Neue Unterschicht

Neue Unterschicht

Neue Unterschicht ist ein in der öffentlichen Meinung umstrittenes politisches Schlagwort, mit dem die Herausbildung einer Bevölkerungsgruppe beschrieben wird, welche über am wenigsten Geld, Güter, Bildung und Sozialprestige verfügt. Als das spezifisch Neue an dieser Unterschicht wird dabei gesehen, dass sie im Vergleich zum Proletarier meist auch über mehrere Generationen hinweg ohne Arbeit ist.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

„Neue Unterschicht“ überschneidet sich oft mit dem Begriff des Prekariats. Beide haben soziologisch unterschiedliche Ausgangspunkte: „Neue Unterschicht“ gehört zunächst wie die „alte“ Unterschicht (siehe unten) in die Debatte zur Sozialen Schichtung, während „prekäre“ soziale Rollen überall in der gesamten Sozialstruktur (sogar in der Oberschicht) vorkommen können (z. B. ruinierte Adelige, ewige Privatdozenten, bankrotte Unternehmer, auftragslose Künstler). Man kann „Neue Unterschicht“ zudem – trotz Verwendung des „Schicht“-Begriffes – der kulturalistischen Klassentheorie zuordnen.

Paul Nolte macht in seiner Schrift Generation Reform[1] von 2004 eine kulturelle Spaltung der „Neuen Unterschicht“ von der Mehrheitsgesellschaft aus. Die Spaltung hatten verschiedene Forscher (M. Rainer Lepsius, Josef Mooser, Luidgard Trommer-Krug u. a.) bereits in den 1970er und 80er Jahren in der Lebensstil- und Ungleichheitsforschung festgestellt. Jörg Ueltzhöffer und Berthold Flaig fassten 1980 in ihrem Modell der Sozialen Milieus dieses zum Begriff des „Traditionslosen Arbeitermilieus“ zusammen.

Debatte über die Neue Unterschicht in den USA

Nach Wilson (1987) ist das Entstehen der neuen Unterschicht durch den Wegfall von Jobs für Ungelernte und räumliche Segregationsprozesse bedingt. Dadurch, dass die Mittelschicht bestimmte Stadtviertel verlasse, verlören die noch dort Verbliebenen den Kontakt zu Personen und Institutionen, die sie an der Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft teilhaben lassen. Für Wilson ist die Unterschicht eine heterogene zusammengesetzte Gruppe von Personen, die nicht mehr am Beschäftigungssystem teilhaben.[2] Weitere Kriterien seien die Kumulation von Benachteiligungen (sozialstaatliche Alimentierung, Infrastruktur, fehlende Ausbildung, kulturelle Verwahrlosung) und die familiäre Reproduktion von Ausgrenzung. Der Ansatz stieß auf Kritik , denn er konstruiere „eine Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft“ und diffamiere die Personen, die zur Gruppe der „Neuen Unterschicht“ gerechnet werden.[3]

Zentrale Protagonisten der amerikanischen Debatte waren Ken Auletta (der 1982 das Buch The underclass veröffentlichte) und Charles Murray (der 1984 Losing Ground veröffentlichte). Beide behaupten, dass ein Proletariat existiere, das sich bewusst von den Werten der übrigen Gesellschaft absetze und eigene Wertesystem entwickelt habe. Zu dieser Unterschicht zählen nach den Angaben der Autoren Drogen- und Alkoholabhängige, entlassene Strafgefangene, psychisch Kranke, Obdachlose, Wohlfahrtsbezieher, Schulschwänzer, illegale Einwanderer und minderjährige Mütter. Zum Inbegriff der Unterschicht wurde die minderjährige, farbige, alleinerziehende Mutter im Sozialhilfebezug, die so genannte Welfare Queen. Die Unterschicht zeichne sich durch gemeinsame bad values aus, die dadurch entstanden seien, dass die unteren Bevölkerungsschichten durch zu großzügige staatliche Unterstützung korrumpiert worden seien.[4]

Ansätze in den Sozialwissenschaften

Soziologischer Ausgangspunkt

Die Soziologie definiert eine Schicht u. a. nach Einkommen und sozialem Status gesellschaftlicher Gruppen, die folgende Gemeinsamkeiten haben:

  • eine signifikante Größe,
  • eine andauernde soziale Lage
  • Weitergabe an ihre Nachkommen („soziale Vererbung“) – doch sind sozialer Aufstieg und Abstieg aus ihr nicht ausgeschlossen.

