Neoklassizismus (Kunst)

Neoklassizismus (Kunst)
Hygienemuseum in Dresden, Wilhelm Kreis, 1928-30
30th Street Station in Philadelphia, Graham, Anderson, Probst & White, 1929-1933
Detlev-Rohwedder-Haus (früher Reichsluftfahrtministerium) in Berlin, Ernst Sagebiel, 1935

Neoklassizismus (oder Neuklassizismus) wird in der deutschsprachigen Kunstgeschichte der letzte formal einheitliche Kunst- und Architekturstil des Historismus im frühen 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Kulturraum genannt. Der eklektizistische Stil gilt gleichzeitig als Beginn der Moderne.[1] Für den Architekturstil der 1930er Jahre wird auch der Begriff modernistischer Klassizismus verwendet.[2]

In der Malerei und Plastik sind bei Pablo Picasso, Giorgio De Chirico, Aristide Maillol, Carlo Carrà und Adolf von Hildebrand neoklassizistische Einflüsse zu erkennen.

In der Architektur bilden sich mit dem Neoklassizismus die bautechnischen und formalen Prinzipien der klassischen Moderne heraus, während die Ornamentik der Baustile Jugendstil, Art Nouveau und Liberty zurücktritt. Es werden noch einmal Ideen der griechischen und römischen Antike, des Barock und des Klassizismus, und klassizistische Elemente der Renaissance (Andrea Palladio) aufgenommen, die sich im monumentalen Erscheinungsbild, in Säulenanordnungen, in der räumlichen Disposition (rechtwinklige Grundrisse, Symmetrie) und in der tektonischen Struktur zeigen.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Der Begriff wird in der deutschen Kunstgeschichte anders verwendet als in anderen europäischen Sprachen und bezeichnet hier den im 20. Jahrhundert entwickelten Stil, der in Abgrenzung zum Klassizismus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts als Neoklassizismus bezeichnet wird.

Im Unterschied zum deutschen Sprachgebrauch ist der Klassizismusbegriff im Englischen, Französischen und weiteren europäischen Sprachen breiter gefasst und bezeichnet dort Stilphänomene, die bereits zur Zeit der Renaissance (beispielsweise der Palladianismus) und des Barock auftraten und sich dadurch auszeichnen, dass sie sich an der Architektur der griechisch-römischen Antike (der Klassik) orientieren. Die später auf das Rokoko folgende erneute Hinwendung zu antiken Architekturvorbildern (die im Deutschen nun erst unter der Bezeichnung Klassizismus bekannt ist) wird deshalb auf französisch als néoclassicisme, englisch als Neoclassicism und italienisch als neoclassicismo bezeichnet.

Entwicklung in der Architektur

Der projektierte Palast der Sowjets, Gemeinschaftsarbeit der Architekten Boris Iofan und Wladimir Schtschuko, 1932
Kunstmuseum Palais de Tokyo in Paris, 1937
Eingang der Hauptverwaltung Mannesmann in Düsseldorf von Peter Behrens, 1912
Säulenportal der Neuen Reichskanzlei in Berlin, Albert Speer, 1937-39
Das Hotel Adlon am Pariser Platz in Berlin von Patzschke, Klotz & Partner, 1997

Neoklassizismus ist auf dem Gebiet der Architektur Stilbezeichnung und Sammelbegriff für eine Vielzahl von Strömungen des 20. Jahrhunderts mit unterschiedlichen regionalen Ausprägungen, die sich auf antike oder klassizistische Vorbilder beriefen.

