360°-Feedback

360°-Feedback

Das 360°-Feedback (auch: 360-Grad-Beurteilung, Multi-Rater-Feedback) ist eine Methode zur Einschätzung der Kompetenzen und Leistungen von Fach- und Führungskräften aus unterschiedlichen Perspektiven wie zum Beispiel aus Sicht der Mitarbeiter, der Vorgesetzten, der Kollegen, Teammitglieder oder Kunden (Prinzip der Multi-Perspektivität im Kanon der Verfahren der Management-Diagnostik). Ein besonders einflussreicher Befürworter war Jack Welch, damals Vorstandsvorsitzender (CEO) von General Electric (USA). Er war der Meinung, dass es für ein Unternehmen langfristig am profitabelsten sei, wenn seine Führungskräfte nicht nur von oben, sondern von allen Seiten gute Noten bekämen. Diese Sichtweise verbreitete sich dann im Gefolge der höheren Bedeutsamkeitseinschätzung von soft factors für den betrieblichen Erfolg immer mehr.

Inhaltsverzeichnis

Methode

Unterschied zwischen traditionellem Feedback und dem 360-Grad-Feedback

Die Leistungsbeurteilung von Fach- und Führungskräften ist ein sensibles Problem in Unternehmen, da die finanzielle, persönliche und berufliche Zukunft davon abhängig sein kann.

Die meisten Fach- und Führungskräfte arbeiten mit vielen anderen Stellen oder Menschen innerhalb und außerhalb des Unternehmens zusammen. Der einzelne Vorgesetzte hat daher nur selten die Möglichkeit, seine Mitarbeiter bei der Arbeit zu beobachten und zu beurteilen. Diese Probleme mit den traditionellen Methoden der Leistungsbewertung haben dem 360-Grad-Feedback zu seiner großen Beliebtheit verholfen.

Denn das Verhalten einer Person (Fokusperson) wird hierbei aus verschiedenen Perspektiven beobachtet und anschließend eingeschätzt. Da die Feedbackgeber der verschiedenen Perspektiven (Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten) die betreffende Fokusperson in unterschiedlichen Situationen und Kontexten erleben, können sie spezifische Kompetenz- und Verhaltenseindrücke beisteuern, so dass ein umfassenderes Bild entsteht.[1]

Die Führungskraft soll eine möglichst objektive Einschätzung ihrer Fähigkeiten und ihres persönlichen Leistungsverhaltens bekommen. Ausgehend von dieser, teilweise anonymen, Einschätzung der Stärken und Schwächen durch Andere kann man dann gezielte Maßnahmen zur Kompetenz- und Leistungsverbesserung sowie zur Karriereplanung erarbeiten.

Das 360-Grad-Feedback ist inzwischen zu einem der wichtigsten Instrumente der Führungskräfteentwicklung geworden - insbesondere, wenn es darum geht, die Führungskompetenzen gezielt und effizient zu fördern.[2] Dabei zielen die 360°-Feedbacksysteme, die in der Wirtschaft bereits in den meisten der Top-100-Unternehmen erfolgreich umgesetzt werden, auch auf andere Bereiche ab. Auch in Unternehmen des Gesundheitswesens hat sich das Feedback-Tool inzwischen in seiner praktischen Anwendung als sehr vielversprechend erwiesen (vgl. Dries, Meier & Hecht, 2002).

Geschichte

Der Ursprung des 360-Grad-Feedbacks liegt bei der Wehrmacht[3] , wo es als Vorläufer des heutigen Assessment Centers, dem so genannten Rundgespräch, zur Auswahl von Offizieranwärtern eingesetzt wurde (bereits um 1930). Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass die Meinung der Kameraden die Frontbewährung besser voraussagen konnte als verschiedene Testergebnisse (prädiktive Validität).[4]

Thompson untersuchte bereits im Jahr 1969 die Praxis der Leistungsbewertung in einigen Technologiefirmen und stellte dabei fest, dass die seinerzeit üblichen Praktiken oft als unfair, frustrierend oder sogar zynisch empfunden wurden. Außerdem haben sie selten ihren eigentlichen Zweck erfüllt, nämlich den Beitrag jedes Einzelnen zum Unternehmenserfolg realistisch einzuschätzen und die Motivation zu fördern.