In diesem Rahmen fasste die „Unterschicht“ Kleinbauern, Knechte, Arbeiter, einfache Angestellte, Seeleute, Gesinde u. a. zusammen – oft auch noch unterteilt in „Untere“ und „Obere Unterschicht“. (→ Proletariat und Arbeiterklasse) Unter der Unterschicht wurden gelegentlich auch noch die „Sozial Verachteten“ (Harriett B. Moore) bzw. das „Lumpenproletariat“ platziert.

Der laufende deutsche Diskurs (etwa Paul Nolte und Heinz Bude) hat auch Fragestellungen aus den USA aufgenommen.

Interpretative Demoskopie

Nach der Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung auf Datenbasis von TNS Infratest – eigentlich über SPD-Wählerpotential – gehören acht Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland zum sogenannten „abgehängten Prekariat“. Frank Karl von der Friedrich-Ebert-Stiftung betonte, dass der Begriff „neue Unterschicht“ in der Studie fehle. Der Begriff ,neue Unterschicht‘ als Synonym für ,abgehängtes Prekariat‘ wurde erstmals von Bild am Sonntag benutzt.[5]

Die Lebensstil- und Ungleichheitsforschung wurde bereits in den 1970er Jahren auf sie aufmerksam. In der Markt-, Medien-, Kommunikations- und Sozialforschung erlebte seit 1980 unter verschiedenen Bezeichnungen (SIGMA-Milieus, SINUS-Milieus) das Modell der Sozialen Milieus von Jörg Ueltzhöffer und B. Flaig einen Siegeszug ohnegleichen. Im SINUS-Milieu-Modell wurde die Unterschicht zunächst als „Traditionsloses Arbeitermilieu“ bezeichnet.

Früher diente das Milieu der traditionslosen Arbeiter als Arbeitskraftreserve. Trotz gesetzlicher und tariflicher Regelungen lebte dieses Milieu quasi unter „Hire and Fire“-Bedingungen, denn in Krisenzeiten wurde nur die qualifizierte Stammbelegschaft gehalten. Auf Grund immer besserer Rationalisierungstechniken sind in der Industrie die einfachen Tätigkeiten inzwischen weitgehend weggefallen, weshalb in dem Milieu nun überproportional hohe Langzeitarbeitslosigkeit herrscht. Der Organisationsgrad ist sehr gering, weshalb das Milieu seine Interessen nicht selbst zu vertreten vermag. Es gibt kaum Kontakte zu anderen Milieus. Es wird meist untereinander verkehrt und geheiratet. Schulabschlüsse erreicht man verhältnismäßig selten.

Die „neue Unterschicht“ wird ganz ähnlich beschrieben: Arbeitslosigkeit oder Niedrigsteinkommen, Verschuldung, mangelnde Bildung, fehlende Aussichten auf Verbesserung der Situation und häufige Resignation charakterisierten sie. Weiterhin zeichne sie sich durch geringen familiären Rückhalt (hoher Singleanteil) und einen Hang zu autoritären politischen Verhältnissen aus.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer nannte insbesondere viele Jugendliche als überproportional unterprivilegiert. Dem Berliner Tagesspiegel sagte er, dass 10 bis 15 Prozent der Unter-18-jährigen in die Kategorie gehörten, da sie über geringe Bildung verfügten und keine Aufstiegschancen für sich sähen. Für die Misere machte Pfeiffer das gegenwärtige Schulsystem in Deutschland mitverantwortlich. Als weiteren Grund für mangelnde schulische Aufsteigschancen sieht Pfeiffer Medienverwahrlosung. Kinder aus bildungsfernen Familien hätten häufiger einen eigenen Fernseher, einen eigenen PC und eigene Spielkonsolen als Kinder aus bildungsnahen Familien. Dies jedoch würde zu schulischen Misserfolgen führen, so Pfeiffer in seiner Studie Die PISA-Verlierer – Opfer des Medienkonsums[6]

