nicht, dass die Bundesrepublik dauerhaft und für die Zukunft die Kompetenz der Gesetzgebung an die Europäische Union abtritt. Vielmehr verzichtet die Bundesrepublik auf die Wahrnehmung ihrer Kompetenz und duldet und anerkennt die Wirkung der europäischen Rechtsakte.

Symbolkraft des Artikels

Auch wenn der Artikel auf den ersten Blick recht allgemein gehalten ist, so ist er doch einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik und stellt zum ersten Mal ein klares Bekenntnis zur europäischen Einigung auf Grundgesetzebene dar. In diesem Zusammenhang ist er auch ein deutliches Zeichen an die europäischen Nachbarländer, dass ein wiedervereinigtes Deutschland, sich ganz der friedlichen demokratischen Einigung Europas verschrieben hat. Der Würzburger Völkerrechtler Dieter Blumenwitz (1995) weist jedoch trotz aller Integrationsfreundlichkeit darauf hin, dass ein europäisches Zusammenwachsen jeweils an nationales Recht gekoppelt ist: „Die Bundesrepublik kann nicht an der Entwicklung jeder Europäischen Union mitwirken. Sie kann nur ein Europa mittragen, das hinsichtlich seiner wesentlichen Konstitutionsprinzipien die Homogenität mit der nationalen Verfassungswirklichkeit des Grundgesetzes wahrt.“

Fußnoten

  1. Bezieht sich auf Art. 23 in der bis zum 3. Oktober 1990 „beitrittsbedingt“ geltenden und durch Art. 4 Nr. 2 EVertr vom 31. August 1990 (BGBl. II S. 889, 890) aufgehobenen Fassung

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