Später wurde das 360-Grad-Feedback (engl. 360-degree feedback) vermehrt in den 1980er Jahren in vielen Firmen in den Vereinigten Staaten zur Leistungsbewertung eingesetzt.[5]

Die Unternehmensberatung TEAMS, Inc. wollte sich den Begriff 360° feedback im Jahr 1991 als Warenzeichen schützen lassen – allerdings erfolgte nach langen Streitigkeiten im Jahr 2004 schließlich eine Stornierung.[6]

Wissenschaftliche Bearbeitung

Eine der ersten Publikationen in der Fachliteratur zu diesem Thema stammt von Nowack aus dem Jahr 1993.[7] Zu den Vorläufern des 360-Grad-Feedbacks kann man die Arbeiten von Levinson aus dem Jahr 1976[8] („Upward Appraisal“) oder von Clark Wilson aus dem Jahr 1980 (Multi-Level Management Survey) zählen.[9]

Seither erscheinen etwa 20 Publikationen pro Jahr allein in der deutschen und englischsprachigen Wirtschaftspresse (LexisNexis-Datenbank). Empirische Studien konnten zeigen, dass 360-Grad-Feedbacks bei Führungskräften zu Kompetenzverbesserungen führen (Scherm, 2007). Gleichwohl nehmen sich die Effekte statistisch gesehen eher bescheiden aus (Hazucha et al., 1993; Smither et al., 2005). Dies dürfte v.a. zwei Gründe haben: Zum einen zeigen die Feedbackergebnisse den Fokuspersonen in aller Regel nicht nur ihre Stärken, sondern gerade auch ihre Schwächen auf. Allein die Erkenntnis um die eigenen Schwächen (euphemistisch „Entwicklungsbedarfe“) ohne Angebote weiterer Unterstützung wie Coaching oder Supervision hilft aber offenbar nicht weiter. Erst die Kombination des Feedbacks mit individuell zugeschnittenen Entwicklungsmaßnahmen führt zu den gewünschten Kompetenzentwicklungen – dies jedenfalls ergeben die wenigen bis dato verfügbaren Studien (u.a. Luthans & Peterson, 2003; Smither et al., 2003).

Zum anderen spielt der Einsatzzweck des 360-Grad-Feedbacks eine große Rolle: Wird der Feedbackprozess ausdrücklich zur Entwicklung von Führungskräften initiiert, stellen sich deutlich positivere Effekte ein, als wenn dies aus Anlass von „offiziellen“ Leistungs- oder Regelbeurteilungen geschieht (Smither et. al., 2005).

Inzwischen existiert eine unüberschaubare Vielfalt an Varianten, Methoden und Einsatzzwecken, so dass man von „dem“ 360-Grad-Feedback gar nicht sprechen kann.[10] Und wie jedes andere Instrument kann es mehr oder weniger professionell eingesetzt werden. Die Qualität der Ergebnisse ist daher in erster Linie nicht von dem Instrument abhängig, sondern von deValidität und Reliabilität des Fragebogens und somit der Qualifikation der Personen, die es einsetzen (siehe auch Abbildung 2).[11]

Praxis

Einflussfaktoren des 360-Grad-Feedbacks

Prewitt[12] hat folgende Erfolgsfaktoren für die Anwendung des 360-Grad-Feedbacks herausgearbeitet:

  • Man sollte nicht mit der Leistungsbewertung, sondern mit der persönlichen Entwicklung beginnen – oder zumindest beides trennen, weil das Instrument bei vielen Betroffenen Ängste auslösen kann, wenn sie nicht gewohnt sind, damit umzugehen.
  • Man sollte mit einer kleinen, überschaubaren Abteilung beginnen, die für ein solches Vorgehen geeignet erscheint (wenn zum Beispiel ein offenes Klima existiert, weil damit eine Kulturänderung verbunden ist). Denn nur eine hinreichende Vertrauensbasis zwischen den Beteiligten sorgt für verlässliche und aussagekräftige Daten.
  • Es geht nicht um Vergangenheitsbewältigung, oder „Aburteilung“ von Mitarbeitern, sondern um die Verwirklichung klarer Ziele des Unternehmens, die für jeden nachvollziehbar sind.
  • Die Einführung erfordert umfangreiches Training aller Betroffenen, insbesondere den Umgang mit den verwendeten Fragebögen.
  • Die Berichte, die meist in Form statistischer Auswertungen automatisch erstellt werden, müssen unbedingt erläutert, in den persönlichen Entwicklungsplan integriert und mit dem Vorgesetzten abgestimmt werden.
  • Man sollte ein 360-Grad-Feedback nicht in Krisenzeiten einführen, wenn zum Beispiel Entlassungen oder Umstrukturierungen anstehen.

Die Beachtung dieser Empfehlungen ist wichtig, damit die Vorteile und der Nutzen des 360-Grad-Feedbacks wirksam werden [13]. Außerdem sollte man bestimmte Erfolgsvoraussetzungen beachten, sonst besteht die große Gefahr, dass die Nachteile überwiegen. Dies versucht Abbildung 2 zu veranschaulichen (Fazit).