Wie Napp-Peters auf berichtet, hätten auf der einen Seite einige Eltern der Unterschicht kaum Berufswünsche oder Ausbildungspläne für ihre Kinder:

„Dabei werden Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit als Haltung der Eltern direkt auf die Kinder übertragen und – wie wir bei Fragen zu Schulerfolg und Berufswünschen der Kinder feststellen konnten – diese resignative Haltung äußert sich auch indirekt in den geringen Erwartungen der Eltern an Leistungsvermögen und Leistungsmotivation ihrer Kinder. Weniger als 20 % der deprivierten Eltern im Vergleich zu rund 65 % aller Eltern von Schulkindern wünschen für ihre Kinder den Abschluß einer weiterführenden Schule. […] Nur 10 % im Vergleich zu 45 % haben regelmäßig Kontakt zu den Lehrern ihrer Kinder, und Berufswünsche oder berufliche Ausbildungspläne für ihre Kinder wurden von deprivierten Eltern nicht genannt.“

Anneke Napp-Peters: Sozialpädagogische Familienhilfe in der Bundesrepublik Deutschland – Armut als Ausgrenzung: „Die haben nichts – die bringen nichts“ [7]

Auf der anderen Seite kommen Erhebungen wie die jüngste Elternbefragung des Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung und die Langzeitstudie der Arbeiterwohlfahrt zu dem Ergebnis:

„Die Bildungsaspirationen der Eltern sind in den letzten 20 Jahren stark angestiegen. Dies zeigen nicht zuletzt die Umfragen des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS, 2004). Inzwischen wünschen sich bundesweit 45 % aller befragten Grundschuleltern, dass ihr Kind die Schullaufbahn mit dem Abitur abschließt; nur 8 % können sich für ihr Kind einen Hauptschulabschluss vorstellen. Besonders stark angestiegen sind die Bildungsaspirationen von Eltern aus bildungsferneren Schichten.“

Fehrenbach/Zöller/Roos/Schöler: Bildungsaspiration der Eltern und elterliche Zufriedenheit mit den Schulleistungen am Ende der dritten Klasse[8]

Weitere empirische Untersuchungen durch Elternbefragungen kamen zu ähnlichen Urteilen.[9]

Politische Debatte

Der damalige SPD-Vorsitzender Beck, der den Begriff „Neue Unterschicht“ bereits vorher benutzt hatte, rief auf Grund der Ergebnisse der Studie zu einem Bildungsaufbruch auf, der die Bildung und damit die Aufstiegschancen der sogenannten „Unterschicht“ verbessern solle. Einige CDU- und SPD-Politiker lehnten die Formulierung „Unterschicht“ jedoch ab, da das Wort abwertend bzw. ausgrenzend sei. Franz Müntefering sagte im Sender N24, die Formulierung sei von „lebensfremde(n) Soziologen. Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu […] ich wehre mich gegen die Einteilung der Gesellschaft.“[10] SPD-Generalsekretär Hubertus Heil und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) appellierten an Wohlhabende und warnten vor der „Abkoppelung“ eines wachsenden Teils der Bevölkerung, der sich gedemütigt und deklassiert fühle. Heil sagte: „Wenn man über Armut in Deutschland redet, darf man über Reichtum nicht schweigen.“ CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla machte ebenso die vorherige rot-grüne Regierung für einen Anstieg der Armut verantwortlich, und kündigte als Lösung Kombilohn-Modelle an. Die FDP warf der Regierung eine verfehlte Wirtschaftspolitik vor, und forderte gleiche Startbedingungen für Kinder. Volker Beck (Die Grünen) forderte, die große Koalition müsse endlich die langfristige Armutsbekämpfung zum Ziel ihrer Sozialpolitik machen. Die Linke setzte sich für eine Aktuelle Stunde im Bundestag zum Thema ein. Oskar Lafontaine sagte, alle Parteien hätten daran mitgewirkt, die Zustände herbeizuführen, die jetzt beklagt würden.

Caritas und DGB widersprachen dem allerdings: Das Problem seien weniger die letzten Arbeitsmarktreformen, als vielmehr die Massenarbeitslosigkeit. Hartz IV sei auch nicht schuld an Bildungsferne. Michael Sommer (DGB) kritisierte staatliche Politik, die dazu führe, dass „die einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden“.