Die Anfänge des Neoklassizismus in den USA können im Gefolge der „World’s Columbian Exposition“ in Chicago von 1893 datiert werden. Sie basieren auf der Anknüpfung an Traditionen der École des Beaux-Arts in Paris, die in den folgenden Jahrzehnten das gesamte offizielle Bauen in den USA prägen. Im Unterschied zu den USA ist das Auftreten des Neoklassizismus in Deutschland um 1908 als eine Reaktion auf den Jugendstil und gewisse erste Tendenzen zur Sachlichkeit im Umkreis des Deutschen Werkbundes zu verstehen. Dabei waren es einige der herausragendsten Vertreter des Jugendstils, wie Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich, die sich in den Jahren vor und nach dem ersten Weltkrieg den klassischen Formen zuwandten. Seit den 1920er Jahren steht der Neoklassizismus im deutschsprachigen Raum in gewisser Konkurrenz zunächst zum Expressionismus und schließlich zu der funktionalistisch begründeten Erneuerungsbewegung des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit. Bei aller Rivalität zum radikalen Erneuerungswillen des Bauhauses sind beim Neoklassizismus in Deutschland, Frankreich und Skandinavien in der Tendenz zur formalen Vereinfachung gewisse Gemeinsamkeiten zu beobachten, was sich besonders im Werk von Architekten wie Heinrich Tessenow, Theodor Fischer oder Gunnar Asplund zeigen lässt. Der deutsche Neoklassizismus und die ihm verwandten Ausprägungen der 1920er und 30er Jahren in Europa zeichnen sich durch Reduktion oder gar vollständige Fortlassung des Decorums aus, weshalb oft fließende Übergänge zum Erscheinungsbild der Neuen Sachlichkeit zu beobachten sind, wie z. B. beim Palais de Tokyo in Paris. Dabei ergaben sich in Frankreich auch Überschneidungen mit dem Art Déco der 1920er bis 40er Jahre.

Anfang des 20. Jahrhunderts tritt der Neoklassizismus in vielen Ländern Europas und Amerikas zunächst unabhängig von der jeweiligen Staatsform in Erscheinung und erlangt so auch in vielen demokratisch regierten Ländern öffentliche Geltung. Doch wird er im Laufe der 1930er Jahre von den neuen totalitären Regimen in Deutschland, Italien und der Sowjetunion im Rahmen ihrer kunstpolitischen Lenkungsversuche und propagandistischen Selbstdarstellung zum repräsentativen, ins Monumentale übersteigerten Staatsstil erhoben. Für den sowjetischen Einflussbereich blieb der Neoklassizismus bis weit in die 1950er Jahre verbindlich und fand seine Ausgestaltung als sozialistischer Neoklassizismus, im Dritten Reich zur typischen Nationalsozialistischen Architektur. Diese politische Vereinnahmung des Neoklassizismus durch totalitäre Regime führte in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zusammenbruch des Faschismus und auch vor dem Hintergrund der Schließung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten zu einer symbolischen Abwertung durch Identifikation klassizistischer Formen mit totalitärer Herrschaftsarchitektur. Die allgemeine Ächtung verstärkte sich im Nachkriegsdeutschland auch in dem Bemühen um eine Rehabilitierung des Bauhauses, das nun als Repräsentant einer fortschrittlichen wie demokratischen Kultur galt. Dagegen wurde der Neoklassizismus, soweit er sich nicht durch Verzicht auf das Decorum der klassischen Moderne angenähert hatte, häufig als Inbegriff einer rückwärtsgewandten, autoritären und das Individuum einschüchternden Architekturauffassung beurteilt. Seine Bauten galten ähnlich wie die Werke des Historismus im Kontext kunsthistorischer Fortschrittserzählungen als epigonal, unzeitgemäß oder gar reaktionär.