Belege

  1. Thompson, P.H. & Dalton, G.W., Performance appraisal: Managers beware, in: Harvard Business Review, January-February 1970
  2. Lepsinger, R. & Lucia, D., The art and science of 360 degree feedback, 2nd ed., San Francisco 2009
  3. Fleenor, J. & Prince, F., Using 360-degree-feedback in organizations, Center for Creative Leadership, Greensboro, 1997, S. 51
  4. Hofstätter, P., Gruppendynamik, Hamburg 1971, S. 153
  5. Carson, M., Saying it like it isn't: The pros and cons of 360-degree feedback, in: Business Horizons (2006) 49
  6. United States Patent and Trademark Office
  7. Nowack, K.M., 360-degree feedback: The whole story, Training and Development, January 1993
  8. Levinson, H., Appraisal of what performance?, in: Harvard Business Review, July-August 1976
  9. Wilson, C.L., Assessing management and od needs, in: Training and Development Journal, April 1980
  10. Tourish, D., and Robson, P., Sensemaking and the distortion of critical upward communication in organizations, in: Journal of Management Studies, 2006, vol. 43, issue 4
  11. Peiperl, M. A., Getting 360° feedback right, in: Harvard Business Review, January 2001
  12. Prewitt, E., Should you use 360° feedback for performance reviews? In: Harvard Management Update, February 1999
  13. Collins, E., 360° Mentoring, in Harvard Management Update, March 2008

Literatur

  • Carson, M., Saying it like it isn’t: The pros and cons of 360-degree feedback, in: Business Horizons 2006 vol. 49, 395-402
  • Collins, E., 360° Mentoring, in: Harvard Management Update, March 2008
  • Dries, C., Meier, B. & Hecht, L. (2002). Führungskräfte brauchen Ehrlichkeit. MediCircle®: 360-Grad-Feedback im Gesundheitswesen. führen und wirtschaften im Krankenhaus, 19 (6), 614-616. Praxisstudie als pdf
  • Edwards, M.R. & Ewen, A J., 360° feedback - The new model for employee assessment & performance improvement, New York, 1996
  • Fleenor, J. & Prince, F., Using 360-degree-feedback in organizations, Center for Creative Leadership, Greensboro, 1997
  • Hazucha, J.F. et. al., The impact of 360-degree feedback on management skills development, in: Human Resource Management, 1993, vol. 93, No. 2 & 3
  • Hofstätter, P.R., Gruppendynamik, Hamburg 1971
  • Lepsinger, R. & Lucia, D., The art and science of 360 degree feedback, 2nd Ed., San Francisco 2009
  • Levinson, H., Appraisal of what performance? In: Harvard Business Review, July-August 1976
  • Luthans, F. & Peterson, S.J., 360-degree feedback with systematic coaching: Empirical analysis suggests a winning combination, in: Human Resource Management, 2003, vol. 42,
  • Nowack, K.M., 360-degree feedback: The whole story, in: Training and Development, January 1993
  • Prewitt, E., Should you use 360° feedback for performance reviews? In: Harvard Management Update, February 1999
  • Peiperl, M.A., Getting 360° feedback right, in: Harvard Business Review, January 2001
  • Scherm, M., 360-Grad-Beurteilungen: Diagnose und Entwicklung von Führungskompetenzen. Göttingen, 2005 Artikel zum Download (PDF)
  • Scherm, M., 360-Grad-Beurteilung, in: H. Schuler & Kh. Sonntag (Hrsg.), Handbuch der Psychologie, Band Arbeits- und Organisationspsychologie (S. 555-560), Göttingen, 2007
  • Scherm, M. & Sarges, W., 360°-Feedback, Göttingen, 2002
  • Smither, J.W., London, M. & Reilly, R.R., Does performance improve following multisource feedback? A theoretical model, meta-analysis, and review of empirical findings, Personnel Psychology, 2005, vol. 58
  • Smither, J.W., London, M., Flautt, R., Vargas, Y. & Kucine, I., Can working with an executive coach improve multisource feedback ratings over time? A quasi-experimental field study, in: Personnel Psychology, 2003, vol. 56
  • Thompson, P.H. & Dalton, G. W., Performance Appraisal: Managers Beware, in: Harvard Business Review, January-February 1970
  • Tourish, D. & Robson, P., Sensemaking and the distortion of critical upward communication in organizations, in: Journal of Management Studies, 2006, vol. 43, Issue 4
  • Wilson, C.L., Assessing management and od needs, in: Training and Development Journal, April 1980

Weblinks


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