Neurasthenie

Neurasthenie
Klassifikation nach ICD-10
F48.0 Neurasthenie
ICD-10 online (WHO-Version 2011)

Neurasthenie (Nervenschwäche; von νεuρóς, neuros, „Nerv“, und ασθήνος, asthènos, „Schwäche“) ist eine im ICD-10 enthaltene psychische Störung. Sie wird im Deutschen häufig auch als „reizbare Schwäche“ bezeichnet. Mit dieser Benennung kommt die gerade in Deutschland verbreitete Beziehung zum Brownianismus zum Ausdruck, einer allgemeinen Krankheitstheorie, die insbesondere auch zum Verständnis der Symptome bzw. der Therapie im Falle der Neurasthenie beiträgt.[1]

Inhaltsverzeichnis

Symptome

Hauptsymptom der Neurasthenie ist die Erschöpfung und Ermüdung, die entweder durch eine zu geringe Belastbarkeit durch äußere Reize und Anstrengungen oder auch durch zu geringe oder zu monotone Reize selbst verursacht sein kann. Neben Ermüdung, Ängstlichkeit, Kopfschmerzen, Impotenz bei Männern und Frigidität bei Frauen, Neuralgie, Konzentrationsstörungen, Freudlosigkeit und Melancholie sind daher auch Unfähigkeit zu entspannen, Spannungskopfschmerz und erhöhte Reizbarkeit zu nennen. Die Symptomatik ist als variabel zu bezeichnen. Es besteht eine kulturelle und gesellschaftliche Eigenart von Symptomen.[2]

Therapie

Neurasthenie gehörte nicht nur zu den Modekrankheiten einer gehobenen Gesellschaftsschicht, weil das Odium der körperlichen Entartung und der Endogenität seelischer Beschwerden durch die dynamische Sichtweise der Krankheit ganz außer Acht gelassen wurde, sondern vor allem, weil eine Abwechslung verheißende und nach den Prinzipien des Brownianismus anregende Behandlung im Kurverfahren von Betroffenen vielfach als äußerer Aufschwung angesehen wurde. Diese therapeutischen Konsequenzen folgten einer bei dieser Krankheitsgruppe besonders verbreiteten Einstellung des Krankheitsgewinns. In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, dass die anfänglichen Vorstellungen der Behandlung gerade von Beard, einem Elekrotherapeuten ausgingen, auch wenn es sich hier ursprünglich nur um einfache Reizstromanwendungen als einer somatischen Behandlungsform handelte (Somatotherapie).[3]

Geschichte

Es gibt seit der Antike Beschreibungen, welche die genannten Symptome unter Melancholie und Hypochondrie zusammenfassten. Das Phänomen des „Nervösen“ war bereits im Zeitalter der Empfindsamkeit durch die physiologische Literatur des 18. Jahrhunderts und die darauf folgenden Auseinandersetzungen zwischen Psychikern und Somatikern in die wissenschaftliche Diskussion zusammen mit der moralischen Behandlung eingeführt worden. Auch hier wurde die bereits auf die später von George Miller Beard favorisierte soziologische Betrachtung von Krankheiten erstmals hingewiesen, so z. B. von George Cheyne (1671-1743), der die Engländer als besonders „nervös“ ansah und daher von „English Malady“ sprach.[4] Insbesondere der Brownianismus hatte die krankheitsauslösende Bedeutung von zu schwachen und zu starken nervösen Reizen betont (Gegensätzlichkeit von Stenie und Asthenie).[1] Die Bezeichnung Neurasthenie wurde von Miller Beard 1869 zwar nicht geprägt, aber sie fand durch ihn und seine ab diesem Zeitpunkt erscheinenden Schriften eine äußerst weite inneramerikanische und internationale Verbreitung.[5] Dem geschichtlichen Trend seiner Zeit folgend führte Beard die Symptome nervöser Erschöpfung auf Mangel an bestimmten chemischen Elementen zurück wie z. B. Phosphor und begünstigte damit den in dieser Zeit eifrig aufgegriffen Gedanken der medizinischen Kurbehandlung einschließlich der Anwendung von Diät.[6][3] Beard leitete aber auch ein weiteres Umdenken insofern ein, indem er die Krankheit mit dem „Amerikanischen Lebensstil“ in Zusammenhang brachte und somit dem Gedanken einer soziologischen Betrachtungsweise von Krankheit weitere Beachtung verschaffte.[7] Auch der später u. a. von Sigmund Freud und Richard von Krafft-Ebing aufgegriffene Gesichtspunkt der Sexualmoral wurde von Beard in einer eigenen Schrift abgehandelt.[8] Zu dieser Zeit wurden psychische Störungen von Neurologen wie z.B. Dubois-Reymond, Remak, Waller und Magendie überwiegend als körperlich verursacht interpretiert. Freud grenzte 1895 von der Neurasthenie die Angstneurose ab, siehe das folgende Kap. Freud. Zeitgleich mit ihm legte Krafft-Ebing auch soziologischen Aspekten eine wichtige Bedeutung bei.[9] Heute wird die Neurasthenie z.T. als neurotisch, funktionell oder psychosomatisch mitverursacht beschrieben.[10] Der Niedergang der Bezeichnung Neurasthenie hängt mit deren zunehmender Psychiatrisierung zusammen, ähnlich der Bezeichnung Neurose, die ursprünglich ein somatischer Kampfbegriff gegen die von Psychikern vertretene moralisierende Betrachtungsweise darstellte. Vielfach kam anstelle der Bezeichnung Neurasthenie die Bezeichnung Psychasthenie auf.[11]