In der Debatte kam es zur Kritik an den Aussagen, dass Angehörige dieser Gruppe sich „nicht mehr wie früher“ um den Bildungserfolg ihrer Kinder kümmerten und Erziehung in der Familie nicht mehr stattfinde. Zu solchen Aussagen fehle es an Untersuchungen.

Das Schlagwort der neuen Unterschicht wird in der politischen Debatte oft instrumentalisiert. So sprach sich Oswald Metzger gegen ein Grundeinkommen aus, da die staatlichen Leistungen zur Entstehung einer neuen Unterschicht geführt hätten: Wir können doch heute schon bei Sozialhilfe-Biografien über Generationen beobachten, dass Menschen, die von Transfereinkommen leben, nicht aktiviert werden. Sozialhilfeempfänger werden keineswegs schöpferisch aktiv. Viele sehen ihren Lebenssinn darin, Kohlehydrate oder Alkohol in sich hinein zu stopfen, vor dem Fernseher zu sitzen und das Gleiche den eigenen Kindern angedeihen zu lassen. Die wachsen dann verdickt und verdummt auf.[11] Heinz Buschkowsky kritisierte das Betreuungsgeld der schwarz-gelben Koalition: In der deutschen Unterschicht wird es versoffen und in der migrantischen Unterschicht kommt die Oma aus der Heimat zum Erziehen, wenn überhaupt[12].

Demografisierung der politischen Debatte

Bereits vor einzelnen Äußerungen, ob in Deutschland die „Falschen“ die Kinder bekommen[13], sprachen Christoph Butterwegge[14][15] und Eva Barlösius[16] von einer „Biologisierung“ und „Demografisierung“ des Sozialen, welche zu einem mit sozialdarwinistischem Denken verbundenen „Standortnationalismus“ führe.[17]

Wilhelm Heitmeyer betont mit Bezug auf eigene Untersuchungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, dass Menschen zunehmend nach ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit bewertet würden. Dies führe insbesondere zu einer Abwertung von Arbeitslosen:

„Wir können belegen, dass die Mittelschicht seit Einführung von Hartz IV massive Angst hat. Das führt dazu, dass Mitmenschen vor allem nach ihrer Nützlichkeit bewertet und damit auch abgewertet werden. Der autoritäre Kapitalismus hat es geschafft, seine Verwertungskriterien ohne Widerstand der ganzen Gesellschaft überzustülpen.[18]

Diese Abwertung der Unterschicht bezeichnet Albrecht von Lucke als „Propaganda der Ungleichheit“ und nennt hier explizit Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk.[19]

Thilo Sarrazin hatte in einem Interview behauptet:

„Es gibt auch das Problem, dass vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden. (...) So dass das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinkt, anstatt zu steigen. [...] Wir haben in Berlin vierzig Prozent Unterschichtengeburten, und die füllen die Schulen und die Klassen, darunter viele Kinder von Alleinerziehenden. Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: weg von Transferleistungen, vor allem bei der Unterschicht.“

Thilo Sarrazin[20]

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke warf Sarrazin daraufhin Rassismus und Sozialdarwinismus vor.[21] Cem Özdemir bezeichnete Sarrazins Weltbild ebenfalls als sozialdarwinistisch.[22] Der Zeit-Journalist Christian Staas fühlt sich durch Sarrazins Äußerungen an rassenbiologische Schriften erinnert und behauptet, Sarrazin plädiere für ein eugenisches Projekt.[23]

Peter Sloterdijk verteidigte Sarrazins Thesen in dem „Manifest“ Aufbruch der Leistungsträger - Zeitdiagnostische Bemerkungen und rief dazu auf, Gunnar Heinsohn zu lesen.[24]

Gunnar Heinsohn forderte im November 2009 eine Reduzierung der „Unterschichtengeburten“, er kritisierte, dass Arbeitslose Elterngeld erhielten[25]. Im März 2010 riet er, Sozialhilfe auf fünf Jahre zu begrenzen und verwies dabei auf die seiner Meinung nach positiven Effekte einer veränderten amerikanischen Sozialhilfepolitik in der Amtszeit von Bill Clinton. Insbesondere könne dadurch die Zahl der Kinder in der Unterschicht reduziert werden, die „nicht ausbildungsfähig“ seien.[26] Die Arbeitnehmerkammer Bremen kritisierte ihn dafür heftig und warf ihm Sozialdarwinismus vor.[27] Diesen Vorwurf erhob auch Friedhelm Grützner, innen- und rechtspolitischer Sprecher der Bremer Linken. Er behauptet, Heinsohns Gedanken würden um den Fortbestand des deutschen Volkes und um die Qualität von dessen Genpool kreisen. In ihrer Konsequenz führe die Argumentation Heinsohns zu einer staatlich reglementierten Geburtenkontrolle durch Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung.[28]