Obwohl die neuere kunsthistorische Forschung die symbolische Abwertung des Neoklassizismus unter Hinweis auf die faschistische Variante der klassischen Moderne im Italien der 1930er Jahre relativieren konnte und zugleich das symbolische Gegenleitbild eines fortschrittlichen wie demokratischen Bauhausstils immer fragwürdiger erscheinen lässt, ist in Deutschland die Diskreditierung des Neoklassizismus von anhaltender Aktualität. So etwa wurden in dem erbitterten öffentlichen Architekturstreit der 1990er Jahre zum Wiederaufbau Berlins nach der Wiedervereinigung die Befürworter einer massiv wie monumental anmutenden Architektur der symbolischen Anknüpfung an Bauformen des Faschismus verdächtigt. Auch wenn solche Debatten im Laufe des letzten Jahrzehnts an polemischer Schärfe verloren haben und sich inzwischen eine Reihe von prominenten Wiederaufbauten, wie etwa das Hotel Adlon in Berlin, klassizistischer Formen bedienen, ist der Neoklassizismus in der öffentlichen Debatte weiterhin dem Vorwurf einer politischen wie künstlerischen Rückwärtsgewandtheit ausgesetzt. An deutschen Architekturhochschulen ist der klassische Formenkanon kein Bestandteil der gestalterischen Entwurfslehre und wird lediglich im Kontext der Fächer Baugeschichte und Denkmalpflege behandelt.

Beispiele für neoklassizistische Bauten

Deutsches Kaiserreich: In Düsseldorf die Mannesmann-Verwaltung; in Köln die Festhalle der Werkbundausstellung 1914; in Serkowitz, heute Stadtteil von Radebeul, das Landhaus Weintraubenstraße 5 von Oskar Menzel, 1912/1913 und in Herne das Rathaus von Architekt Prof. Wilhelm Kreis (Düsseldorf), 1912.

Nationalsozialistischer Neoklassizismus: In München der Ehrentempel für die Gefallenen der Bewegung und das Haus der Kunst sowie die Reichszeugmeisterei; in Berlin die Neue Reichskanzlei und das Olympiastadion; in Weimar das Gauforum.

Bulgarien: Bauten des Architekten Georgi Owtscharow.

Vereinigte Staaten: 30th Street Station in Philadelphia, Pennsylvania; Lincoln Memorial in Washington D.C.; National Gallery of Art in Washington (D.C.).

Skandinavien: Das finnische Parlament, Eduskuntatalo, in Helsinki; in Stockholm die Stadtbücherei und das Krematorium.

Frankreich: In Paris das Palais de Chaillot 1937 und das Palais de Tokyo 1937.

Italienischer Faschismus: In Rom das Hauptgebäude der Universität La Sapienza, das Foro Italico, die Esposizione Universale di Roma.

Sozialistischer Neoklassizismus: In St. Petersburg das Haus der Sowjets; in Kiew der Palast des Zentralkomitees der kommunistischen Partei; in Moskau das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität; in Bukarest der Parlamentspalast; in Warschau der Kulturpalast; in Dresden die Bebauung am Altmarkt; in Magdeburg zahlreiche zentrale Innenstadtbauten; in Leipzig die Ringbebauung mit Opernhaus; in Berlin die Karl-Marx-Allee; in Rostock die Lange Straße.

Literatur

  • Peter Noever (Hrsg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit. MAK, Wien 1994, ISBN 3-7913-1340-1.
  • Herbert Nicolaus, Alexander Obeth: Die Stalinallee. Geschichte einer deutschen Straße. Verlag für Bauwesen, Berlin 1997, ISBN 3-345-00605-7.
  • Frank-Bertolt Raith: Der heroische Stil. Studien zur Architektur am Ende der Weimarer Republik. Verlag für Bauwesen, Berlin 1997, ISBN 3-345-00606-5.
  • Birk Engmann: Bauen für die Ewigkeit. Monumentalarchitektur des zwanzigsten Jahrhunderts und Städtebau in Leipzig in den fünfziger Jahren. Sax-Verlag, Beucha 2006, ISBN 3-934544-81-9.

Einzelnachweise

  1. Gerhard Krause, Siegfried M. Schwertner, Gerhard Müller (Hg.):Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe Teil II. Walter de Gruyter 1990, S. 237,5
  2. Frank-Bertolt Raith: Der heroische Stil. Studien zur Architektur am Ende der Weimarer Republik. Berlin 1997, S. 7.

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