Arnold van Gennep

Arnold van Gennep
Arnold van Gennep

Arnold van Gennep (* 23. April 1873 in Ludwigsburg; † 1957 in Bourg-la-Reine) war ein französischer Ethnologe, der heute vor allem durch seine Arbeit über die so genannten Übergangsriten (frz. rites de passage) bekannt ist.

Inhaltsverzeichnis

Leben

In der ersten Hälfte seiner Schaffensperiode befasste sich van Gennep vor allem mit außereuropäischen Kulturen. So hielt er sich 1911 und 1912 insgesamt fünf Monate zur Feldforschung bei den Kabylen in Algerien auf. Während seiner zweiten Schaffensperiode erforschte er überwiegend die Ethnographie Frankreichs.

Von 1912 bis 1915 war er Inhaber des Lehrstuhles für Ethnographie in Neuenburg (Schweiz), seiner einzigen akademischen Lehrtätigkeit. Er verlor diese Anstellung, da er die Schweiz der Verletzung ihrer Neutralität durch deutschlandfreundliche Politik bezichtigte. Zeit seines Lebens war van Gennep ein Außenseiter des wissenschaftlichen Lebens, der sich durch nonkonformistische Theorien von der Lehrmeinung seiner Zeit abgrenzte. Vor allem durch Émile Durkheim und seine Schule wurden seine Erkenntnisse nicht anerkannt.

Arnold van Genneps Konzept der Passagenriten und seine Dreiphasentheorie wurden vor allem von dem schottischen Ethnologen Victor Turner (1920–1983) weiterentwickelt.

Les rites de passage

Anliegen

Eines der zentralen Anliegen van Genneps in seinem Hauptwerk Les rites de passage (deutsch: Übergangsriten) aus dem Jahr 1909 war, aufzuzeigen, dass Rituale nicht isoliert, fragmentiert und aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herausgerissen untersucht werden können. Vielmehr fand van Gennep in seiner vergleichenden Analyse zahlreicher Rituale aus den verschiedensten geographischen Räumen und historischen Zeiten einen Typus von Ritualen, der eine atomistische und rigide Klassifizierung und Kategorisierung in statische Konzepte ausschloss. Rituale könnten nicht alleine aufgrund formaler Ähnlichkeiten und Analogien klassifiziert werden, ohne sich der inneren Mechanismen, der Logik, Bedeutung und Funktion dieser bewusst zu sein.

Die Gesellschaft als strukturiertes Haus

Für van Gennep gleicht die Gesellschaft dabei einem Haus, das aus verschiedenen Räumen besteht, die durch Flure miteinander verbunden sind. Während diese in nicht-industrialisierten, segmentären, indigenen Gesellschaften in Form von starken Differenzierungen zwischen Geschlechtergruppen, Altersgruppen, Familien oder Stammesgruppen noch deutlich voneinander getrennt sind, hätten die Grenzen und Übergänge in modernen, industriellen Gesellschaften mit zunehmender Arbeitsteilung an Bedeutung verloren oder wären, wie im Falle von Berufsgruppen vielmehr von ökonomischer oder intellektueller Natur. In den von ihm analysierten prä-modernen Gesellschaften hingegen erfordere „jede Veränderung, jeder Übergang im Leben eines Individuums, teils sakrale, teils profane Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft weder als Ganzes in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt.“

Diese Übergänge, die von den von ihm herangezogenen Gesellschaften als schwerwiegend angesehen werden – sie werden mit dem Motiv von Tod und Wiedergeburt im rituellen Ablauf verdeutlicht und assoziiert- können nicht ohne eine Zwischenstufe erfolgen, in der das Individuum oder eine Gruppe symbolisch sterben und seinen bzw. ihren früheren Status ablegen und zerstören muss.

Strukturschema der Übergangsriten

So verfolgen nach van Gennep alle Übergangsriten, zu denen er sowohl den räumlichen, zeitlichen, Zustands-, positions-, Status- und Altersgruppenwechsel zählte, ohne zu behaupten, dass alle Riten Übergangsriten darstellen würden, sowohl das gleiche Ziel: das Individuum von einer genau definierten Situation in eine ebenso klar definierte und strukturierte Situation zu überführen, als auch einem ähnlichen Phasenmodell, einer analogen Abfolgeordnung. Die verschiedenen Phasen dieses rituellen Komplexes stehen dabei in direkter Interrelation, in Interdependenz – in einer Sequenz zueinander. Die, wie aufzuzeigen gilt, von Victor Turner aufgenommene und weiterentwickelte Dreiphasenstruktur von Übergangsritualen besteht dabei aus

  1. Trennungsriten (rites de separation)
  2. Übergangs- bzw. Schwellenriten (rites de marge)
  3. und den rituellen Zyklus abschließende „rites d'agrégation“ (Angliederungsriten)

Als Modell für alle Arten zieht van Gennep „ räumliche Übergänge“ heran, wie die bereits angeführte Gleichsetzung von Gesellschaft und Wohnstätte verdeutlichen sollte. Nicht nur, dass allein das Passieren einer räumlichen Grenze oft Bestandteil und Ausdruckselement von Übergangsriten aller Art ist, sondern dass den Riten generell ein räumliches Anschauungsmodell der Überschreitung von Grenzen beinhaltet versucht van Gennep dem Leser an einer Vielzahl von Beispielen, wie Initiationsriten, Hochzeitsriten, Geburts- oder Bestattungsriten aufzuzeigen. Exemplarisch steht hierfür die Schwelle eines Hauseinganges, die den Übergang zwischen öffentlicher und privater Sphäre markiert und symbolisiert. Diese Schwelle bildet eine Art Niemandsland, ein „betwixt and between“ wie Victor Turner es gut 60 Jahre später in Anlehnung an van Gennep beschreiben sollte.