Der Elitenforscher Michael Hartmann konstatiert eine „in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesene Radikalisierung der Eliten, die zunehmend den „Kontakt mit anderen Lebenswirklichkeiten“ verloren hätten. [29]

Die neue Unterschicht in der öffentlichen Meinung

Die neue Unterschicht erscheint in den Medien als kriminell, dreckig, gefährlich, asozial, verwahrlost und chaotisch. Sie nutzten Worte wie das auf den wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Urbanistik, Rolf-Peter-Löhr, zurückgehende Wort „Sozialhilfeadel“ – er definierte:

„In den Problemgebieten spürt man, welche Kultur der Abhängigkeit der Sozialstaat geschaffen hat. Dort leben manche Leute schon in der dritten Generation von Sozialhilfe – dort herrscht Sozialhilfeadel – die wissen gar nicht mehr, wie das ist: morgens aufstehen, sich rasieren, vernünftig anziehen und zur Arbeit fahren.[30]

Magazine wie etwa der Stern Die Zeit, Geo und Der Spiegel schilderten die neue Unterschicht in Einzelschicksalen als verwahrlost, gewalttätig und kinderreich – jedoch ohne sich auf soziologische Analysen oder Statistiken zu stützen. Sozialforscher Fabian Kessl sieht die „neue Unterschicht“ als ein Konstrukt der Massenmedien an und bezeichnet die Berichterstattung als „mediale Dramatisierung“.[31]

Weitere Eigenschaften, die der neuen Unterschicht von den Massenmedien zugeschrieben werden, sind eine verantwortungslos gelebte Sexualität und ein Mangel an Mittelschichtswerten. Dieser angebliche Mangel wird teilweise auch als Grund für eine Zugehörigkeit zur Unterschicht gesehen:

„Teenager, die schwanger werden, gehören zur "underclass" [...] [sowie] Schulversager, Leute, die Fürsorgeleistungen einkalkulieren, solche, die eine extreme Gegenwartsorientierung zeigen, jedoch keine Bereitschaft Pflichten zu übernehmen, Bildungsaspirationen nachzugehen oder zu arbeiten. Die Zurechnung zur "underclass" erfolgt nach etwas, was man "soziales Profil" nennen könnte.“

Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte[32]

Disziplinlosigkeit und Unfähigkeit sich einzufügen werden ebenfalls genannt. So wird im Stern der Vereinsvorsitzende eines Ruderclubs mit den Worten zitiert „Ich komme immer mehr zu der Überzeugung: Die heutige Unterschicht kann nicht mehr rudern“. Das Magazin kommt daraufhin zu der Analyse:

„Die überraschende Diagnose des Vereinsvorsitzenden erklärt mehr über die Spaltung der Gesellschaft als manche soziologische Studie. Beim Rudern darf niemand aus der Reihe tanzen. Wenn nur einer im Achter den Rhythmus der Gemeinschaft stört, fallen alle acht ins Wasser. Beim Rudern müssen sich alle unterordnen zu hundert Prozent. [...] Disziplin, Zuverlässigkeit, Beständigkeit, Pflichtbewusstsein - die viel geschmähten Sekundärtugenden entscheiden jedoch nicht nur, ob jemand ein guter Sportler ist. [...] Oft teilen sie ein, wer auf welcher Seite des großen Grabens lebt, wer oben und wer unten ist. Wer rudern kann, gehört nicht zur Unterschicht.

zitiert in Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte[32]

Außerdem wird der „neue Prolet“ vom „alten Arbeiter“ abgegrenzt. So schreibt Der Spiegel:

„Der Prolet von heute besitzt mehr Geld als der Arbeiter vergangener Generationen und wenn er im Anzapfen des Sozialstaats eine gewisse Fertigkeit entwickelt hat, verfügt er über ein Haushaltseinkommen, das mit dem von Streifenpolizisten, Lagerarbeitern und Taxifahrern allemal mithalten kann. Es ist nicht die materielle Armut, die ihn von anderen unterscheidet. Auffällig sind die Symptome der geistigen Verwahrlosung [...] Er besitzt keine Bildung, aber er strebt ihr auch nicht entgegen. Anders als der Prolet des beginnenden Industriezeitalters, der sich in Arbeitervereinen organisierte, die zugleich oft Arbeiterbildungsvereine waren, scheint es, als habe das neuzeitliche Mitglied der Unterschicht sich selbst abgeschrieben. Selbst für seine Kinder übernimmt es keine allzu großen Anstrengungen, die Tür in Richtung Zukunft aufzustoßen. Ihre Spracherziehung ist so schlecht, wie ihre Fähigkeit sich zu konzentrieren. Der Analphabetismus wächst in dem gleichen Maß, wie die Chancen auf Integration der Deklassierten schrumpfen. Die Amerikaner sprechen in der ihnen eigenen Direktheit von "white trash", weißem Müll.“

zitiert in Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte[32]

Karl August Chasse kritisierte am medialen Diskurs, dass die Medien einzelne Wissenschaftler scheinseriös nur als Stichwortgeber benützten (so Rolf-Peter Löhrs „Sozialhilfeadel“).[32] Wissenschaftliche Zusammenhänge würden jedoch falsch dargestellt. Ein Stern-Artikel verweise zwar auf den Soziologen Andreas Mielck, der einen Zusammenhang zwischen Sozialschicht und Gesundheitszustand feststellte. Unterschlagen werde dabei jedoch, dass Mielck eine Theorie der Benachteiligung der Unterschicht entwickelt habe, durch die seine Befunde deutlich anders erklärt werden könnten. [32]

Siehe auch

Literatur

  • Claudio Altenhain / Anja Danilina / Erik Hildebrandt / Stefan Kausch / Annekathrin Müller / Tobias Roscher (Hgg.): Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat, Transcript, Bielefeld 2008
  • Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008
  • Karl August Chasse, Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010
  • Fabian Kessl: „Das wahre Elend? Zur Rede von der ‚neuen Unterschicht‘“, in: Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 98, Dezember 2005
  • Fabian Kessl / Christian Reutlinger / Holger Ziegler (Hgg.):„Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die ‚neue Unterschicht‘“. Wiesbaden: VS-Verlag 2007, ISBN 978-3-531-15389-6
  • Alex Klein / Sandra Landhäußer / Holger Ziegler: „The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheit“, in: Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 98, Dezember 2005
  • Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn 2004
  • PROKLA 160: Kulturkämpfe, 40. Jahrgang, Nr. 3, September 2010

