Art Brut

Art Brut
Bild von Adolf Wölfli
Brief einer Psychiatriepatientin 1909 aus der Sammlung Prinzhorn

Art Brut (franz. für ‚unverbildete, rohe Kunst‘) ist ein Sammelbegriff für autodidaktische Kunst von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung. Die Bezeichnung ging vom französischen Maler Jean Dubuffet aus, der sich eingehend mit einer naiven und antiakademischen Ästhetik beschäftigte. Art Brut ist weder eine Kunstrichtung noch eine Stilbezeichnung, sondern beschreibt eine Kunst jenseits etablierter Kunstformen und -strömungen[1]. Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist stattdessen der Begriff Outsider Art („Außenseiter-Kunst“) gebräuchlich.

Im deutschsprachigen Raum veröffentlichte der Psychiater Walter Morgenthaler bereits 1921 sein Buch über Adolf Wölfli Ein Geisteskranker als Künstler, das erstmals einen an Schizophrenie leidenden Patienten als Künstler ernst nahm.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Der Begriff Art Brut steht in Zusammenhang zu Jean Dubuffets kunsttheoretischen Anschauungen, und stilistische Anlehnungen sind in seinem Werk unübersehbar. Oft werden fälschlicherweise Dubuffets eigene Werke als Art Brut charakterisiert, wichtiger ist jedoch die Verbindung zu seiner Tätigkeit als Sammler. Der Künstler betrachtete die Prägung Art Brut als sein geistiges Eigentum und behielt sich vor, sie eigenständig zu vergeben oder abzuerkennen, etwa im Falle von Gaston Chaissac. Dieser Alleinvertretungsanspruch sowie die Eingrenzung auf seine eigene Sammlung – die Collection de l'art brut – wurden schon früh von André Breton und später Harald Szeemann kritisiert. Michel Thévoz und Lucienne Peiry, die Kuratoren der Sammlung in Lausanne, lassen Art Brut als Stilbegriff weiterhin ausschließlich für diese Werke gelten und stellen ihn damit in Konkurrenz zu anderen Bezeichnungen für marginalisierte künstlerische Ausdrucksformen: „Bildnerei der Geisteskranken“ (Hans Prinzhorn), „Zustandsgebundene Kunst“, „Naive Kunst“. Trotz ihrer Offenheit und Unschärfe hat sich die Bezeichnung Art Brut international durchgesetzt und wesentlich zur Anerkennung marginalisierter Kunstformen beigetragen.

In den anglo-amerikanischen Ländern ist neben der Bezeichnung Outsider Art, die vom englischen Kunsthistoriker Roger Cardinal eingeführt wurde, außerdem Visionary art und Self-taught art verbreitet. Insbesondere nach der umfassenden Wanderausstellung Outsiders, die Cardinal gemeinsam mit dem Künstler und Sammler Victor Musgrave 1979 für das Arts Council of Great Britain organisiert hatte.

Einher mit diesem kulturellen Anerkennungsprozess ging in den letzten Jahrzehnten die intensive und erfolgreiche Förderung von künstlerischem Arbeiten zu therapeutischen Zwecken, etwa durch den Psychiater Leo Navratil im Künstlerhaus Gugging in Klosterneuburg bei Wien oder durch La Tinaia – Centro di Attività Espressive in Florenz. Mittlerweile spezialisiert sich ein eigenes Segment des Kunsthandels für Art Brut bei internationalen Messen, zum Beispiel die Kunstköln oder die New Yorker Outsider Art Fair[2]. Außerdem erscheinen regelmäßig Magazine, etwa die englische Zeitschrift Raw Vision, die sich auf Art Brut beziehen[3]. Seit 2000 gibt es den Euward, den Europäischen Kunstpreis Malerei und Graphik für Künstler mit geistiger Behinderung.

Collection de l'Art brut

1947 gründete Dubuffet mit einem Kreis von Gleichgesinnten, unter anderen dem Surrealisten André Breton, in Paris die Compagnie de l'Art brut, deren Ziel es war, alternative Kunst zu dokumentieren und zu sammeln. Im Untergeschoss der Pariser Galerie von René Drouin kam es zu Einzelausstellungen mit Werken von Adolf Wölfli, Aloïse Corbaz und anderen.

Im Jahr 1949 wurden dort 200 Werke von 63 Künstlern unter dem Titel Art brut préferé aux arts culturels präsentiert. Im Katalog definierte Dubuffet die Art Brut als subversive, alternative Kunstform abseits der erstickenden „kulturellen Künste“. In diesem als Manifest konzipierten Text betonte er auch, dass Art Brut jenseits kultureller Normen nicht automatisch identisch mit psychopathologischen Schöpfungen ist: „Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken.“

1951 löste Dubuffet den Verein auf und verlegte die Sammlung nach East Hampton in die USA, wo sie der Künstler Alfonso Ossorio betreute. 1962 kehrte sie nach Paris zurück und wurde 1967 im Museum Musée des Arts décoratifs ausgestellt.