Während in den Trennungsriten, die Loslösung aus einem früheren klar fixierten Zustand (sozialer, kosmischer oder vegetativer Natur) zum Ausdruck gebracht wird und die Angliederungsriten, durch symbolische Handlungen, wie dem gemeinsamen Mahl, Austausch von Gaben, rituellem Geschlechtsverkehr, dem Anlegen von statusentsprechenden Insignien oder der Namensgebung eine ebenfalls klar bestimmte und klassifizierbare neue Position im Leben mit entsprechenden Rechten und Pflichten zum Ausdruck gebracht wird, ist die Schwellenphase, durch Momente des Unbestimmten, nicht Klassifizierbaren und außerhalb der gesellschaftlichen Lebens stehenden Momenten gekennzeichnet. Die gewöhnlichen ökonomischen und rechtlichen Beziehungen sind verändert, manchmal außer Kraft gesetzt. Soziale Regeln sind aufgehoben, die Initianten gelten gleichzeitig als „heilig“ und „unrein“, bzw. gefährlich und werden als Tod betrachtet.

In dieser Zeit des Übergangs werden die Individuen oder Gruppen in ihrer neuen Lebensführung unterrichtet, in das Stammesrecht eingeführt, erhalten religiöse Unterweisung und werden mit den sacra der Gemeinschaft in Kontakt gebracht. Nacktheit, körperliche Verstümmelungen, Demütigungen, körperliche und geistige Schwächungen sollen dabei eine sichtbare und unumkehrbare Loslösung und gleichzeitige Angliederung in eine neue Gruppe herbeiführen und kontrollieren. Der Übergang von einer sozialen Kategorie in eine andere wird unter den Vorsichtsmaßnahmen des Rituals vollzogen und stellt das Gleichgewicht der sozialen Ordnung wieder her.

Funktion der Übergangsrituale

Alle Übergänge und Brüche, die das Leben selbst notwendig macht, stellen nach van Gennep eine Gefahr für die statische Gesellschaftsordnung dar. Die Funktion der Übergangsriten ist hiernach, die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens zu kontrollieren bzw. abzuschwächen und die Ordnung der klar strukturierten Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Dem Verschieben der „magisch-religiösen Kreise“, sprich Klassifikations- und Strukturmuster, die jede individuelle und gesellschaftliche Veränderung beinhaltet und der daraus resultierenden Störung des sozialen und individuellen Lebens wird mit Riten begegnet, die diese überwachen, herbeiführen und begleiten. Rituale sind für van Gennep „soziale Notwendigkeiten“. In diesem Sinne zeigt er sich, auch wenn er zeit seines Lebens kein bedeutender Theoretiker war und seine theoretischen Überlegungen nur durch Wiederholung an Überzeugungskraft gewinnen, als einer der Vorläufer des Funktionalismus (Gesellschaft), der die Bedeutung des Rituals für die Kohäsion der Gesellschaft verdeutlichte. Seinen Fokus zudem auch auf das innere Strukturschema und die Interrelationen der Ritualphasen von Übergangsriten legend, trägt sein Werk zudem einige strukturalistische Züge.

Die Tatsache, dass van Gennep sein Material, wie Schomburg-Scherff betont, in „Form ungeschliffener Diamanten“ entfaltete, ließ es „offen“ für weitere Entwicklungen und Rezeptionen, wobei Victor Turner wie eingangs erwähnt am nachhaltigsten von der Arbeit van Genneps beeinflusst werden sollte.

Werke

  • Manuel de folklore français contemporain. Picard, Paris 1988
  • Mythes et légendes d'Australie. Étude d'ethnographie et de sociologie. Guilmoto, Paris 1905
  • Les semi-savants
  • Tabou et totémisme à Madagascar. Étude descriptive et théoretique. Leroux, Paris 1904
  • Les rites de passage. 1909. Deutsch: Übergangsriten. Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2005, ISBN 3-593-37836-1

Literatur

  • Sylvia M. Schomburg-Scherff: Arnold van Gennep (1873–1957). In: Axel Michaels (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade. Beck, München 2004, ISBN 3-406-42813-4, S. 222–233.
  • Justin Stagl: Übergangsriten und Statuspassagen. Überlegungen zu Arnold van Genneps „Les Rites de Passage“. In: Karl Acham (Hrsg.): Gesellschaftliche Prozesse. Beiträge zur historischen Soziologie und Gesellschaftsanalyse. ADEVA, Graz 1983, ISBN 3-201-01224-6, S. 83–96.
  • Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005 (Originaltitel: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure), ISBN 3-593-37762-4.

Weblinks


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