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn 2004
  2. Karl August Chasse, Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 163/164
  3. Fabian Kessl: Das wahre Elend? Zur Rede von der „neuen Unterschicht“, in: Widersprüche. 25. Jg. Heft 98, 2005
  4. So Karl August Chasse, Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 161/162
  5. http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/10/18/a0124
  6.  : Christian Pfeiffer u.a., Die PISA-Verlierer - Opfer des Medienkonsums, KFN Hannover. Online auch hier abrufbar
  7. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Sozialpädagogische Familienhilfe in der Bundesrepublik Deutschland – Armut als Ausgrenzung: „Die haben nichts – die bringen nichts“ war am 11. Februar 2008 auch online abrufbar
  8. Carmen Fehrenbach/Isabelle Zöller/Jeanette Roos/Hermann Schöler, Pädagogische Hochschule, Heidelberg 2005: Bildungsaspiration der Eltern und elterliche Zufriedenheit mit den Schulleistungen am Ende der dritten Klasse http://www.ph-heidelberg.de/wp/schoeler/2005_09_22%20Poster_Halle.pdf
  9. Vgl. Wolfgang Mack/Erich Raab/Hermann Rademacker, Schule, Stadtteil, Lebenswelt – eine empirische Untersuchung, DJI Reihe, Leske + Budrich, Opladen, S. 133.
  10. Solche Apodiktik kennzeichnet – wie längst beispielsweise bei „Neue soziale Frage“ oder „Zweidrittelgesellschaft“ – einen tagespolitischen Begriffkampf.
  11. Der Stern, 20. November 2007: Oswald Metzger: „Ich bin auf dem Sprung“
  12. http://www.welt.de/politik/deutschland/article4991825/In-der-deutschen-Unterschicht-wird-es-versoffen.html
  13. FDP-Politiker Daniel Bahr zur Familienpolitik (»In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder«; auf www.das-netzbuch.de)
  14. Christoph Butterwegge: Biologisierung und Ethnisierung des Sozialen im Demographiediskurs der Bundesrepublik, in: José Brunner (Hrsg.): Demographie - Demokratie - Geschichte. Deutschland und Israel (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXV), Göttingen 2007, S. 330–350, bei Google bücher
  15. Butterwege meint, für die „Biologisierung“ sei die „Erhaltung des deutschen Genmaterials“ das eigentliche Motiv. Ferner gebe es eine völkische Komponente im deutschen Diskurs über Demographie. Sie erinnere ihn an eugenische Debatten in der Weimarer Republik kurz vor 1933. Siehe Björn Schwentker: Aussterben abgesagt. Deutschland hat die Demografie entdeckt – und mit ihr die demografische Katastrophe. Viele Forscher sehen gar keinen Grund zur Aufregung, DIE ZEIT vom 9. Juni 2008
  16. Eva Barlösius, Daniela Schiek: Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden 2007, bei Google bücher
  17. Christoph Butterwegge: Neoliberalismus und Standortnationalismus - eine Gefahr für die Demokratie?
  18. Markus Grill: Kapitalismus. „Wutgetränkte Apathie“, Interview mit Wilhelm Heitmeyer, SPIEGEL Nr. 14, 3. April 2010
  19. Albrecht von Lucke: Propaganda der Ungleichheit. Sarrazin, Sloterdijk und die "neue bürgerliche Koalition", veröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Dez. 2009, S.55–63, auf einer Webseite der Blätter für deutsche und internationale Politik
  20. http://www.sozialarbeit.fh-dortmund.de/berger/aktuelles/200910/pol%20will/fr%20sarazin%20im%20wortlaut.pdf
  21. „Meines Erachtens sind Sarrazins Äußerungen sowohl sozialdarwinistisch als auch rassistisch. [...] Zudem spricht er der Unterschicht der ethnisch Deutschen ab, dass sie sich sozial entwickeln könne. Das widerspricht der politischen Linie der SPD. Aber vor allem ist das eine abgründige, sozialdarwinistische Verachtung von Deutschen, Arabern und Türken zugleich.„Das ist geradezu grotesk“ Der Politologe Funke zum Nicht-Ausschluss Sarrazins aus der SPD die tageszeitung, 17. März 2010.
  22. Berlins SPD rechnet mit Sarrazin ab, Tagesspiegel, 11. Oktober 2009.
  23. Christian Staas: Schickes Ödland Großstadt, in: Zeit online, 28. Oktober 2009.
  24. Peter Sloterdijk: Aufbruch der Leistungsträger - Zeitdiagnostische Bemerkungen, in Cicero, November 2009.
  25. Gunnar Heinsohn: Elterngeld – Fortpflanzungsprämie für Unterschicht Welt-Online 3. November 2009 [1]
  26. Gunnar Heinsohn „Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 16. März 2010.
  27. Offener Brief der Arbeitnehmerkammer Bremen vom 19. März 2010.
  28. Friedhelm Grützner: „Gunnar Heinsohn und die „Aufartung“ des deutschen Volkes“, Nachdenkseiten, 25. März 2010.
  29. Michael Hartmann: Deutschlands Eliten haben sich radikalisiert, Zeit online, 6. April 2010.
  30. Fabian Kessl,: Sozialer Raum als Fall. [in: Thole, Werner/Galuske, Michael (Hg.): Vom Fall zum Management, Wiesbaden 2006, aufgerufen am 13. Januar 2008
  31. Fabian Kessl: Das wahre Elend? Zur Rede von der neuen Unterschicht. In: Widersprüche. 25.Jg, Heft 98, 2005, aufgerufen am 13. Januar 2008
  32. a b c d e Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2010, S. 31

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