Freud

Als typische Symptome der Neurasthenie betrachtete Freud in seinen frühen Schriften den Kopfdruck, die Spinalirritation und die Dyspepsie mit Flatulenz und Obstipation. Er war jedoch eher wenig davon überzeugt, dass es sich bei dieser weit verbreiteten Bezeichnung der Neurasthenie um eine spezifische Krankheitseinheit handelt, insbesondere hinsichtlich ihrer Ätiologie und des „Mechanismus“ ihrer Auslösung. Er schrieb daher: „Es ist schwierig, etwas Allgemeingültiges von der Neurasthenie auszusagen, solange man diesen Krankheitsnamen all das bedeuten läßt, wofür Beard ihn gebraucht hat.“ Differentialdiagnostisch grenzte schon Freud die von der Symptomatik her recht ähnlichen, jedoch von der Entstehung zu unterscheidenden organisch bedingten Pseudoneurasthenien und die depressiven bzw. zyklothymen Störungen vom allgemeinen neurasthenischen Beschwerdebild ab. Sein Augenmerk richtete er in einer eigenen Schrift auf die Abgrenzung von Neurasthenie und Angstneurose.[12] In einer speziellen Falldarstellung definiert Freud die Neurasthenie auch als mit Angstneurose behaftete Hypochondrie. Es ist von psychiatriegeschichtlichem Interesse, dass in diesem Falle bei Fräulein v. R... eine Reizstrombehandlung nach dem Muster von Beard durchgeführt wurde.[13] Hypochondrie ist nach Freud die auf eine Krankheit bezogene ängstliche Erwartung, der gewisse körperliche Missempfindungen vorausangehen.[12] Da Freud von der Bedeutung der Sexualität bei der Diagnose und Behandlung der Hysterie überzeugt war, sah er auch bei den übrigen Neurosen ähnliche Auslösungsmechanismen.[12] Freud sah das Spezifische der Angstneurose in der Ablenkung der von somatischen Quellen herrührenden Sexualerregung von dem normalen Ziel der Befriedigung durch den Sexualpartner. Entscheidend für die fehlende Befriedigung sei die Entfremdung zwischen somatischen und psychischen Abläufen.[12] Sexuelle Befriedigung sah er aber als psychisches Moment an. Als energetisches Äquivalent der Sexualerregung betrachtete Freud die Libido. Die Mechanismen, die demnach zur Auslösung der Angstneurose führten, waren für Freud bestimmte u.a. auf Verhütung einer Schwangerschaft gerichtete Praktiken des Koitus wie z. B. Coitus reservatus oder Coitus interruptus. Nicht aber die Furcht vor der Schwangerschaft, sondern vielmehr das rein psychologische Moment der sexuellen Befriedigung sei für die Auslösung der Angstneurose verantwortlich, da auch Frauen, die gegenüber der Folge einer Schwangerschaft unbesorgt seien, zur Entwicklung von Angstneurosen neigten.[12] Zur Angstneurose führen also alle diejenigen Momente, die eine psychische Verarbeitung der somatischen Sexualerregung verhindern. Neurasthenie hingegen war für Freud hauptsächlich durch Erschöpfung der Libido durch gewohnheitsmäßige Masturbation hervorgerufen.[12] Freud zählte die Neurasthenie neben Angstneurose und Hypochondrie zu den drei Aktualneurosen. Diese Gruppe von Neurosen hielt er verursacht durch eine inadäquate Verarbeitung der seelischen Energie (Libido). Erst mit seiner zweiten Angsttheorie (Signalangst) räumte Freud die Entstehung von Angstneurosen in Abhängigkeit von innerseelischen Faktoren ein. Angstneurose war damit nicht nur eine äußerliche Fehlverarbeitung von Erregungsreizen, sondern auch ein Ergebnis der mangelhaften Ich-Organisation. Freud erwies sich mit diesen Auffassungen als Nachfolger in der Tradition der moralischen Behandlung. Aus heutiger Sicht ist die psychische Komponente bei der Auslösung der Angstneurose wohl eher in der häufig vorkommenden Verlustangst gegenüber einer Bezugsperson zu sehen.[14]