In den folgenden Jahren wuchs die Anzahl der Werke beträchtlich. 1975 schenkte er seine mittlerweile auf 15.000 Objekte angewachsene Sammlung der Stadt Lausanne, wo sie seit 1976 in einem öffentlichen Museum, der Collection de l'art brut, ausgestellt wird. Gründungsdirektor war Michel Thévoz, mittlerweile wird das Museum von Lucienne Peiry geleitet.

Ausstellung

Wichtige Vertreter der Art Brut

Einzelnachweise

  1. http://www.outsider-bildwelten.de/ outsider-bildwelten: Outsider Art; Z.3f
  2. (siehe dazu Röske et al. 2006)
  3. Raw Vision

Literatur

  • Paolo Bianchi (Hrsg.): Bild und Seele - über Art brut und Outsider-Kunst. - Köln : Kunstforum International, 1989. (= Kunstforum international Bd. 101)
  • Ingried Burgger, Peter Gorsen, Klaus Albrecht Schröder (Hrsg.): Kunst & Wahn, Köln: Dumont, 1997. ISBN 3-7701-4273-X | ISBN 3-7701-4274-8
  • Roger Cardinal; Victor Musgrave: Outsiders - An Art Exhibition without Precedent or Tradition, Katalog Hayward Gallery, London 1979. ISBN 0-7287-0190-1
  • Turhan Demirel: Outsider Bilderwelten, Titz: Peters Verlag, 2006. ISBN 3-939691-44-5
  • Claudia Dichter, Outsider Art. Collection Charlotte Zander, Bönningheim: Museum Charlotte Zander, 1999 ISBN 3-926318-31-7
  • Jean Dubuffet, Art brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst (1949). In: Derselbe, Malerei in der Falle. Antikulturelle Positionen. Schriften Bd. 1, Bern-Berlin: Gachnang & Springer, 1991, S. 86–94, ISBN 3-906127-24-9
  • Leonhard Emmerling, Die Kunsttheorie Jean Dubuffets, Heidelberg: Wunderhorn, 1999, ISBN 3-88423-160-X
  • Michael Krajewski, Jean Dubuffet. Studien zu seinem Frühwerk und zur Vorgeschichte der Art brut, Osnabrück: Der Andere Verlag, 2004, ISBN 3-89959-168-2
  • Ferenc Jádi, Identität und Ausdruck, in: W. Beudels, R. Hammer (Hg.): Bewegung in der Lebensspanne - Festschrift für Gerd Hölter, Lemgo 2008, S.23 - 62.
  • John Maizels: Raw Creation - outsider art and beyond. - London: Phaidon, 1996. ISBN 0-7148-3149-2
  • Jean Hubert Martin (Hrsg.): Im Rausch der Kunst. Dubuffet & Art brut. Ausstellungs-Katalog Museum Kunst Palast, Düsseldorf. - Mailand: 5Continents, 2005, ISBN 88-7439-227-3
  • Leo Navratil: Art brut und Psychiatrie Gugging 1946–1986, Bd. I u. II, Verlag Christian Brandstätter: Wien 1999, ISBN 3-85447-716-3 | ISBN 3-85447-720-1
  • Lucienne Peiry, L’Art Brut. Die Träume der Unvernunft, Jena: Glaux, 1999, ISBN 3-931743-28-4 Unveränderter Neudruck als: Art Brut. Jean Dubuffet und die Kunst der Außenseiter Paris: Flammarion, 2005, ISBN 2-08-021029-7
  • Gerd Presler, L'Art brut. Kunst zwischen Genialität und Wahnsinn, Köln: Dumont, 1981, ISBN 3-7701-1307-1
  • Thomas Röske, Bettina Brand-Claussen, Gerhard Dammann, wahnsinn sammeln - collecting madness. - Heidelberg: Wunderhorn, 2006. ISBN 978-3-88423-265-1
  • Michel Thévoz, Art Brut. Kunst jenseits der Kunst, Aarau: AT Verlag, 1990, ISBN 3-85502-386-7
  • Martina Weinhart, Max Hollein: Weltenwandler. Die Kunst der Outsider, Deutsch/Englisch; Hatje Cantz, Ostfildern 2010 ISBN 978-3-7757-2686-3

Kritische Positionen zur Art brut

Weblinks

Allgemein

 Commons: Art Brut – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Sammlungen

Kunstpreis

Ausstellung


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