Quellen

  1. a b Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. [1969] Fischer Taschenbuch, Bücher des Wissens, Frankfurt / M 1975, ISBN 3-436-02101-6; Seite 64
  2. Dilling, H. et al. (Hrsg.), Weltgesundheitsorganisation: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F), Hans Huber Verlag, Göttingen, 21993, ISBN 3-456-82424-6; Seite 192 f.
  3. a b Shorter, Edward A historical Dictionary of Psychiatry. Oxford University Press, New York, 12005, ISBN 0-19-517668-5, Seite 29, 38, 187 f.; Text online
  4. Cheyne, George: The English Malady; or, A Treatise of Nervous Diseases of All Kinds, as Spleen, Vapours, Lowness of Spirits, Hypochondriacal and Hysterical Distempers, Dublin, 1733. Facsimile ed., ed. Eric T. Carlson, M.D., 1976, Scholars' Facsimiles & Reprints, ISBN 9780820112817;
  5. Beard, George Miller: Neurasthenia, or nervous exhaustion. The Boston Medical and Surgical Journal: (1869) 217–221
  6. Beard, George Miller: A practical treatise on Nervous Exhaustion (Neurasthenia). (1880)
  7. Beard, Georg Miller: American nervousness, with its causes and consequences. A Supplement to Nervous Exhaustion (Neurasthenia). 1881 – dt. von Neisser 1881
  8. Beard, George Miller: Sexual Neurasthenia. (1884)
  9. Krafft-Ebing, Richard, Freiherr von: Nervosität und neurasthenische Zustände. (1895), siehe dort das ätiologische Kap. „Sociologische oder allgemein prädisponierende Ursachen“
  10. Ackerknecht, Erwin H.: Kurze Geschichte der Psychiatrie. Enke Verlag, Stuttgart 3. Auflage 1985, ISBN 3-432-80043-6, Seiten 30, 81 f., 99
  11. Janet, Pierre: Les obsessions et la psychasthénie. Paris 11900, 21908
  12. a b c d e f Freud, Sigmund: Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als »Angstneurose« abzutrennen. [1895 b] in: Gesammelte Werke, Band I (Studien über Hysterie - Frühe Schriften zur Neurosenlehre), S. Fischer, Frankfurt / M, 31953, ISBN 3100227034; (a) Titelblatt: Seite 313 ff.; (b) Definition "Hypochondrie": Seite 318; (c) Vermutete Bedeutung der Sexualität als auslösender Faktor für alle Neurosen: Seite 332; (d) Somatischer und psychischer Pol der Angstzustände: Seite 337; (e) Psychische Faktoren bei der Auslösung von Angstneurosen: Seite 333; (f) Gegenüberstellung auslösender Bedingungen bei Angstneurose und Neurasthenie: Seite 335 f.
  13. Freud, Sigmund: Studien zur Hysterie. Kap. D, Fräulein Elisabeth v. R... [1925] in: Gesammelte Werke, Band I (Studien über Hysterie - Frühe Schriften zur Neurosenlehre), S. Fischer, Frankfurt / M, 31953, ISBN 3100227034; Stichwort „Neurastheniker“ Seite 197
  14. Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuerer Perspektiven. © 1982 Kindler, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt 1992, ISBN 3-596-42239-6; Seite 171 ff., 180 f.

Literatur

  • Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. (1912) Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2007–2009, Studienausgabe Bd. 2 Herausgegeben von Karl Heinz Witte, Almuth Bruder-Bezzel und Rolf Kühn. ISBN 978-3-525-46053-5, oder Fischer Taschenbuch 1972
  • Eckart, Wolfgang: Die wachsende Nervosität unserer Zeit. Medizin und Kultur um 1900 am Beispiel einer Modekrankheit. in: Gangolf Hübinger, Rüdiger vom Bruch und Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. II: Idealismus und Positivismus. Franz Steiner Verlag, Stuttgart ©1997, Seite 207 ff. Textauszüge online

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